Die neuen Fluoridempfehlungen

Das sind die Fakten

Johannes Einwag
Wenn sich zahnärztliche Empfehlungen ändern, braucht es Zeit, bis diese flächendeckend in der Versorgungsrealität ankommen. Der Patientenkommunikation in den Praxen kommt daher eine wichtige Rolle zu. Ein vom Zahnmedizinischen Fortbildungszentrum Stuttgart (ZFZ) veranstaltetes Fluoridsymposium hat sich jetzt mit diesem Thema beschäftigt. Knapp 300 Teilnehmer waren am 16. Oktober 2019 in die Stadthalle Sindelfingen gekommen, um sich über den aktuellen Wissensstand zur Fluoridprophylaxe zu informieren.

Als erster Referent informierte Prof. Dr. Adrian Lussi, Bern, über die „Wirkungsweise von Fluorid im Rahmen der Kariesprophylaxe (Schmelz/Dentin) und der Erosionsprophylaxe“. Zähne sind neben der Pulpa aus dem sehr gut mineralisierten Schmelz und aus dem deutlich mehr organische Matrix enthaltenden Dentin und Zement aufgebaut.

Die mineralische Phase dieser Zahnhartsubstanzen ist kein reines Hydroxylapatit (HAP = Ca10 (PO4)6 OH2), sondern es handelt sich um ein kalziumarmes Biomaterial, in das andere Ionen eingebaut sind. Ein erhöhter Karbonatanteil des Dentins (5,5 Prozent) im Vergleich zum Schmelz (3 Prozent) sowie die kleinen Kristalle führen zu einer höheren Säureanfälligkeit des Dentins.

Demgegenüber kann der partielle Ersatz der OH-Gruppen im Kristallgitter durch Fluoridionen eine gewisse Stabilisierung der Apatitstruktur bewirken. Im gesunden menschlichen Zahnschmelz ist neben HAP auch Fluoridhydroxyapatit (FHAP) oder Fluorapatit (FAP) vorhanden, wobei in der äußersten Schmelzschicht weniger als 5 Prozent der OH-Gruppen des HAP durch Fluorid ersetzt sind. Bereits in einer Tiefe von 50 µm sinkt dieser Anteil weiter ab.

Der Kariesrückgang in den Industrieländern während der vergangenen Jahrzehnten beruht hauptsächlich auf der Anwendung von Fluoriden, wobei die lokale Fluoridapplikation von Bedeutung ist. Die Verwendung von fluoridhaltigen Zahnpasten steht dabei im Vordergrund. Fluoridapatit und FHAP haben nur ein geringes kariesprotektives Potenzial, die gelösten Fluoride in der Umgebung des Schmelzes dagegen sind sowohl in der Förderung der Remineralisation als auch in der Hemmung der Demineralisation wirksam.

Zieht man in Betracht, dass die Kariesabnahme im gleichen Zeitraum erfolgte, in dem auch lokale Fluoridierungsmaßnahmen verbreitet angewendet wurden, scheint die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass durch regelmäßige F--Applikation die Karies optimal gehemmt werden kann. Als Nebenwirkung ist während der Entwicklung der Zahnkronen Zahnfluorose möglich.

Eine wachsende Bedeutung haben Fluoridverbindungen auch im Rahmen der Erosionsprophylaxe. In diesem Zusammenhang stehen vor allem die „Gegenionen“ des Fluorids (etwa das Zinn im Zinnfluorid) im Mittelpunkt.

Fluoride in der Anwendung

„Wirksame und sichere Anwendung fluoridhaltiger Produkte – allgemeine Grundlagen“ lautete der Titel des Vortrags von Prof. Dr. Elmar Hellwig aus Freiburg. Fluorid kommt ubiquitär vor und wird mit dem Trinkwasser und der Nahrung täglich aufgenommen. Dabei verschlucken Erwachsene circa 0,5 bis 0,8 mg Fluorid pro Tag. 60 bis 80 Prozent des verschluckten Fluorids gelangen in den Blutkreislauf und bauen sich in die Knochen ein. Auch sich entwickelnde Zähne reichern an der Oberfläche Fluorid an.

