Fußballern in den Mund geschaut
„Sportzahnmedizin führt im deutschen Spitzensport häufig noch ein Nischendasein“, sagt Dr. Holger Claas, Präsident der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prävention und Rehabilitation im Spitzensport e.V. (DGzPR Sport). Claas ist bei Hannover 96 als Repräsentant der DGzPRsport in die sportzahnmedizinische Arbeit involviert und treibt zusammen mit anderen Akteuren das Thema voran. „Hierzu wurde eigens von 14 Hochschullehrern aus Deutschland und der Schweiz in Zusammenarbeit mit Verbänden und Vereinen des Spitzensports das Konzept des Zahnmedizinischen Koordinators entwickelt“, erläutert Claas.
Ein weltweit einzigartiges Konzept
Bei diesem weltweit einzigartigen Konzept regelt und organisiert der Zahnmedizinische Koordinator alle zahnärztlichen Maßnahmen innerhalb seines Aufgabenbereichs im Verein. Der Koordinator organisiert das sportzahnärztliche Screening (siehe Kasten) als eine Säule des Konzepts sowie die sportzahnärztliche Befundung als die zweite Säule. Zudem kanalisiert er im Bedarfsfall an die weiterbehandelnden Zahnärzte und an medizinische Spezialisten. Auch ist er zuständig für den Bereich Aus- und Fortbildung in seinem Aufgabenbereich. Als Voraussetzung für diese Position muss der zahnmedizinische Koordinator durch die DGzPRsport – als anerkannte Fachgesellschaft der International Association of Sports Dentistry (IASD) – zertifiziert werden.
Das sportzahnärztliche Screening
Beim sportzahnärztlichen Screening geht es um das schnelle und sichere Erfassen von Krankheitswahrscheinlichkeiten, sagt Dr. Holger Claas, Präsident der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prävention und Rehabilitation im Spitzensport e.V. (DGzPR Sport). Neben einer speziellen Anamnese, die beispielsweise auch die Ernährungsgewohnheiten erfasst, wird dabei ein gingivaler/parodontaler Entzündungstest durchgeführt. Daran schließt sich ein CMD-Screening (CMD-Check nach Ahlers & Jakstat) an.
Claas: „Die Screeningdaten werden in einer App erfasst und im Ampelprinzip bewertet. Rot bedeutet eine hohe Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der getesteten Erkrankung.“ In der Regel werden die Sportler bei entsprechender Anamnese und Krankheitswahrscheinlichkeit dann in die sportzahnärztliche Befundung, also die zweite Säule des Konzepts der DGzPRsport, überführt.
Das Screening soll gemäß Konzept halbjährlich, die sportzahnärztliche Befundung mindestens jährlich von einem Zahnarzt durchgeführt werden. Der zahnmedizinische Koordinator und das medizinische Team stehen dabei in engem Kontakt und Austausch.
Claas: „Hannover 96 war der erste Verein, der diesem fortschrittlichen Konzept folgt. Mittlerweile werden auch Borussia Dortmund, RB Leipzig und der SC Freiburg über einen geprüften Koordinator der DGzPRsport betreut. Weitere Vereine wollen folgen und das nicht nur im Fußball. Zurzeit gibt es international nur 12 zahnmedizinische Koordinatoren im Spitzensport.“
Während in der Regel das Screening in der Sportstätte, der Befund aber in einer Zahnarztpraxis durchgeführt wird, können die Verantwortlichen und die Nachwuchskicker in Hannover auf eine weitere Besonderheit zurückgreifen: Screening und Befundung können an einem Ort – in der Sportstätte – geschehen. Möglich wurde dies durch die Unterstützung von Pluradent. Das Dentalunternehmen überließ Hannover 96 die Behandlungseinheit und die Einrichtungsmöbel für den zahnmedizinischen Behandlungsraum. Dort werden die Fußballer nun in speziellen, mit dem Trainingsplan abgestimmten Sprechstunden behandelt.
