Repetitorium Migräne

Kopfweh der besonderen Art

Christine Vetter
Jeden Tag leiden in Deutschland 350.000 Menschen unter Migräne. Sie haben nicht nur quälende Kopfschmerzen, sondern oft auch Seh- und Gefühlsstörungen und sind zusätzlich licht- und geräuschempfindlich. Mit OTC-Medikamenten ist der Migräne meist nicht beizukommen – die Patienten brauchen eine spezielle Therapie und möglicherweise zudem eine Prophylaxe.

Unter einer Migräne leiden rund zehn Prozent der Bevölkerung, wobei Frauen (15 Prozent) deutlich häufiger als Männer (5 Prozent) betroffen sind. Die Migräne bildet sich auf dem Hintergrund einer genetischen Prädisposition und kann im akuten Fall durch Umwelttrigger wie Stress ausgelöst werden. Dabei muss es sich nicht um Lebenskrisen handeln. Die Attacken können auch durch alltägliche, anhaltende Stresssituationen und eine hohe Leistungsorientierung getriggert werden sowie durch einen abrupten Wechsel zwischen Stress und Ruhephasen, einen veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus und hormonelle Schwankungen. Auch bestimmte Nahrungs- und Genussmittel – Käse und Rotwein sowie Joghurt und andere Milchprodukte, Bananen und Kaffee – können sie auslösen; umgekehrt auch ein Koffeinentzug – dieser wird häufig für das nicht seltene Phänomen des gehäuften Auftretens von Migräneattacken am Wochenende verantwortlich gemacht.

Die Erkrankung besteht lebenslang, die meisten Migräneattacken manifestieren sich im Alter zwischen 25 und 45 Jahren.

Die typische Migräne: Die internationale Kopfschmerzgesellschaft (International Headache Society) geht von Migräne aus, wenn

  • Minimum fünf Attacken aufgetreten sind,

  • die Kopfschmerzen vier bis 72 Stunden anhalten,

  • mindestens zwei der folgenden Kriterien auftreten: einseitiger Kopfschmerz, pulsierender Charakter, mittlere bis starke Schmerzintensität und/oder Verstärkung bei körperlicher Aktivität,

  • mindestens eines dieser Begleitsymptome auftritt: Übelkeit/Erbrechen, Photophobie und/oder Phonophobie und

  • die Kopfschmerzen nicht durch andere Erkrankungen zu erklären sind.

Aufgrund des charakteristischen klinischen Bildes ist die typische Migräne in der überwiegenden Mehrzahl allein aufgrund einer anamnestischen Erhebung und einer allgemeinmedizinischen und neurologischen körperlichen Untersuchung zu diagnostizieren, wie die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e. V. (DMKG) mitteilt. Sinnvoll zur Erfassung der Schwere und Häufigkeit der Migräneattacken ist dabei das Führen eines Kopfschmerzkalenders.

Migräne mit Aura: In etwa zehn Prozent der Fälle geht dem Kopfschmerz eine „Aura“ mit fokalneurologischen Symptomen voraus. Die Patienten geben dabei häufig optische Halluzinationen wie das Sehen von bunten Farben oder Lichtblitzen oder ein Flimmern vor den Augen an. Außerdem kann es zu Missempfindungen (Kribbeln), zu Taubheitsgefühlen etwa in Armen und Beinen sowie zu Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen kommen. Die Phänomene der Aura treten in aller Regel vorübergehend und vor den Kopfschmerzen auf. Sie halten meist eine halbe bis eine Stunde an und bilden sich in der Kopfschmerzphase komplett zurück. Die Aura manifestiert sich dabei nicht zwingend vor jeder Migräneattacke, es können sich abwechselnd akute Attacken mit und ohne Aura entwickeln.

Bei der Migräne mit Aura ist ebenso wie bei der atypischen Migräne laut DMKG eine fachärztlich-neurologische Untersuchung erforderlich und gegebenenfalls zusätzlich eine zerebrale Bildgebung mittels Kernspintomografie.

