„All-on-4“ oder Zahnerhalt: Wie direktiv dürfen Patientenaufklärungen sein?
Der Fall: Die 63-jährige, privat versicherte Patientin A. M. stellt sich in der Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien des Uniklinikums Aachen vor. Behandlungsziel ist die Neuversorgung des Oberkiefers. Vorhanden sind zu diesem Zeitpunkt die Zähne 16, 13–23 und 26 (Vgl. Abbildung 1 der nachfolgenden klinischen Falllösung). Die Mundhygiene der Patientin ist gut.
Zuvor hat A. M. in eben dieser Frage bereits zwei andere Zahnärzte konsultiert: Ihr Hauszahnarzt Dr. A. hat ihr mitgeteilt, dass die Zähne in ihrem Oberkiefer nicht zu halten seien. Aus seiner Sicht kämen allein die Extraktion aller acht Zähne und die anschließende Anfertigung einer Totalprothese in Betracht. Obgleich die Patientin – unterstützt von ihrem Ehemann – in Gesprächen mit dem Hauszahnarzt wiederholt betont hat, wie sehr ihr am (partiellen) Erhalt eigener Zähne gelegen sei und dass sie eigentlich keine Totalprothese wünsche, sieht dieser seinen Therapievorschlag als alternativlos an.
Um eine Zweitmeinung einzuholen, hat die verunsicherte Patientin anschließend den Implantologen Dr. B. aufgesucht und dort ihre Wünsche und Fragen vorgebracht. Dieser hat ihr nach kurzer klinischer Inspektion des Kiefers das „All-on-4“-Konzept empfohlen, das heißt die Entfernung aller acht Zähne des Oberkiefers, das Einbringen von vier Implantaten und die Sofortversorgung eines ganzen Kiefers mit einer festsitzenden, rein implantatgetragenen Brücke. Auch er sieht – selbst auf Nachfrage der Patientin – keine Alternative zu seinem Behandlungsvorschlag und der damit verbundenen Reihenextraktion.
Die Prinzipienethik
Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instrumenten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge-Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinterlegt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben.
Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen.
Drei dieser Prinzipien – die Patientenautonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltunsgebot (Benefizienz) – fokussieren ausschließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht.
Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbindliche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Handlungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Gesamtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen.
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Da die Patientin mit beiden Therapievorschlägen unglücklich ist, bittet sie nun den Oberarzt Dr. C. an der Zahnklinik in Aachen um eine Dritt-Meinung. Dieser befundet die dentale und die parodontale Situation sowohl klinisch als auch radiologisch und legt dann die Wertigkeit der Zähne fest. Seiner Einschätzung zufolge weisen die beiden Molaren eine infauste, die Zähne 13, 12 und 23 eine fragliche und die Zähne 11, 21 und 22 eine sichere Prognose auf. Er sieht auf der Basis dieser Analyse durchaus die Möglichkeit, dem Patientenwunsch nach Erhalt der prognostisch günstigen Frontzähne Rechnung zu tragen – sei es über eine teleskopierende Prothese oder über implantatverankerte Brücken mit beidseitigem Sinuslift. Daher irritieren ihn die Bereitschaft und die Entschlossenheit der Zahnärzte A. und B., alle Zähne zu ziehen. Ebenso überrascht ihn, dass beide ihre Therapievorschläge der Patientin gegenüber als alternativlos kommuniziert haben, obwohl diese anderslautende Wünsche geäußert hat. Im „All-on-4“-Konzept sieht er – bemessen am Patientenwunsch und am vorliegenden oralen Befund – insgeheim ein Overtreatment.
Als die Patientin Dr. C. fragt, wie er die Therapievorschläge der Kollegen – Totalextraktion und Vollprothese beziehungsweise Totalextraktion und „All-on-4“-Versorgung – beurteilt, reagiert er verunsichert. Er möchte dem in seinen Augen verständlichen Patientenwunsch Rechnung tragen; andererseits will er die Kompetenz der beiden anderen Zahnärzte nicht (öffentlich) anzweifeln und dem Kollegialitätsgebot gerecht werden. Wie also sollte er sich verhalten und was sollte er vorschlagen?
Dr. med dent. Taskin TunaKlinik für Zahnärztliche Prothetik und BiomaterialienUniversitätsklinikum AachenRWTH Aachen UniversityPauwelsstr. 30, 52074 Aachenttuna@ukaachen.de
Kommentar 1
„Alle Therapieoptionen sollten offen und non-direktiv besprochen werden“
Im vorliegenden Fall kommen drei ethische Prinzipien besonders zum Tragen: der „Respekt vor der Patientenautonomie“, das „Nichtschadensgebot“ und das „Benefizienz-Gebot“.
