Eine wichtige Unterstützung im Praxisalltag
Zahnärzten wird laut Kinderschutz-Leitlinie eine wichtige Rolle bei der Erkennung von Kindeswohlgefährdung zugewiesen. Doch, so ist im zahnärztlichen Kapitel zu lesen: Dentale Vernachlässigung bei Kindern oder Jugendlichen auch als solche zu erkennen, ist eine echte Herausforderung im Praxisalltag und fordert vor allem auch die Kompetenz von ausgewiesenen Fachleuten heraus. Das betrifft insbesondere das Gebiet der Kinderzahnheilkunde und Traumatologie (Kinderzahnärzte, Fachzahnärzte oder Fachärzte für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie).
Wo ist die Grenze zwischen Karies und Vernachlässigung?
Was ist eigentlich dentale Vernachlässigung? Die Leitlinie bringt ein bestehendes Dilemma auf den Punkt: Es gibt keinen Grenzwert für die Anzahl kariöser Zähne und auch keine anderen spezifischen Erkrankungen des Mundes, die zwangsläufig zu der Diagnose Vernachlässigung führen. Auch existiert in der Literatur keine einheitliche Definition für dentale Vernachlässigung.
Hier hilft eine andere Quelle weiter: Dr. Reinhard Schilke, Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde der Medizinischen Hochschule Hannover, hat dazu bereits 2009 in den zm publiziert [Schilke et al., „ Zahnärzte haben hohe Verantwortung “, zm 21/2009]. Er hatte in seinem Beitrag herausgestellt: Vernachlässigung verläuft schleichend. Sie beginnt meist im Säuglings- und Kleinkindalter und bleibt häufig bis zum Eintritt in den Kindergarten oder die Schule unerkannt. Aktive Vernachlässigung ist die wissentliche Verweigerung von Handlungen (Versorgung, Hygiene, Nahrung, Schutz), die von den sorgeberechtigten Personen als Bedarf des Kindes erkannt wird. Passive Vernachlässigung entsteht aus mangelnder Einsicht oder Nichterkennen von Bedarfssituationen, Überforderung oder unzureichenden Handlungsmöglichkeiten der sorgeberechtigten Personen (zum Beispiel: Alleinlassen des Kindes, Vergessen von Versorgungsleistungen, unzureichende Pflege, Mangelernährung). Eine scharfe Grenzziehung zwischen passiver und aktiver Vernachlässigung ist oftmals nicht möglich.
Deshalb – so formulierte es Schilke in dem Beitrag – beginne Vernachlässigung ab dem Zeitpunkt, ab dem ein Arzt oder Zahnarzt den sorgeberechtigten Personen die Erkrankung des Kindes, deren Ausmaß und die notwendige Behandlung sowie die Wege, diese Behandlung zu erreichen, aufgezeigt hat und diese auf das schwerwiegende zahnmedizinische Problem nicht angemessen reagiert haben.
Das zahnärztliche Kapitel der neuen Leitlinie greift diese Aspekte systematisch auf und betont, dass sowohl persönliche als auch familiäre Kontextfaktoren einen Einfluss auf die Mundgesundheit einer Person haben können. In den Erläuterungen heißt es dazu: Kinder und Jugendliche, die einem oder mehreren der folgenden Faktoren ausgesetzt sind, weisen ein erhöhtes Risiko einer eingeschränkten Mundgesundheit auf: Sie stammen aus benachteiligten Familien, haben Eltern mit Substanzabusus, einen Fluchthintergrund oder sonstige besondere Bedürfnisse.
Auch weitere negative Lebenserfahrungen können sich auf die Mundgesundheit der Kinder und Jugendlichen auswirken. Dazu gehören etwa eine Scheidung der Eltern, die Inhaftierung eines Elternteils, häusliche Gewalt oder Gewalt in der Nachbarschaft. Und Jugendliche, die eine selbst wahrgenommene schlechte Mundgesundheit beschreiben, berichten der Leitlinie zufolge auch eher von Mobbing, Erfahrungen mit körperlicher Misshandlung, Partnergewalt und erzwungenem Geschlechtsverkehr.