Behandlung: Die Behandlung einer akuten Migräneattacke erfolgt in aller Regel medikamentös:

  • Bei einer leicht- bis mittelgradigen Schmerzintensität raten die Experten zur Einnahme peripher wirksamer Analgetika, respektive nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR). Empfohlen werden die Wirkstoffe Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol, Ibuprofen, Diclofenac, Metamizol und Naproxen. Die Einnahme sollte erfolgen, sobald sich das Auftreten der Migräne abzeichnet. Etwa zehn Minuten vor dem Analgetikum sollte zudem ein Antiemetikum wie Metoclopramid oder Domperidon genommen werden, um der Übelkeit entgegenzuwirken und die Resorption des Analgetikums zu verbessern.

  • Bei schweren Migräneattacken oder nicht ausreichender Wirksamkeit der genannten Wirkstoffe ist die Einnahme eines selektiven Serotonin-1B/D-Rezeptorantagonisten, also eines Triptans, angezeigt. Die früher gebräuchlichen Ergotaminpräparate gelten heute als weitgehend obsolet und kommen lediglich bei lang andauernden Attacken in niedriger Frequenz zum Einsatz.

Bei den Triptanen gibt es inzwischen eine Vielzahl verschiedener Präparate, die sich hinsichtlich des Wirkstoffs und der Applikationsform unterscheiden. Als Wirkstoffe sind Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan verfügbar. Sie unterschieden sich zum Teil in ihrer klinischen Wirksamkeit, ihrem Wirkeintritt und in ihrer Wirkdauer, so dass die Medikation der individuellen Beschwerdesituation angepasst werden kann. Dies gilt umso mehr, als einzelne Präparate in verschiedenen Darreichungsformen verfügbar sind – etwa zur oralen, nasalen, rektalen oder auch subkutanen Applikation sowie als Schmerztablette. Zu beachten ist, dass Triptane nur an maximal zehn Tagen im Monat eingenommen werden dürfen und dass manifeste Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine Kontraindikation darstellen.

Prophylaxe: Treten im Mittel mehr als drei akute Migräneattacken pro Monat auf, ist eine medikamentöse Migräneprophylaxe angezeigt. Diese ist auch in Betracht zu ziehen, wenn die akuten Attacken durch die übliche Akutmedikation nicht zu beherrschen sind.

Üblicherweise eingesetzt werden Betablocker wie Propranolol und Metoprolol, die jedoch bei einer arteriellen Hypotonie, einer Bradykardie und bei einem Asthma bronchiale kontraindiziert sind. Charakteristische Nebenwirkungen der Betablocker sind Müdigkeit, eine Gewichtszunahme und Schlafstörungen. Alternativ kann die Prophylaxe mit dem Kalziumantagonisten Flunarizin erfolgen, wobei hinsichtlich potenzieller Nebenwirkungen auf Depressionen und extrapyramidale Bewegungsstörungen zu achten ist. Eine weitere Option stellen Antiepileptika wie Valproat oder Topiramat dar. Sie sind in ihrer Wirksamkeit den Betablockern und Flunarizin vergleichbar, wobei keine kardiovaskulären oder psychiatrischen Kontraindikationen bestehen, so dass die Wirkstoffe breit eingesetzt werden können. Es kann laut DKMG unter Valproat allerdings zu einer Gewichtszunahme kommen, während Topiramat eher eine Gewichtsabnahme bedingt. Weitere potenzielle Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Tremor und eventuell eine Leberenzymerhöhung sowie dermatologische Reaktionen wie ein allergisches Exanthem und/oder Haarausfall unter Valproat sowie Kribbelparästhesien und eventuell auch kognitive Störungen und möglicherweise sogar Wesensänderungen unter Topiramat.

Die meisten Migräneprophylaktika werden einschleichend dosiert eingenommen und man sollte zur Dokumentation der Wirkung ein Kopfschmerztagebuch führen. Die Einnahme sollte mindestens drei Monate lang in ausreichender Dosierung erfolgen. Erst danach ist die Wirksamkeit zu beurteilen.