Respekt vor der Patientenautonomie:
Zunächst fällt auf, dass die Patientenautonomie von den ersten beiden konsultierten Zahnärzten nicht hinreichend beachtet worden ist: Die Patientin hat deutlich gemacht, dass ihr der Erhalt ihrer Zähne – soweit medizinisch vertretbar – wichtig ist. Hierauf sind beide Kollegen nicht eingegangen, obwohl es durchaus Versorgungsoptionen gibt, die die erhaltungswürdigen Zähne miteinbeziehen, namentlich eine teleskopierende Prothese oder implantatverankerte Brücken in der Kombination mit beidseitigem Sinuslift unter Erhalt der Frontzähne. Stattdessen haben beide Zahnärzte direktiv aufgeklärt, das heißt, sie haben die von ihnen favorisierte Therapie nicht nur als vorzugswürdig, sondern sogar als alternativlos dargestellt. Diese Art der Aufklärung ist nicht nur ethisch, sondern auch forensisch problematisch: Jedes Aufklärungsgespräch muss vollständig und umfassend sein – und dazu gehört eben auch, über Therapiealternativen aufzuklären. Im vorliegenden Fall gibt es offensichtlich alternative Optionen: Die Zahnärzte A. und B. haben ihrerseits bereits unterschiedliche Therapien (Vollprothese vs. „All-on-4“) vorgeschlagen; hinzu kommen die erwähnten Versorgungsoptionen unter Erhalt einzelner Zähne. Ziel eines jeden Aufklärungsgesprächs sollte es sein, den Patienten auf einen Informationsstand zu bringen, der ein „Shared decision making“ – eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Patient und Zahnarzt – ermöglicht. Nur dann ist die Zustimmung eines Patienten tatsächlich ein „Informed consent“, das heißt eine Einwilligung nach vollständiger Information.
Freilich gibt es auch Fälle, in denen nur eine einzige Therapie sinnvoll erscheint oder aber in denen ein Patientenwunsch formuliert wird, für den keine medizinische Indikation besteht – in diesen Fällen kann der Zahnarzt natürlich auch nur eine Therapieoption benennen beziehungsweise er muss den abwegigen Wunsch abschlägig bescheiden. Beide Fallkonstellationen liegen hier jedoch nicht vor.
Nicht-Schadens-Prinzip (Non-Malefizienz):
Der zweite Blick muss dem Non-Malefizienz-Gebot gelten, das heißt der Vermeidung eines (ungerechtfertigten) Schadens: Das Extrahieren nicht beziehungsweise fraglich erhaltungswürdiger Zähne ist zweifellos durch das Nichtschadensgebot gedeckt – umso mehr, wenn man bedenkt, dass schadhafte Zähne verschiedenste Probleme auslösen können. Insofern sollten diese kein (konstitutiver) Bestandteil einer Neuversorgung sein.
Dies trifft jedoch nicht für erhaltungswürdige Zähne zu; hierfür müssten spezifische Gründe pro extractione (zum Beispiel bestehende krankheitsbedingte Risiken) vorliegen, und überdies müsste eine Reihenextraktion durch den Patientenwunsch gedeckt sein. Beides ist hier nicht gegeben. Insofern kollidiert die Extraktion erhaltungswürdiger Zähne mit dem Nichtschadensgebot – ebendies spricht sowohl gegen eine Versorgung mit einer Totalprothese als auch gegen das „All-on-4“-Konzept. Demgegenüber erlaubt eine teleskopierende Prothese den Erhalt der besagten Frontzähne und deren Versorgung mit Teleskopkronen; Ähnliches gilt etwa für eine Geschiebearbeit. Auch der zweite von Zahnarzt C. genannte Versorgungsvorschlag nimmt auf den Erhalt prognostisch günstiger Zähne Rücksicht: Hier würden die Zähne 13 bis 23 mit Kronen versorgt; im Seitenzahnbereich wären – nach beidseitigem Sinuslift – implantatverankerte Brücken von jeweils 16–14 und 24–26 geplant. Besagte Versorgung ist allerdings aufwendiger und invasiver – das heißt, der hierbei gesetzte „Schaden“ wäre abzuwägen gegen den erzielbaren Benefit, was uns zum dritten Prinzip – der Benefizienz – führt.