Die Rolle der Zahnärzte im Kinderschutz
Zwar können sich Ärzte einen allgemeinen Einblick über die Mundgesundheit von Kindern verschaffen. Wie die Leitlinie herausstellt, ist ihre Diagnose aber im Vergleich zu zahnärztlichen Untersuchungen eher oberflächlich und birgt das Risiko, dass relevante Befunde übersehen werden. Deswegen kommt Zahnärzten, Fachzahnärzten und Fachärzten für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie zwei entscheidende Aufgaben im Kinderschutz zu:
Anzeichen von (dentaler) Vernachlässigung und anderen Formen der Misshandlung zu erkennen, wenn Kinder ihre Praxis besuchen, sowie
die Untersuchung der Mundgesundheit von Kindern mit Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung im Rahmen des diagnostischen Prozesses (zum Beispiel nach Überweisung durch andere Ärzte) durchzuführen.
In den Erläuterungen im zahnärztlichen Kapitel verweist die Leitlinie auf zahlreiche Studien, die gezeigt haben, dass in vielen Fällen, in denen sich Zahnärzte um die schlechte Mundgesundheit von Kindern sorgen und dies dem Jugendamt mitteilen, ihre Familien oft bereits Hilfe oder Unterstützung durch das Jugendamt erhalten.
Ferner weist die Leitlinie darauf hin, dass die mangelnde Bereitschaft, zum Zahnarzt zu gehen, oft von äußeren Faktoren beeinflusst wird. Als typischer Grund für das Nichtwahrnehmen eines Termins wird die Überlastung der Eltern im Alltag genannt, was auf einen geringen Stellenwert des Themas Mundgesundheit in der Familie hinweist. Den Eltern fehlen häufig eigene regelmäßige Zahnarztbesuche, das Vertrauen in das zahnmedizinische Gesundheitssystem und Selbstvertrauen. Überlastung ist demnach auch der am häufigsten genannte Grund, weshalb Schutzmaßnahmen eingeleitet werden.
Rechtliche Basis: das Kinderschutzgesetz
Das Bundeskinderschutzgesetz (BuKiSchG) von 2012 ist die rechtliche Grundlage für das Tätigwerden von Fachkräften im Kinderschutz. Weitere Regelungen dazu gibt es im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) und im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Geregelt werden Erörterungspflichten, Beratungsrecht und Offenbarungsrecht für Berufsgeheimnisträger (also Ärzte, Zahnärzte, Psychologen, Familien- und Jugendberater oder Lehrer) bei einer Kindeswohlgefährdung sowie die Schaffung von verbindlichen Netzwerkstrukturen im Kinderschutz auf Landesebene. Die Berufsgeheimnisträger haben einen rechtlichen Beratungsanspruch zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch eine erfahrene Fachkraft der öffentlichen Jugendhilfe. Zur Falldarstellung dürfen sie die Informationen in pseudonymisierter Form übermitteln. Es soll darauf hingewirkt werden, dass die Sorgeberechtigten freiwillig Hilfen in Anspruch nehmen. Ergibt sich hier kein wirksamer Schutz, erfolgt eine Mitteilung an das Jugendamt. Wichtig ist immer eine vollständige Dokumentation der einzelnen Schritte und Einschätzungen.
Die Handlungsempfehlungen für Zahnärzte
Die folgenden Handlungsempfehlungen werden im Kapitel „Zahnärztliche Untersuchung“ der Kinderschutzleitlinie speziell für Zahnärzte aufgelistet:
Evidenzbasierte Handlungsempfehlung: Zahnärzte sollen bei Kindern oder Jugendlichen mit Karies vor der Verdachtsdiagnose (dentale) Vernachlässigung und nach Ausschluss von Differenzialdiagnosen für Zahnhartsubstanzdefekte mehrere Faktoren mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten oder Bezugspersonen besprechen:
Beeinträchtigung durch die Karies,
Dauer und Ausprägung der Karies,
Kenntnis und Bewusstsein der Personensorgeberechtigten oder Bezugspersonen in Bezug auf Mundgesundheit
die Bereitschaft und Fähigkeit zur zahnärztlichen Behandlung der Kinder und Jugendlichen,
Verfügbarkeiten der und Bereitschaft zur zahnärztlichen Versorgung.