Beim Durchbruch der Zähne besitzen diese an der Schmelzoberfläche eine Fluoridkonzentration zwischen 300 bis 500 ppm, die jedoch offensichtlich nicht ausreicht, um Karies zu verhindern. Man geht daher heute davon aus, dass Fluorid zusätzlich posteruptiv an der Zahnoberfläche vorliegen muss, um eine kariespräventive Wirksamkeit zu entfalten.

Fluoride

Probleme in der Patientenkommunikation

Die Aktualisierung von Leitlinien ist ein zeitraubender Prozess und muss von zahlreichen Fachgesellschaften konsentiert werden. Beim anstehenden Update der inzwischen abgelaufenen Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“ aus dem Jahr 2013 dürfte das nicht anders sein, wobei die Diskussionen mit den Pädiatern um die Tablettenfluoridierung vermutlich unverändert schwierig bleiben werden. 

Auf der zahnärztlichen Seite ist mit der nach wie vor hohen Prävalenz der Milchzahnkaries in den vergangenen Jahren der Handlungsdruck gewachsen. Im Sommer 2018 haben deshalb die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ), die Deutsche Gesellschaft für Präventivzahnmedizin (DGPZM), die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), der Bundesverband der Zahnärztinnen und Zahnärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG) und die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) die Initiative ergriffen und neue Fluoridempfehlungen veröffentlicht. Kernpunkt war die Erhöhung der Fluoridkonzentration in Kinderzahnpasten, mit der die Karies an Milchzähnen zurückgedrängt werden soll.

Ein Jahr nach Veröffentlichung der neuen Fluoridempfehlungen ist in der Öffentlichkeit immer noch Verunsicherung zu spüren. So verweist ein Bericht von Ökotest – „Fluoridtabletten für Kinder im Test: Das sind die besten Präparate“ – vom August 2019 noch auf die veraltete Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“ und betont die Differenzen zwischen Zahnmedizinern und Pädiatern. Auch viele Patienteninformationen sind noch nicht auf dem aktuellen Stand. Hersteller von Fluoridzahnpasten für Kinder entwickelten unterschiedliche Produkte – mal auf der Basis der abgelaufenen Leitlinie, mal nach den neuen Empfehlungen.

Von der entstandenen Unsicherheit könnten nicht zuletzt die Fluoridgegner und Hersteller fluoridfreier Zahnpasten profitieren. Das würde den Bemühungen der Fachgesellschaften und der Zahnärzteschaft um mehr Mundgesundheit im Milchgebiss diametral entgegenlaufen. Was daher aktuell benötigt wird, ist Sicherheit und Klarheit in der Patientenkommunikation, nicht zuletzt durch ein einheitliches „Wording“! „Aufklärung tut Not, um Schaden von der Zahngesundheit der Bevölkerung abzuwenden!“

Johannes Einwag

In zahlreichen internationalen Leitlinien wird die Evidenz für die Fluoridwirkung beschrieben. Dabei wird insbesondere auf die Wirkung und Wirksamkeit fluoridhaltiger Zahnpasten Bezug genommen. In einem neuen systematischen Review der Cochrane Library wird deutlich unterstrichen, wie wichtig das Zähneputzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta ist. Unabhängig davon kann bei kariesaktiven Patienten die Applikation von fluoridhaltigen Gelen, Lacken oder Mundspüllösungen empfohlen werden. Insbesondere bei Patienten mit Wurzelkaries zeigt sich, dass die tägliche Anwendung hochkonzentrierter Zahnpasten zur Prävention beziehungsweise Verhinderung der Progression zu empfehlen ist. Dies gilt auch für Patienten mit erhöhtem Kariesrisiko aufgrund von festsitzenden kieferorthopädischen Geräten. Allerdings zeigt sich auch, dass bei hohem Zuckerkonsum die Applikation von fluoridhaltigen Kariostatika die Karies nicht vollständig verhindern kann. Im Hinblick auf immer wieder behauptete schädliche Nebenwirkungen einer Fluoridapplikation zeigen zahlreiche Studien, dass Fluorid keine Allergien auslöst, kein ätiologischer Faktor für Tumorerkrankungen oder Allgemeinerkrankungen ist, nicht die Sterblichkeitsrate erhöht und somit in den empfohlenen Dosierungen unbedenklich angewandt werden kann.

