Konstant ist nur der Eigentümerwechsel
In der Schweiz beginnt der Aufstieg der Dentalketten kurz nach der Jahrtausendwende mit einem Bündel aus sieben Verträgen mit den Staaten der Europäischen Union. In diesen „Bilateralen Verträgen I“ war neben diversen Ausarbeitungen zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, zum Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, zum Land- und Luftverkehr auch ein Abkommen zur „schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit“ enthalten. Das Abkommen erlaubt jedem Bürger aus der Schweiz und der EU, Wohnsitz und Arbeitsplatz innerhalb der Territorien der Vertragspartner frei zu wählen. 2005 wurde das Abkommen auf die 2004 der EU beigetretenen acht osteuropäischen Länder, 2009 auf Rumänien und Bulgarien ausgedehnt.
Tausende Zahnärzte strömen in die Schweiz
Dieses Personenfreizügigkeitsabkommen führte zu einer massiven Zuwanderung von Zahnärzten aus dem EU-Raum. Von Juni 2002 bis Ende 2014 ließen 4.222 EU-Zahnärzte ihre Diplome in der Schweiz anerkennen – heute dürfte deren Zahl die Zahl der 4.800 Schweizer Zahnärzte deutlich überschritten haben. Knapp drei Viertel der Zahnärzte kamen aus Deutschland, Frankreich und Italien. Auf den Plätzen vier bis zehn der Herkunftsländer stehen Zahnärzte aus Rumänien, Schweden, Griechenland, Ungarn, Portugal, Belgien und den Staaten des ehemaligen Jugoslawien.
Die Zuwanderung erfolgte zum großen Teil in die städtischen Ballungsgebiete und befeuerte dort die Konkurrenz. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden in den Städten die ersten überregionalen Dentalketten.
Die ersten Dentalketten entstehen in den Städten
Die 2003 gegründete Dentalkette zahnarztzentrum.ch ist heute Marktführer, sie betreibt Praxen an 33 Standorten mit nach eigenen Angaben „über 300 Zahnärzten und Spezialisten für Kieferorthopädie, Implantate und Dentalhygiene“. Im gleichen Jahr starteten die „Glamour“-Zahnärztinnen Haleh und Golnar Abivardi ihre Dentalkette swiss smile mit der Eröffnung des ersten „swiss smile Kompetenzzentrums an prominenter Lage im Zürcher Hauptbahnhof“, wie es in der Firmeninformation heißt. swiss smile hat heute 16 Standorte – die Kette wurde 2017 von der Jacobs Holding übernommen. Als dritte große Dentalkette ist die Adent Cliniques Dentaires-Gruppe mit 22 Zahnarztzentren und rund 400 Mitarbeitern im Schweizer Markt vertreten. Adent wurde mehrfach von Investmentgesellschaften ge- und verkauft: Im August 2014 kaufte die britische Hesira Group Adent von der Beteiligungsgesellschaft Swiss Equity Capital Partners. 2018 übernahm dann die Investmentgesellschaft Nordic Capital die Dentalkette in ihr Portfolio.
Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (Società svizzera odontoiatri – SSO) als Berufs- und Standesorganisation der Zahnärztinnen und Zahnärzte beobachtet die Entwicklung kritisch und sorgt sich um die qualitativ hochwertige zahnmedizinische Versorgung: „Der Zustrom ausländischer Behandler stellt uns vor die vielleicht größte Herausforderung überhaupt. Nicht immer entspricht die formelle Gleichwertigkeit eines ausländischen Diploms der tatsächlichen Qualität des Ausbildungsganges“, heißt es in einer 2015 veröffentlichten Broschüre der Gesellschaft. Zuwanderung und das Aufkommen der Dentalketten „haben zu einem stärkeren Konkurrenzdruck in jenen Regionen geführt, in denen bereits eine hohe Zahnärztedichte herrscht; dies besonders in urbanen Zentren wie Zürich oder Genf“.