Ärztliche Verpflichtung auf das Wohl des Patienten (Benefizienz-Prinzip):
Leitfrage des Benefizienz-Prinzips ist die Frage: Womit ist dem Patienten (langfristig) am meisten gedient? Hierbei fallen Fragen der erzielbaren Lebensqualität (spezifischer: der oralen Versorgungsqualität), der Nachsorgefähigkeit und der Verhältnismäßigkeit der Versorgung (Kosten-Nutzen-Verhältnis) ins Gewicht: Was die orale Versorgungsqualität betrifft, so dürfte die Vollprothese in den Augen vieler Patienten als Substandard gelten; zudem ist sie hier insofern unverhältnismäßig, als sie eine Reihenextraktion zur Voraussetzung hat.
Letzteres gilt auch für die „All-on-4“-Lösung. Sie bietet allerdings auch Vorteile: eine geringe Behandlungsdauer, das Entfallen der Sinuslifts, eine (gegebenenfalls provisorische) prothetische Sofortversorgung der Implantate. Zu bedenken sind aber auch mögliche Einbußen in der Ästhetik und eine fragliche Nachsorgefähigkeit; auch ist umstritten, ob eine festsitzende Versorgung auf der Basis von lediglich vier Implantaten langfristig der Kaubelastung standhält; zudem besteht das Risiko einer Periimplantitis. Da hier eine Extraktion erhaltungswürdiger Zähne mit letztlich aufwendigen implantologischen Folgemaßnahmen kombiniert wird und diese Gesamtversorgung über den eigentlichen Patientenwunsch hinausweist, erscheint es tatsächlich gerechtfertigt, von Übertherapie („Overtreatment“) zu sprechen.
Eine Teleskopkonstruktion bietet nicht dieselbe orale Versorgungsqualität und zeigt zudem schlechtere Langzeitergebnisse als eine festsitzende Restauration; sie ist jedoch andererseits gut nachsorgbar beziehungsweise erweiterbar.
Das Konzept der implantatgetragenen Brücken kommt ebenfalls ohne Reihenextraktionen aus und lässt eine hohe Versorgungsqualität erwarten, ist jedoch operativ und finanziell (Sinuslifts, zwei implantatgetragene Brücken) deutlich aufwendiger.
Gerechtigkeit:
Das vierte ethische Gebot der „Prinzipienethik“ – die Gerechtigkeit – spielt im vorliegenden Fall nur eine akzessorische Rolle: Die Patientin ist privatversichert und tritt entweder als Selbstzahlerin auf oder hat sich – bei entsprechenden tariflichen Mehrkosten – so umfassend privat versichert, dass die Versicherung eine prothetische beziehungsweise implantatgestützte Versorgung (anteilig) übernimmt. In beiden Fällen belasten die anfallenden Kosten – anders als bei GKV-Leistungen – nicht eine am Solidarprinzip orientierte Versichertengemeinschaft, sondern werden schlussendlich privat getragen.
Fazit:
Unterm Strich ist festzuhalten, dass sowohl der Respekt vor der Patientenautonomie als auch das Nichtschadensgebot gegen die apodiktischen Empfehlungen der Zahnärzte A. und B. sprechen. Wie also sollte sich C. verhalten? Es ist sinnvoll und notwendig, dass er alle bestehenden therapeutischen Optionen offen anspricht und deren jeweilige Vor- und Nachteile – non-direktiv – mit der Patientin bespricht. Dabei sollte er darauf hinweisen, dass Zahnärzte durchaus zu unterschiedlichen fachlichen Einschätzungen kommen können: Dieser Hinweis dürfte sich nicht nur mit der Erfahrung der Patientin decken – immerhin haben ihr die Zahnärzte A. und B. selbst höchst unterschiedliche Therapieempfehlungen gegeben –, sondern liefert zugleich eine Erklärung, die die zuvor konsultierten Kollegen nicht herabsetzt. Insofern verstößt C. mit seiner differenzierten Aufklärung auch nicht gegen das Kollegialitätsgebot. Wenn die Patientin an ihrem initialen Wunsch festhält, Zähne mit einer günstigen Prognose zu erhalten, bleibt ihr so die Wahl zwischen zwei unterschiedlich aufwendigen und komfortablen Versorgungskonzepten. Ebenso ist es letztlich ihr überlassen, den Behandler ihres Vertrauens zu wählen.