Statement: Wurden Personensorgeberechtigte oder Bezugspersonen über die Art und das Ausmaß der (kariösen) Erkrankungen ihres Kindes, den Nutzen einer Behandlung, die spezifischen Behandlungsoptionen und den Zugang zu diesen Behandlungsoptionen zur Abwendung von weiterführenden Schäden informiert und enthalten sie ihren Kindern eine indikationsgerechte zahnärztliche Behandlung und/oder erforderliche Unterstützung bei der Mundhygiene vor, ist dies ein gewichtiger Anhaltspunkt für eine Vernachlässigung.
Evidenzbasierte Handlungsempfehlung: Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung sollten Zahnärzte die strukturierte medizinische Diagnostik (zum Beispiel laut Diagnoseschlüssel OPS 1–945) einleiten. Die Empfehlung richtet sich an Zahnärzte, die in einem Krankenhaus arbeiten. Die strukturierte medizinische Diagnostik beinhaltet:
1. multiprofessionelle Arbeit,
2. strukturiertes und mehrstufiges Vorgehen,
3. Partizipation der Kinder und Jugendlichen,
4. Beteiligung der Personensorgeberechtigten,
5. Dokumentation,
6. Beteiligung der Jugendhilfe.
Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKP):Zahnärzte sollen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorgehen. Die Empfehlung richtet sich an Zahnärzte unabhängig von deren Arbeitsplatz.Das KKG fordert (wenn möglich) die Besprechung mit Kindern und Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten über den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung und beinhaltet das Recht der Angehörigen des Personenkreises auf eine Beratung durch eine sogenannte „insoweit erfahrene Fachkraft (IeF)“.
KKG mit Plausibilitätsnachweis:Jede orale Verletzung sollte genau dokumentiert werden. Liegt kein akzidentelles Trauma oder eine zweifelhafte Anamnese vor, sollte dem Verdacht auf eine körperliche Misshandlung als Ursache nachgegangen werden. Ärzte und Zahnärzte sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung die strukturierte medizinische Diagnostik (zum Beispiel laut OPS 1–945) einleiten und nach dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorgehen.Die Empfehlung richtet sich an alle zahnärztlich oder im MKG-Bereich tätigen Personen. Der strukturierte medizinische Diagnostik richtet sich insbesondere an Zahnärzte, die in einem Krankenhaus arbeiten.
Weiterhin empfiehlt die Leitlinie in den medizinischen Kapiteln Punkte, die auch für Zahnärzte relevant sind:
Fortbildung: Ärzte (einschließlich ihrer Teams), die Früherkennungsuntersuchungen und andere Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche durchführen, sollen zur Erkennung von Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung sensibilisiert und fortgebildet werden.
Fachdisziplinen einschalten: Bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf misshandlungsbedingte Hautverletzungen und ohne gesicherte Diagnose einer körperlichen Misshandlung sollten frühzeitig Fachdisziplinen (zum Beispiel Dermatologie, Rechtsmedizin, Ärzte mit Kinderschutzerfahrung) hinzugezogen werden
Zur Erläuterung: Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) wurde 2011 verabschiedet und legt eine Mitverantwortung des Staates beim Kinderschutz fest. Es sieht Kinderschutznetzwerke und Frühe Hilfen vor. Für Ärzte, Hebammen, Psychologen, Lehrer und Sozialarbeitern fixiert es den Rechtsanspruch auf Beratung durch „insoweit erfahrene Fachkräfte“ (IeF). Diese eigens für diese Tätigkeit zertifizierten Kinderschutzfachkräfte helfen, qualifizierte Hilfs- und Schutzkonzepte für das betreffende Kind auf den Weg zu bringen. Sie werden von Amts wegen tätig.
Der ICD-Code OPS 1–945 legt eine standardisierte und multiprofessionelle Diagnostik bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im stationären Setting fest.
