Zu wenig Therapie im Pflegeheim?
„Es war sicher gut gemeint, als in den Jahren 2013 und 2014 neue beziehungsweise modifizierte Leistungsziffern im BEMA eingeführt wurden - leider müssen wir aber feststellen, dass sie nicht den gewünschten Effekt bringen.“ Das Urteil des Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Christoph Straub, ist klar, pointiert, eindeutig. Dabei stützt er sich fast ausschließlich auf die Auswertung der eigenen Abbrechnungsdaten. So bilden die Datenbasis für den Report die Daten der Jahre 2010 bis 2016 für alle Leistungen des BEMA von 8,4 Millionen Versicherten der Barmer GEK. Davon waren 2,2 Millionen Versicherte 65 Jahre und älter, darunter 340.000 Versicherte mit Pflegebedürftigkeit. Vollstationär gepflegt wurden 115.000 versicherte Senioren.
Nun geht aus diesen Daten hervor, dass die Abrechnung nach den neuen Leistungsziffern, eingeführt um die Versorgung Pflegebedürftiger zu verbessern, in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hat - allein im Jahr 2016 wurden diese bundesweit 1,9 Millionen Mal abgerechnet. Das Problem, auf das sich Straub jedoch bezieht: Obwohl immer mehr Zahnärzte immer mehr Pflegebedürftige untersucht hätten, habe die „Inanspruchnahme einfacher Therapieleistungen nicht zugenommen“ - sprich: Eine Therapie finde nach der Erstuntersuchung nicht statt.
Mehr Untersuchungen, aber weniger Therapie - warum?
Prof. Michael Walter, Direktor der Dresdner Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, hat die Studie im Auftrag der Barmer betreut. Das Ergebnis habe ihn überrascht. Aus den BEMA-Daten gehe hervor, dass 69 Prozent der Besuche ohne weitere abgerechnete Leistungen am selben Tag stattfanden. Bei 53 Prozent der Besuche wurden auch nach 90 Tagen keine weiteren Leistungen abgerechnet. „Zumindest bei der Reparatur von Zahnersatz hätte ich einen Anstieg der BEMA-Positionen erwartet, stattdessen war hier sogar eine leicht rückläufige Tendenz festzustellen“, sagt Walter.
Warum findet keine bis wenig Therapie im Pflegeheim statt? Die Gründe seien vielfältig, betont Walter. Ohne weitere Analysen könnten keine Kausalitäten benannt werden. Die zahnärztliche Versorgung von Pflegebedürftigen - sowohl stationär als auch ambulant - sei mit „erheblichen Unwägbarkeiten und Hindernissen für Patienten, Pflegeeinrichtungen und Zahnärzte verbunden“.
Eine mögliche Erklärung: Verwaltungsaufwand für Krankentransport ist nicht gerechtfertigt
Für den Zahnreport hatte Walter daher Interviews mit 17 Vertretern von Pflegeheimen und Zahnärzten geführt. Bei der Analyse der Gründe, warum nach dem Erstbesuch oftmals keine anschließende Therapie erfolgt, nannten die Befragten an erster Stelle den „hohen Verwaltungsaufwand für einen erforderlichen Transport“. So seien ihrer Meinung nach die „nicht vorhandene zahnärztliche Ausstattung im Pflegeheim“ sowie der „bürokratische Aufwand rund um den Krankentransport zum Zahnarzt“ ausschlaggebend dafür, dass nach der Befundung keine Behandlung stattfindet. Des Weiteren würden aber auch oft Patienten die Therapie ablehnen, berichteten die Befragten weiter. Gerade im allgemeingesundheitlichen Kontext nähmen zahnmedizinische Probleme oft einen deutlich niedrigeren Stellenwert ein.
Wie viel Therapie ist sinnvoll?
„Die Diskrepanz wiegt schwer und ist für alle Beteiligten unbefriedigend“, räumt Walter ein. Es stelle sich aber die Frage, wie viel Therapie in den Pflegeeinrichtungen überhaupt vor Ort erbracht werden kann und für die Pflegebedürftigen auch sinnvoll ist. „Der Schwierigkeitsgrad der Betreuung und Behandlung stationärer Pflegebedürftiger ist oft sehr hoch“, betont Walter. „Studien unter Einbeziehung des Methodeninventars der Versorgungsforschung erscheinen erforderlich, um die Grundlage für wirksame Verbesserungen zu schaffen.“
Auch Straub betont, dass vertiefende Analysen notwendig seien, um Erklärungen für die aufgeworfenen Fragen tatsächlich herstellen zu können. Eine „Mitnahmementalität“ wolle er den Zahnärzten ausdrücklich nicht unterstellen. Vielmehr sei es ihm ein Anliegen „die Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass der Besuch von Pflegebedürftigen beim Zahnarzt nicht unnötig erschwert wird“. Der Barmer-Chef schlägt vor, die Antragsverfahren für die Kostenübernahme von Krankenfahrten zu vereinfachen. Zudem hält er es für sinnvoll, „Leitlinien und Handlungsempfehlungen für die zahnärztliche Versorgung von Pflegeheimbewohnern zu entwickeln“.
Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) und die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) reagierten prompt: „Zahnärzte leisten ihren Beitrag“, stellen die beiden Institutionen in einer Stellungnahme klar. „Die Barmer beklagt Defizite in der Versorgung, ködert zugleich aber laut Bundesversicherungsamt mit knappen Beitragsgeldern junge, gesunde Mitglieder über Bonusprogramme und Wahlleistungen, um ihre Bilanz aufzuhübschen“, sagt der Vorstandsvorsitzende der KZBV, Dr. Wolfgang Eßer. Alte, chronisch Kranke und behinderte Menschen würden von den Kassen „systematisch benachteiligt“. Sie erhielten schlechtere Leistungen oder ihre Anträge auf Rehabilitation und Hilfsmittel würden häufiger abgelehnt, betonte Eßer. „Das verstößt gegen das Solidarprinzip! Wir Zahnärzte leisten in der Pflege seit Jahren aktive Beiträge, etwa durch die aufsuchende Versorgung mit bedarfsgerechten Schwerpunkten bei Prävention und Therapie. Wer die Praxis nicht mehr erreicht, den behandeln wir - soweit möglich - im Heim oder Zuhause.“
Krankenkassen werden aufgefordert, ihre Anstrengungen bei der Betreuung von Pflegebedürftigen auszuweiten
Statt Geld für „teure Eigen-PR oder zweifelhaftes Sponsoring zu vergeuden“, sollten die Kassen ihre Versicherten besser über bestehende Ansprüche in der zahnärztlichen Versorgung informieren„, kritisiert der KZBV-Chef. “Hier tut sich zu unserem Bedauern viel zu wenig."
Zudem fordert Eßer alle Betreiber von Pflegeeinrichtungen, die bislang keine Kooperation für die Betreuung der Bewohner geschlossen haben, auf, eine solche Zusammenarbeit „zeitnah zu vereinbaren“. Langfristig könne es nur mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelingen, die Mundgesundheit in der Pflege nachhaltig zu verbessern.
Aus dem Barmer-Zahnreport geht hervor, dass hier deutliche regionale Unterschiede bestehen: In einigen Regionen seien Kooperationsverträge kaum vorhanden. Während zum Beispiel im Jahr 2016 von Leistungen im Rahmen eines Kooperationsvertrags im Saarland 4,3 Prozent und in Niedersachsen 6,8 Prozent der Heimbewohner profitierten, waren es in Sachsen-Anhalt 26,8 Prozent, gefolgt von Thüringen mit 24,2 Prozent, Bremen mit 22,2 Prozent und Berlin mit 20,8 Prozent. „Kooperationsverträge zwischen Zahnärzten und Pflegeheimen gibt es tendenziell häufiger in Ballungsgebieten“, sagt Studienautor Walter.
Betrachte man die Inanspruchnahme des Zahnarztes und therapeutischer Leistungen ungeachtet der Frage, ob Kooperationsverträge vor Ort bestehen oder nicht, falle die Bilanz in den Bundesländern ebenfalls sehr unterschiedlich aus, erläuterte Walter weiter. So hat in Berlin seit dem Jahr 2013 die Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen im Pflegeheim insgesamt um 5,2 Prozent zugenommen, während die Inanspruchnahme der Therapieleistung um 9,7 Prozent zurückging. In Thüringen wiederum waren es plus 0,6 Prozent und minus 14,3 Prozent.
Aufwärtstrend bei Kooperationen und Hausbesuchen
Insgesamt gebe es jedoch einen Aufwärtstrend bei Kooperationen und Hausbesuchen, betonen KZBV und BZÄK. „Rund 3.700 Verträge mit den etwa 13.600 Einrichtungen ergeben aktuell einen Versorgungsgrad von bundesweit 27 Prozent“, heißt es in der Stellungnahme. „Die lückenlose Abdeckung aller Einrichtungen“ bleibe übergeordnetes Ziel der Zahnärzte. Die Zahl von Haus- und Heimbesuchen lag in 2017 bei rund 929.000 - das entspricht einem Zuwachs von 3,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 87 Prozent der Besuche entfielen dabei auf Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung - 2016 waren dies 84 Prozent.
„Wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung für die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung – und diese nehmen wir seit Langem wahr“, betont Prof. Dietmar Oesterreich, BZÄK-Vizepräsident. „Seit fast zwei Jahrzehnten setzt sich die BZÄK für die Verbesserung der Betreuung und der Prävention dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe mit zahlreichen Projekten ein. Bis 2014 basierte diese Betreuung vorwiegend auf dem ehrenamtlichen Engagement zahlreicher Zahnärzte. Es war ein zäher Weg, Politik und Krankenkassen von dem dringenden Handlungsbedarf zu überzeugen.“
Leider werde in der Ausbildung der Pflegekräfte die Mundhygiene für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf nicht ausreichend vermittelt und somit auch im Pflegealltag zeitlich nicht ausreichend abgebildet. Die „stärkere Berücksichtigung von Mundhygieneverhalten in der Pflegeaus- und Fortbildung“ sei daher von zentraler Bedeutung für die Verbesserung der Mundgesundheit und die Lebensqualität der betroffenen Patienten, erläuterte Oesterreich. „Mit der Modernisierung der Pflegeausbildung über das neue Pflegeberufereformgesetz gibt es Chancen dafür.“
Mundhygiene muss im Pflegealltag ankommen
Für die Vermittlung von zahn- und mundgesundheitlichen Aspekten im Rahmen der Ausbildung von Pflegekräften hätten BZÄK und die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin ein Konzept erarbeitet. Zur weiteren Unterstützung des Pflegepersonals bieten die Kammern im Rahmen von Kooperationen zudem seit Jahren Schulungen und Informationsmaterial für den Pflegealltag an. "Es bleibt also weiterhin eine große Aufgabe für den Berufsstand, aber auch für Politik, Krankenkassen und Pflegeberufe, Mundgesundheit auch in der Pflege den notwendigen Stellenwert zu verschaffen.“
So habe die KZBV als stimmberechtigte Trägerorganisation im Gemeinsamen Bundesausschuss in 2017 die Umsetzung der Erstfassung der Richtlinie über Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen maßgeblich vorangetrieben. Versicherten mit Pflegegrad oder Eingliederungshilfe stehen ab Juli 2018 neue präventive Leistungen nach § 22a SGB V zu, die die KZBV und der GKV-Spitzenverband im Bewertungsausschuss beschlossen haben. Der Anspruch umfasst die Erhebung des Mundgesundheitsstatus, einen Mundgesundheitsplan, Mundgesundheitsaufklärung sowie die zusätzliche Entfernung harter Zahnbeläge. Pflege- oder Unterstützungspersonen werden in die Aufklärung und die Erstellung des Pflegeplans einbezogen.
„Wir arbeiten weiter dafür, dass ausnahmslos alle Patienten von der hochwertigen Versorgung durch Zahnärzte profitieren. Ältere und pflegebedürftige Menschen dürfen im Kassenwettbewerb nicht das Nachsehen haben!“, sagt Eßer. „Diesen Menschen steht die gleiche Teilhabe an einer bedarfsgerechten Versorgung zu, wie der übrigen Bevölkerung.“
Informationsmaterial von KZBV und BZÄK
Aufgrund des besonderen Versorgungsbedarfs von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung haben die Zahnärzte bereits in 2010 ihr Konzept „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ vorgestellt. Auf den Websites von KZBV und BZÄK findet sich außerdem der Flyer „Zahnärztliche Betreuung zu Hause für Ältere, Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung“, Das „Handbuch der Mundhygiene Zahn-, Mund- und Zahnersatzpflege für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf - Ein Ratgeber für Pflegepersonal und unterstützende Personen“ wurde in 2017 überarbeitet und neu aufgelegt. Aktuell hat das Zentrum für Qualität in der Pflege in Kooperation mit der BZÄK den Online-Ratgeber „Mundpflege - Praxistipps für den Pflegealltag“ für Angehörige von pflegebedürftigen Menschen neu aufgelegt. Zudem stehen Erklärfilme für die Mundpflege bei Pflegebedürftigen, wie etwa der Zahnersatz richtig gepflegt wird oder welche Hilfsmittel bei der Mundhygiene genutzt werden können, auf YouTube zur Verfügung.