Harter Konkurrenzkampf in Zürich und Genf
„Zürich ist überversorgt, es gibt rund ein Drittel zu viel Zahnärzte“, warnte der ehemalige Präsident der Kantonszahnärzte, Sven Priester, bereits 2013. Zahnarztzentren seien auf Umsatz ausgerichtet und müssten möglichst viele Patienten in kurzer Zeit behandeln – darunter leide „automatisch die Qualität“, erklärte er seinerzeit Reportern der Basler Zeitung. Das Blatt verwies in einem Beitrag auf Informationen verschiedener Kantonszahnärzte, wonach Dentalketten „überdurchschnittlich stark von Patientenklagen betroffen“ seien. Nach Angaben des Berner Kantonszahnarztes Thomas Schochat handelt es sich um „sechs- bis zehnmal mehr Reklamationen“. Der Mitgründer der Dentalkette zahnarztzentrum.ch, Christoph Hürlimann, widersprach den Vorwürfen der Kantonszahnärzte, räumte aber gegenüber der Basler Zeitung ein, dass zwei Drittel seiner Angestellten aus dem EU-Raum stammen.
Das Thema „Behandlungsqualität“ beschäftigt inzwischen nicht nur Kantonszahnärzte, sondern auch Patientenschutzorganisationen und die Öffentlichkeit. So berichtete die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im Dezember 2018, dass zehn Prozent der jährlich 3.400 Anfragen an die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz „mangelhafte, zu teure oder überflüssige Behandlungen durch Zahnmediziner“ betreffen. Das tatsächliche Ausmaß der Probleme dürfte jedoch nur schwer abzuschätzen sein. Bis ein Fall an Patientenschutzorganisationen wie die SPO gelange, müsse ein „gewaltiger Vertrauensbruch“ vorliegen, sagt die SPO-Expertin für Zahnbehandlungen, Maggie Reuter, gegenüber der Aargauer Zeitung: „Wir kriegen lediglich die Spitze des Eisbergs zu sehen.“
Überversorgung und mangelhafte Behandlungsqualität werden in der öffentlichen Debatte überwiegend mit ausländischen Zahnärzten und Dentalketten in Verbindung gebracht. Die NZZ berichtet im Dezember 2018: „Patientenschutzorganisationen und Kantonszahnärzte verzeichnen konstant viele Reklamationen wegen mangelhafter Behandlungen durch Zahnärzte, die nicht in der Schweiz ausgebildet wurden.“ Und: „Viele dieser ausländischen Zahnmediziner praktizieren in größeren Zahnarzt-Zentren, entsprechend oft wird die Arbeit von solchen Gemeinschaftspraxen beanstandet.“
Patientenbeschwerden in Dentalketten häufen sich
Um die Debatte mit konkreten Zahlen zu unterstützen, hat die Aargauer Sektion der SSO über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg sämtliche Patientenbeschwerden analysiert, die bei der Zahnärztlichen Begutachtungskommission der Gesellschaft eingingen. Das Ergebnis bestätigt die bislang in den Medien beschriebenen Zusammenhänge: Die Hälfte der Beschwerden gegen Nicht-SSO-Mitglieder betrifft Zahnärzte mit ausländischen Abschlüssen, obwohl deren Zahl im Aargau deutlich geringer ist als die der Schweizer Zahnärzte.
Da die Entwicklungen nun nicht mehr rückgängig zu machen sind, werden aktuell allerlei Maßnahmen diskutiert, um die entstandenen Probleme in den Griff zu bekommen. So sollen etwa die Kantonszahnärzte mehr Kompetenzen erhalten und deren Stellen personell aufgestockt werden. „Unzufriedene Patienten müssen eine Anlaufstelle haben, die auch tatsächlich Zeit hat und sich um ihre Anliegen kümmern kann“, erklärte Peter Suter, Präsident der Vereinigung der Kantonszahnärzte der Schweiz, gegenüber der NZZ. Die Verwaltung unzufriedener Patienten, eine strengere Aufsicht über die Berufsausübung, Sanktionen, Bußgelder und vermutlich insgesamt ein deutliches Mehr an Verwaltung, Streitschlichtung, Reglementierung und damit natürlich auch Kosten, die letztlich die Allgemeinheit zu tragen hat – die Bilanz des Markteintritts der Dentalketten in der Schweiz sieht nicht gerade ermutigend aus.