Ein Mammutprojekt
Die neue Kinderschutz-Leitlinie entspricht der höchsten Qualitätsstufe und wurde vom Bundesgesundheitsministerium finanziell gefördert. Gestemmt wurde ein Mammutprojekt: Insgesamt rund 80 Fachgesellschaften und Organisationen verschiedenster Fachbereiche waren – unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin und sechs weiteren medizinischen Fachgesellschaften und unter Steuerung eines Teams des Zentrums für Kinderheilkunde der Universität Bonn (Leitlinienbüro) – an dem Projekt beteiligt. Weitere Bundesministerien und Bundesbeauftragte waren mit eingebunden. Vonseiten der Zahnmedizin waren die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) mit weiteren Fachgruppierungen eingebunden, darunter die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde. Auch der Bundesverband der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes war beteiligt.
Materialien:
Die Kinderschutz-Leitlinie liegt derzeit in einer Langfassung vor. Neben dieser und dem Leitlinienreport wurden weitere Materialien und Informationen zur Leitlinie veröffentlicht. Sie finden diese Dokumente unter:
Das Leitlinienbüro in Bonn stellt ein Materialien-Standardpaket zur Verfügung, das unter anderem Informationen für Kinder- und Jugendliche und professionsspezifische Aufklärungsbögen für das Gespräch mit den Kindern beinhaltet. Alle Infos dazu unter: www.dgkim.de/kinderschutzleitlinie/materialanforderungen
Bis Ende August werden eine Kurzfassung der Leitlinie, eine Version für die Jugendhilfe und Pädagogik und weitere Kitteltaschenkarten (voraussichtlich ab Juni auch für Zahnärzte) fertiggestellt und auf den genannten Websites veröffentlicht.Außerdem soll die App „pilani Kinder schützen“ weiterentwickelt und damit die Inhalte der Leitlinie für Fachkräfte bereitgestellt werden. Pilani ist derzeit eine Website und App für Kinder und Jugendliche, die sie über ihre Rechte informiert und Hilfe bei Misshandlung, Vernachlässigung und/oder Missbrauch anbietet (https://www.pilani.de/).
Dr. Reinhard Schilke, Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
„Der Zahnarzt hat die Aufgabe, darauf hinzuwirken, dass sich die bestehende Situation verändert!“
Die neue Kinderschutzleitlinie verfolgt einen multidisziplinären Ansatz: Welche Rolle spielt der Zahnarzt dabei?
Dr. Reinhard Schilke: Wenn ein Zahnarzt bei seiner Untersuchung einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (im Wesentlichen werden das Vernachlässigung und Misshandlung sein) hat und wenn dieser Fall über den zahnmedizinischen Rahmen hinausgeht, sollte er auf jeden Fall eine zweite Profession hinzuziehen. Neben einer unabhängigen Beratung nach § 4 KKG durch eine insoweit erfahrene Fachkraft wäre dieses zum Beispiel ein Verweis des Kindes zu einer weiteren Untersuchung an einen Kinderarzt, eine Kinderklinik oder eine Kinderschutzgruppe.
Wichtig ist, dass sich alle beteiligten Disziplinen im Kinderschutz (Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Pädagogik und Justiz) in ihrer Rolle, ihren Handlungsmöglichkeiten und ihrer Expertise respektieren und mit dem Ziel kooperieren, Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung als solche zu erkennen, festzustellen und zu beenden.
Damit eine solche Zusammenarbeit funktioniert, wäre es wünschenswert und vorteilhaft, wenn Wege bereits im Vorfeld abgesprochen und einvernehmlich geregelt sind. Habe ich Kontakte zu den Kinderärzten in meiner Umgebung? Kenne ich die nächste Kinderklinik oder Kinderschutzgruppe? [https://www.dgkim.de/kinderschutzgruppen] In einem konkreten Fall muss dabei jedoch unbedingt beachtet werden, dass vor einer Kontaktaufnahme mit diesen Stellen eine Einwilligung der Personensorgeberechtigten vorliegen muss. Vermutlich wird es in Verdachtsfällen einer Misshandlung nicht so schwer sein, eine solche Einwilligung zu erhalten, da das Kind in der Absicht in der Zahnarztpraxis vorgestellt wurde, dass ihm geholfen wird. Hier könnte die Bitte um eine Einwilligung zu einer Kontaktaufnahme mit einem Kinderarzt oder einer Kinderschutzgruppe mit dem Hinweis erfolgen, dass weitere Verletzungen, die außerhalb des Mundes und des Gesichts liegen, erfasst und behandelt werden können.