Als wirksam gilt die Prophylaxe, wenn die Häufigkeit der Migräneattacken um mindestens 50 Prozent gesenkt oder die Schmerzintensität deutlich verringert wird, so dass man die akute Migräne wieder mit der Standardmedikation in den Griff bekommt. Rund 70 Prozent der Migränepatienten sprechen nach Expertenangaben auf die Migräneprophylaxe an.

Es gibt laut DKMG weitere Substanzen, denen eine Wirksamkeit als Migräneprophylaktikum zugeschrieben wird, deren Effektivität jedoch weniger gut in klinischen Studien dokumentiert ist und die daher als Mittel der zweiten Wahl gelten. Hierzu gehören unter anderem Amitriptylin, Venlafaxin, Naproxen und ASS. Nicht sicher geklärt ist der Stellenwert von Magnesium bei der Migräneprophylaxe. Der Wirkstoff ist wahrscheinlich nur bei vergleichsweise milder Migräne wirksam, kann laut DKMG aber eine gute Alternative darstellen, wenn in der Schwangerschaft eine Migräneprophylaxe nötig ist.

Als Hoffnungsträger bei der Migräneprophylaxe gelten die derzeit in Entwicklung befindlichen monoklonalen Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Das aus 37 Aminosäuren bestehende CGRP scheint eine wichtige Rolle bei der Pathophysiologie der Migräne zu spielen. Es wird offensichtlich während eines Migräneanfalls aus den Fasern des Trigeminus-Nervs freigesetzt und führt zu einer starken Vasodilatation im Gehirn sowie zu einer neurogenen Entzündung. Durch das Binden des CGRP-Antikörpers an den Botenstoff kann ersten Studien zufolge eine Reduktion der Migräne erwirkt werden. Derzeit sind die drei Wirkstoffe Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab zur gezielten Migräneprophylaxe in klinischer Entwicklung.

Nicht-medikamentöse Prophylaxe: Es gibt auch nicht-medikamentöse Strategien zur Vorbeugung der Kopfschmerzattacken. Wichtig ist, Triggerfaktoren der akuten Migräne zu vermeiden. So ist bekannt, dass bei vielen Betroffenen ein abrupter Kohlenhydratentzug, ein unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus sowie ein wechselnder Koffeinkonsum akuten Attacken den Weg bahnen kann. Davon abgesehen gilt ein gutes Stressmanagement als bedeutsam, wobei Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson wirksam sein können, wie auch Biofeedbackverfahren zum Beispiel in Form eines Vasokonstriktionstrainings. Auch durch eine kognitive Verhaltenstherapie und durch eine regelmäßige körperliche Belastung im Sinne eines Ausdauertrainings kann man versuchen, die Migräne zu lindern und akuten Kopfschmerzen vorzubeugen. Ratsam ist insbesondere die Kombination einer medikamentösen Migräneprophylaxe mit nicht-medikamentösen Vorbeugestrategien.

Bisher ungeklärt ist laut DKMG der Stellenwert der Akupunktur, als unwirksam wird die Homöopathie beurteilt.

Sonderformen der Migräne: Eine Sonderform ist die menstruelle Migräne. Rund sieben Prozent der Frauen mit Migräne klagen über ein gehäuftes Auftreten der Attacken während und kurz vor der Menstruation, wobei meist besonders starke Kopfschmerzen in dieser Zeit angegeben werden. Als Ursache gelten Östrogenschwankungen. Da das Auftreten der Migräne zeitlich begrenzt ist, kann eine Kurzzeitprophylaxe sinnvoll sein. Laut den Empfehlungen der DMKG kann der menstruellen Migräne entweder mit einem NSAR (am besten Naproxen in einer Dosis von zweimal 500 mg täglich, gegeben ab dem vierten Tag vor Beginn der Menstruation bis zum dritten Tag danach) oder mit einem Hormonpflaster (100 µg Östradiol) vorgebeugt werden.