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med dent. Dr. phil. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Universitätsklinikum Aachen
RWTH Aachen University
Wendlingweg 2, 52074 Aachen
dgross@ukaachen.de
Dr. med dent. Karin Groß
Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien
Universitätsklinikum Aachen
RWTH Aachen University
Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med dent. Dr. phil. Dominik Groß
Kommentar 2
„Wir müssen den Patienten den ‚Informed consent‘ ermöglichen“
Um das ethische Dilemma dieses Patientenfalls strukturiert zu analysieren, greift diese Fallanalyse ebenfalls auf die vier Prinzipien nach Beauchamp/Childress zurück:
Respekt vor der Patientenautonomie:
Die Entscheidung für eine Therapieform durch die Patientin kann nur (a) auf Grundlage einer umfassenden und fachkompetenten Aufklärung erfolgen. Dabei sollte (b) die geplante Therapieform auch dem Wunsch der Patientin entsprechen, sofern das möglich ist. Beides wurde von den Zahnärzten A. und B. nach Angaben der Patientin nicht ausreichend gewährleistet: (a) Die Aufklärung über die aktuellen Befunde, Diagnosen, Zahnprognosen und die resultierenden Therapiemöglichkeiten wurden jeweils nur einseitig beleuchtet. Auch hätten die Kollegen darüber informieren müssen, dass man erst nach Vorbehandlung und Reevaluation definitiv entscheiden kann, ob die Zähne in eine prothetische Versorgung einbezogen werden können oder nicht. Über die erwähnten Alternativversorgungen (1) Teleskoparbeit (und vollständigkeitshalber auch über weitere herausnehmbare Versorgungskonzepte) und (2) zahn- und implantatgetragene Kronen und Brücken mit Sinuslift hätten die Kollegen aufklären müssen.
Es lässt sich zusammenfassen, dass aufgrund der unzureichenden Aufklärung weder bei A. noch bei B. ein „Informed consent“ (im Sinne einer rechtskräftigen Einwilligung der Patientin in die vorgeschlagene Therapie) zustande gekommen wäre.
Nicht-Schadens-Prinzip (Non-Malefizienz):
Im Zusammenhang mit einer prothetischen Planung ist bei diesem Prinzip der Begriff der Tertiärprophylaxe (Prophylaxe-Definition der WHO) wichtig. Dabei ist beim Ersatz von fehlenden Zähnen dafür Sorge zu tragen, dass ein Erhalt der vorhandenen oralen Strukturen und keine oder eine möglichst geringe iatrogene Schädigung erfolgt. Der zu erwartende Gesundheitsgewinn sollte deutlich höher sein als der durch die zahnärztliche Maßnahme zugefügte iatrogene Schaden. Nach dieser Definition sind das Entfernen von teilweise wertvollen Zähnen und die Versorgung mit einer Totalprothese abzulehnen. Die Teleskopversorgung dürfte dieses Prinzip in Anbetracht des Erhalts der oralen Strukturen am ehesten erfüllen, obwohl hier der Gesundheitsgewinn der „festsitzenden Rehabilitation“ fehlt. Diesen erzielt man mit dem „All-on-4“-Konzept, allerdings mit dem Nachteil, gesunde Zähne zu entfernen. Verfolgt man das Konzept der implantatgetragenen Brücken mit Sinuslift, erhält man die Zähne und erzielt einen maximalen Gesundheitsgewinn, ist aber im Bereich der Sinuslift-Operationen relativ invasiv.
Ärztliche Verpflichtung auf das Wohl des Patienten (Benefizienz-Prinzip):
Hier ist zu fragen, welche der zahnärztlichen Therapieoptionen dem Wohl der Patientin am meisten dient. Es liegt auf der Hand, dass auch hier das Konzept der Totalprothese sofort ausscheidet. Bezüglich Zahnerhalt und geringer Invasivität ist die Versorgung mit einer teleskopierenden Prothese sicherlich sinnvoll. Allerdings widerspricht dies gegebenenfalls den Vorstellungen einer guten mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität der Patientin. Diese würde eher mit einer festsitzenden Versorgung erreicht – umsetzbar sowohl mit dem „All-on-4“-Konzept als auch mit den implantatgetragenen Brücken mit Sinuslift. Hier müssen allerdings auch die Ästhetik, die Funktion und die Langzeitbewährung der Therapieform berücksichtigt werden. Mit dem „All-on-4“-Konzept ist es möglich, eine gute „weiße Ästhetik“ und eine gute Kaufunktion zu erzielen. Dabei wird die gesamte Kaubelastung auf insgesamt vier Implantate übertragen und die circa neunfach bessere Taktilität der Zähne im Vergleich zu den Implantaten geht verloren. Auch wird der sichtbare Gingivaanteil bei diesem Versorgungskonzept aufgrund der meist durchgeführten vertikalen Knochenreduktion mittels Kunststoff beziehungsweise Keramik ersetzt.