Der zahnmedizinische Koordinator
Dr. Klaus-Henning Schwetje ist der zahnärztliche Koordinator in Hannover. Seit dem Sommer betreut er den Nachwuchs des Fußballvereins zahnmedizinisch. 40 Jahre führte Schwetje seine Praxis in Sehnde bei Hannover, dann gab er sie an seinen Sohn ab. Weil er noch nicht ganz aufhören wollte mit der Zahnmedizin, engagiert er sich nun im Bereich der Sportzahnmedizin. Er möchte seinen Anteil dazu beitragen, die Rolle der Zahnmedizin bei Hannover 96 zu festigen. „Erwiesen ist doch, dass Entzündungen oder Bakterien der Mundhöhle den gesamten Körper schädigen können“, unterstreicht er die Wichtigkeit der Sportzahnmedizin. Das Screening betreffe heranwachsende Jugendliche von 11 Jahren bis zu 23-jährigen Männern, so Schwetje. Bei den Kleineren achte er mehr auf Milchzahnretentionen oder Kariesbefall der Zähne. Bei den Älteren stünden mehr der allgemeine Zahnzustand und der Entzündungstest im Vordergrund. Das Ergebnis sei im Allgemeinen recht erfreulich, so Schwetje: „Es ist überraschend, wie wenig Spieler derartige Entzündungsherde aufweisen.“
Auch der Altbundeskanzler saß schon auf dem Stuhl
Erst kürzlich besuchte Altbundeskanzler Gerhard Schröder – Mitglied im Aufsichtsrat des Vereins – die Nachwuchsakademie. Schröder ist selbst Fußballfan, spielte in seiner Jugend als Mittelstürmer beim TUS Talle. Bei einem Rundgang im Nachwuchszentrum seines Vereins nahm „Acker“, so Schröders Spitzname aus dieser Zeit, gleich auf dem neuen Behandlungsstuhl im zahnmedizinischen Untersuchungsbereich Platz. Zur Probe, nicht zur Durchsicht.
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Interview mit DGzPRsport-Präsident Dr. Holger Claas
„90 Prozent der Profi-Fußballer hatten Gingivitis oder Parodontitis!“
Spitzensportler ringen mit Infektionen, Schmerzen und Leistungsverdichtung. Warum die Zahnmedizin in diesem Kampf eine so große Rolle spielt, erläutert Dr. Holger Claas, Präsident der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Prävention und Rehabilitation im Spitzensport.
Welche Bedeutung hat die Zahnmedizin im Sport generell?
Dr. Holger Claas:
Zurzeit spielt die Sportzahnmedizin immer noch nicht die Rolle im Spitzensport, die ihr eigentlich zustünde. Wir wissen heute, dass viele Sportler an leistungsmindernden Infektionen in der Mundhöhle leiden. Wir wissen auch, dass diese schon in einem frühen Stadium, zum Beispiel bei der Gingivitis, systemisch wirken, indem sie die Endothelzellen der Gefäße schädigen. Zwar weiß die Sportmedizin um dieses Problem – ein Transfer in konkrete Betreuungssituationen durch zielgerichtete anti-entzündliche Konzepte findet aber in der Regel nur selten statt.
Die anti-entzündlichen Konzepte sind aber nur ein Feld, in dem wir den Sport gezielt unterstützen können. Weitere Bereiche sind die Atmungsoptimierung, die Ernährungssteuerung, die Funktionsoptimierung des craniomandibulären Systems, Konzepte zur Traumaprävention und ZMK-Traumatologie, zur Kariologie und Erosionsprävention und vieles mehr.
Letztlich versuchen wir das Feld der Sportzahnmedizin systematisch zu erschließen, synoptisch zu betrachten und praktikable Lösungen zu finden. Dies ist der Grund, warum zu unseren Beiräten auch Ernährungsmediziner, Sportkardiologen, Sportpsychologen und Ärzte für Labormedizin gehören und wir Konzepte bis in die praktische Anwendung hinein begleiten.