Eine besondere Situation stellt auch die Mgräne bei Kindern und Jugendlichen dar. Die Prävalenz liegt zwischen drei und vier Prozent, wobei etwa die Hälfte der Betroffenen auch später im Erwachsenenalter unter einer Migräne leidet. Überproportional häufig sind Kinder betroffen, deren Eltern ebenfalls an einer Migräne leiden. Die kindliche Migräne zeigt dabei ein etwas anderes klinisches Bild: Beklagt werden häufig auch Bauchschmerzen. Die Kinder können ferner durch eine ungewohnte Teilnahmslosigkeit, durch Müdigkeit oder durch Blässe auffallen. Hauptsymptome sind oft Übelkeit und Erbrechen. Die Attacken sind meist kürzer als bei Erwachsenen, werden als solche oft übersehen oder als banaler Kopfschmerz und als Bauchprobleme fehlgedeutet.

Christine Vetter

Medizinische Fachjournalistin

Aus Sicht der Zahnmedizin

Differenzialdiagnose Kopf- und Gesichtsschmerz

Das Stellen einer spezifischen Diagnose und eine ausführliche Aufklärung sind bei Kopf- und Gesichtsschmerzen entscheidend. So tritt beispielsweise auch der anhaltende idiopathische Gesichtsschmerz mit variabler Attackendauer auf. Er neigt zur Chronifizierung, ist diffus lokalisiert und tendiert zur Ausbreitung des wahrgenommenen Schmerzes ins gesamte Gesichts- und Kieferareal. Häufig führen allerdings deswegen durchgeführte zahn- oder HNO-ärztliche Eingriffe zur Verstärkung und weiteren Perpetuierung der Symptomatik, da jeder neue Eingriff an den betroffenen Strukturen die Irritation potenziell vergrößert. Nun beharren die unsicheren Patienten oft auf genau diesen Eingriffen, was die Behandlung deutlich erschweren kann. Typischerweise handelt es sich um Frauen im mittleren und im höheren Lebensalter, wobei zum Teil von erheblichen psychischen Komorbiditäten ausgegangen wird. Therapeutisch sind meist eine kombinierte Behandlung mit einem niedrig dosierten Antidepressivum (z. B. 10–25 mg Amitriptylin), eine gezielte physiotherapeutische Behandlung und ein Entspannungstraining nach sorgfältiger Aufklärung über das Krankheitsbild erfolgreich. Eine psychologische Diagnostik und psychologische Schmerztherapie sowie die Therapie einer psychiatrischen Komorbidität werden zusätzlich empfohlen. 

Schlussfolgerung für die Praxis

Sowohl die Migräne als auch multiple andere Arten von Kopfschmerzen können mit einer untypischen Lokalisation des Schmerzes während der Attacken einhergehen. Das kann durchaus darin resultieren, dass die besorgten Patienten ihre Schmerzen im Zahnbereich vermuten und nicht initial bei einem Neurologen vorstellig werden. Zur Vorbeugung von in diesen Fällen nicht wirksamen zahnärztlichen Eingriffen ist die Erkennung und die weitere Therapiebahnung bei den betroffenen Patienten durch den Zahnarzt wünschenswert. Im Zweifelsfall, auch um Tumoren im Kopf-Mund-Bereich nicht zu übersehen, sollte eine bildgebende Diagnostik und eine Vorstellung bei einem HNO-Arzt oder bei einem MKG-Chirurgen erfolgen.

PD Dr. Dr. Peer W. Kämmerer M.A., FEBOMFS

Leitender Oberarzt/Stellvertr. Klinikdirektor

Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie der Universitätsmedizin Mainz

Augustusplatz 2, 55131 Mainz

peer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de

141800-flexible-1900

Christine Vetter

Medizinjournalistin
Merkenicher Straße 224,
50975 Köln

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