Entscheidend ist auch zu wissen: Der Zahnarzt und sein Team sind nicht dafür verantwortlich, die Diagnose Misshandlung oder Vernachlässigung zu stellen. Der gesetzliche Auftrag zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt. Letztlich entscheidet das Gericht auf der Grundlage fundierter und transparenter medizinischer Abwägung einer klinischen Konstellation sowie unter Berücksichtigung familiärer und sozialer Aspekte. Sperhake und Herrmann [2008] formulierten es wie folgt: Ärzte/-innen haben als Gutachter/-in und als Wissenschaftler/-in die Pflicht, die medizinischen Voraussetzungen für eine solche Entscheidung unparteiisch beizutragen. Konkret besteht die Aufgabe des Zahnarztes und seines Teams darin, ihre Bedenken gegenüber den Eltern zu äußern und zu versuchen darauf hinzuwirken, dass Maßnahmen ergriffen werden, die bestehende Situation zu verändern.
Der Zahnarzt sollte jeden seiner Schritte genau dokumentieren. Bei Verdacht auf Vernachlässigung beginnt das zum Beispiel mit dem sorgfältigen Erheben der Anamnese (medizinische, familiäre, soziale Anamnese; Wann haben Eltern erste Veränderungen bemerkt? Was ist danach passiert?), dem Beachten des allgemeinen Erscheinungsbildes (Hygiene, Verhältnis zwischen Kind und Eltern) und setzt sich über genaue Befundaufzeichnungen, Zusammenfassung des Gesprächs und gegebenenfalls wörtliche Aussagen der Eltern und eventuell dem Anfertigen von Fotos (nach Einwilligung und möglichst unter Berücksichtigung der Formulare der Bundeszahnärztekammer) fort. Es soll darauf geachtet werden, Vorwürfe oder Schuldzuweisungen zu vermeiden. Gerade bei Verdacht auf Vernachlässigung ist ein „aktives Einbestellen“ erforderlich, da Termine häufig nicht wahrgenommen werden. Gründe für das Versäumen oder eine Absage des letzten Termins sollten dokumentiert werden.
Was wissen denn deutsche Zahnärzte über Kindeswohlgefährdung?
Dazu habe wir im Jahr 2009 eine Untersuchung erstellt. Ergebnis war, dass bei deutschen Zahnärzten – genauso wie in zahlreichen Umfragen bei Zahnärzten in anderen Ländern – Unsicherheiten beim Erkennen und Vorgehen eines Verdachts auf Kindeswohlgefährdung bestehen. Außerdem ist erkennbar, dass der Wunsch besteht, diese Themen sowohl in die Ausbildung zu implementieren als auch postgraduale Fortbildungsangebote dazu anzubieten. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Kinderschutzleitlinie wird es voraussichtlich ab Juni eine Kitteltaschenkarte speziell für Zahnärztinnen und Zahnärzte geben, die im Web abgerufen werden kann.
Ist denn das Ausland da weiter – und können Sie Beispiele nennen?
Die British Dental Association (BDA) hat eine spezielle Webseite entwickelt, die sich an zahnärztliche Teams, aber auch an Kinderschutzbeauftragte richtet, die mit der Praxis zusammenarbeiten. Dort gibt es systematische Fortbildungsmöglichkeiten, CME und weitere Materialien zum Thema (https://bda.org/childprotection). Andere Länder haben sich bereits an der Seite orientiert. Und auch in Deutschland gibt es gute Beispiele: So bietet etwa das Projekt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm (https://grundkurs.elearning-kinderschutz.de) einen guten Online-Kurs zum Thema Kinderschutz in der Medizin. Solche Instrumente auf breiterer Basis zu etablieren, wäre wünschenswert. Hier ist meines Erachtens die Standespolitik gefragt.
Dr. Reinhard Schilke war maßgeblich an der Erstellung des zahnmedizinischen Teils der Kinderschutzleitline beteiligt.
Die Fragen stellte Gabriele Prchala.