Weshalb ist die zahnmedizinische Betreuung von Spitzensportlern wichtig?
Die Mundhöhle gilt heute als die Haupteintrittspforte für krank machende, leistungsmindernde Bakterien. Gingivitis und Parodontitis sind kein auf die Mundhöhle lokal begrenztes Problem. Über die Blutbahn streuen diese Infektionen in den Organismus, so dass die Symptome manchmal fern der Mundhöhle zu finden sind.
Vor einem Jahr wurde eine dänische Studie, die sich mit chronischen Beschwerden im Lendenwirbelsäulenbereich beschäftigte, mit dem Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) ausgezeichnet. Sie konnte zeigen, dass bei über 51 Prozent der chronischen Schmerzen bei sogenannten „modic changes“ Bandscheibengewebe mit einem Bakterium aus der Mundhöhle infiziert war, dem Propionibakterium Acres. Diese Beschwerden sollten nach Erregernachweis antibiotisch behandelt werden. Die Ursache aber liegt in der Mundhöhle und das ist das Kompetenzfeld der Sportzahnmedizin! Ohne synoptisches medizinisches Denken springt man hier zu kurz und behandelt nur die Symptome. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, warum die Sportzahnmedizin für Sportler so wichtig ist und in Zukunft immer wichtiger werden wird!
Lässt sich das auch wissenschaftlich belegen?
Wir haben 2016 in einer eigenen Studie feststellen können, dass in einer Untersuchungskohorte von 94 professionellen Fußballern, die unserem sportzahnärztlichen Screening unterzogen wurden, mehr als 90 Prozent eine leistungsmindernde Gingivitis/ Parodontitis aufwiesen. Wir konnten dann in einem zweiten Schritt aber auch zeigen, dass durch ein an den Sport adaptiertes Präventionskonzept eine nachhaltige und in den meisten Fällen vollständige Reduktion der Entzündungen erreicht werden kann.
Gibt es weitere Gesundheitsaspekte, die sportzahnmedizinisch relevant sind?
Ein weiteres Beispiel ist die Regenerationsunterstützung: Im Sport ist im Moment die effektive Regeneration das Topthema. Im professionellen Sport kommt es mehr und mehr zur Belastungsverdichtung, Sportler haben kaum noch Zeit, ausreichend zu regenerieren. Wenn man sich vor Augen führt, dass es Fußballprofis mit über 70 Pflichtspielen in der Saison gibt, kann man dies gut nachvollziehen. Wir können die Regeneration durch spezielle Ernährungssteuerung, aber auch durch spezielle Apparaturen in der Mundhöhle zu verbessern versuchen, indem wir die Atmung optimieren. Erste Versuche versprechen auf diesem Gebiet großes Potenzial. Es macht also Sinn, die Sportzahnmedizin in die medizinische Betreuung von Spitzensportlern einzubeziehen, um durch Gesundheit einen validen Wettbewerbsvorteil zu generieren.
Und seit wann wird auf diese gestiegene Bedeutung der Sportzahnmedizin eingegangen, gelten Sie hier nicht vielmehr noch als Exoten?
Zahnmediziner haben sich schon immer auf diesem Feld getummelt, daher werden wir im Spitzensport nicht als Exoten wahrgenommen. Zunehmend wird das Fachgebiet als „Markt“ dargestellt, der eine Möglichkeit bietet, sich zu positionieren. Das sehen wir als Fachgesellschaft natürlich nicht so.
Die Sportzahnmedizin ist ein Querschnittsfach der Zahnmedizin innerhalb der Sportmedizin. Sie ist kein „Markt“, um primär wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Neu ist, dass wir unsere Konzepte auf den Boden der Wissenschaft stellen. Hier sind wir, wenn Sie so wollen, Exoten. Wir sind dabei, das zu ändern.