Bei dem Behandlungskonzept mit zahngetragenen Kronen in der Front und implantatgetragenen Brücken im Seitenzahnbereich mit Sinuslift kann hingegen bei optimaler Vorbehandlung eine sehr gute Ästhetik und eine sehr gute Kaufunktion erzielt werden. Außerdem werden durch den Zahnerhalt die Kaukräfte neben den Implantaten auch auf die Zähne verteilt, und somit wird eine verbesserte Taktilität des gesamten Zahnersatzes erzielt. Durch den Erhalt der natürlichen Zähne und deren Papillen kann höchstwahrscheinlich auch ein besseres Ergebnis im Bereich der „roten Ästhetik“ erreicht werden.
Gerechtigkeit:
Hierbei sind die initialen Therapiekosten gegen die Langzeitbewährung und den Nutzen der Versorgung für den Patienten abzuwägen.
Die höchsten Therapiekosten entstehen bei der zahn- und implantatgetragenen Kronen- und Brückenversorgung mit Sinuslift, gefolgt von der „All-on-4“-Lösung. Geringere Kosten werden bei der teleskopverankerten Prothese auftreten. Die am besten wissenschaftlich abgesicherte Langzeitbewährung liegt für die zahn- und implantatgetragene Kronen- und Brückenversorgung vor. Aber auch das „All-on-4“-Konzept weist bezogen auf die Langzeitbewährung inzwischen vielversprechende Daten auf (Implantatprothetische Versorgung des zahnlosen Oberkiefers. S3-Leitlinie. AWMF-Registernr. 083–010). Die herausnehmbaren Versorgungen sind hier weniger zuverlässig und werden mit Sicherheit eine vorzeitige Erneuerung der Arbeit mit sich bringen.
Fazit:
Nach Analyse des Falles werden jetzt die vier Prinzipien gegeneinander abgewogen. Aus meiner persönlichen Sicht ist hierbei dem Prinzip der Patientenautonomie und dem Non-Malefizienz-Prinzip das größte Gewicht beizumessen. Dies bedeutet, wie oben ausgeführt, dass auch die erwähnten zahnerhaltenden Therapieoptionen angeboten werden sollten. Dies ist nicht nur ein fachliches Muss, sondern auch durchaus mit dem Kollegialitätsgebot zu vereinbaren.
Arbeitskreis Ethik
Der Arbeitskreis verfolgt die Ziele:
das Thema „Ethik in der Zahnmedizin“ in Wissenschaft, Forschung und Lehre zu etablieren,
das ethische Problembewusstsein der Zahnärzteschaft zu schärfen und
die theoretischen und anwendungsbezogenen Kenntnisse zur Bewältigung und Lösung von ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen zu vermitteln.
www.ak-ethik.d
Zudem ist es wichtig, die Patientin ausführlich über die Befunde, Diagnosen und Prognosen der betreffenden Therapieoptionen inklusive der entstehenden Kosten aufzuklären. Dabei steht es der Patientin frei, den Zahnarzt ihres Vertrauens auszuwählen. Fällt die Entscheidung der Patientin auf das Konzept der implantatgetragenen Brücken mit Sinuslift, wäre zu bedenken: Verknüpft die Patientin dies mit einem Behandlerwechsel zu C., könnte jener anregen, dass die Patientin diesen Wechsel und die Gründe dafür den anderen Zahnärzten mitteilt. Alternativ könnte C. vorschlagen, ihn von der Schweigepflicht zu entbinden, um diesen Fall mit den beteiligten Zahnärzten zu besprechen.
Univ.-Prof. Dr. med dent. Stefan Wolfart
Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomaterialien
Universitätsklinikum Aachen
RWTH Aachen University
Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen
Schildern Sie Ihr Dilemma!
Haben Sie in der Praxis eine ähnliche Situation oder andere Dilemmata erlebt? Schildern Sie das ethische Problem – die Autoren prüfen den Fall und nehmen ihn gegebenenfalls in diese Reihe auf.
Kontakt: Prof. Dr. Ralf Vollmuth
vollmuth@ak-ethik.de