Fluoride für Kinder

Dies gelte selbstverständlich auch für die Anwendung fluoridhaltiger Produkte bei Kindern, ergänzte Prof. Dr. Katrin Bekes, Wien, und präsentierte in ihrem Referat „Wirksame und sichere Anwendung fluoridhaltiger Produkte – Spezielle Maßnahmen bei Kindern“ die neuen Fluoridierungsempfehlungen für diese Altersgruppe.

Für Kinder gibt es seit dem vergangenen Jahr neue Empfehlungen für den Gebrauch fluoridhaltiger Zahnpasten, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ), der Deutschen Gesellschaft für Präventive Zahnmedizin (DGZPM) sowie weiterer Experten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden verabschiedet wurden.

Diese sehen vor, dass bereits ab dem Durchbruch des ersten Milchzahnes zweimal täglich mit einer erbsengroßen Menge einer Zahnpasta mit 500 ppm oder mit einer reiskorngroßen Menge einer Zahnpasta mit 1.000 ppm geputzt wird. Vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr sollte dann zweimal täglich eine Zahnpasta mit 1.000 ppm in einer erbsengroßen Menge verwendet werden.

Anlass für die Neustrukturierung ist die Tatsache, dass der Kariesrückgang im Milchgebiss im Vergleich zu den bleibenden Zähnen deutlich geringer ausfällt. Zudem werden international schon längst Zahnpasten mit höherer Fluoridkonzentration für Kinder bis zum sechsten Geburtstag empfohlen.

Eine weitere Neuerung gibt es im Bereich der Applikation von Fluoridlacken im Kleinkindalter. Das Auftragen dieser Lacke ist für Kinder zwischen dem 6. und dem 34. Lebensmonat seit diesem Jahr eine Kassenleistung geworden. Der Anspruch besteht zweimal je Kalenderhalbjahr, unabhängig davon, ob bei den Kindern eine (initial-)kariöse Läsion vorliegt. Kinder zwischen dem 34. Lebensmonat und dem vollendeten 6. Lebensjahr haben weiterhin unverändert Anspruch auf Fluoridierung bei hohem Kariesrisiko.

Prof. Dr. Johannes EinwagDirektor des Zahnmedizinischen Fortbildungs- Zentrums Stuttgart (ZFZ Stuttgart)

Broschüre zur Patienteninformation

Das ZFZ hatte bereits im Vorfeld des Symposiums die Teilnehmer gebeten, die häufigsten Fragen ihrer Patienten und des Praxisteams zum Thema Fluoride mitzuteilen. Dutzende Fragen gingen ein, wurden gesichtet, in fünf Bereiche (Grundlagen, Wirkungsweise, Nutzen, Risiken und Anwendung) strukturiert, beantwortet und in einer Broschüre für den Praxisalltag zusammengefasst.

Diese Broschüre mit dem Titel „Fluoride – was ich schon immer fragen wollte“ kann voraussichtlich ab Frühjahr 2020 als Patienteninformation bestellt werden. Informationen über www.zfz-stuttgart.de

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Dr. Johannes Einwag

Direktor des Zahnmedizinischen Fortbildungs- Zentrums Stuttgart (ZFZ Stuttgart)

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