Braindrain bei Gesundheitsberufen

Das Wissen wird regelrecht abgesaugt

Die Migration von Fachkräften im Gesundheitswesen ist ein Problem. Weltweit. Die Einwandererstaaten profitieren: Sie gewinnen Manpower und Expertise. Die Abwandererstaaten bluten aus: Sie kämpfen mit der Versorgung ihrer Bevölkerung und Fachkräftemangel. Auch im zahnärztlichen Bereich: Der Zahnarztberuf zählt EU-weit zu den mobilsten Berufen.

Braindrain – so nennt sich der Ausverkauf von Wissen, wenn gut ausgebildete Fachkräfte ihr Land verlassen, um sich anderswo auf der Welt eine bessere Existenz aufzubauen.

  • So warben die USA unter Präsident George W. Bush gezielt Ärzte und Krankenschwestern aus Kuba ab, Havanna wehrte sich gegen den Braindrain im eigenen Land. Mit Präsident Barack Obama wurde das Programm beendet.

  • Aus den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien machen sich immer mehr gut ausgebildete Fachkräfte auf den Weg nach Europa, manche werden gezielt von französischen Vermittleragenturen abgeworben. Algerische Ärzte arbeiten in Europa und in den Golfstaaten.

  • Länder südlich der Sahara beklagen hohe finanzielle Verluste, die sie in die Ausbildung von Ärzten investiert haben, die ihren Heimatländern den Rücken kehren.

Die Universität Adelaide in Australien wies in einer breit angelegten Studie 2015 nach, dass ein großer Teil der Zahnärzte in Down Under aus Immigranten besteht.

Die meisten von ihnen kommen aus Südostasien oder Afrika. Viele dieser Länder sind mit sozio-ökonomischen und politischen Problemen konfrontiert, deswegen suchen die auswandernden Zahnärzte nach neuen Perspektiven.

Ärztemigration steigt um 60 Prozent

Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass in den OECD-Ländern die Migration von Ärzten und Gesundheitsberufen innerhalb der vergangenen zehn Jahre um rund 60 Prozent gestiegen ist. Negativ betroffen sind vor allem wirtschaftlich schwache Länder mit niedrigerem Einkommen und ohnehin schon fragilen Gesundheitssystemen. Oft locken im Ausland neben einer besseren Bezahlung und Karrierechancen auch mehr Rechtsstaatlichkeit und umfassende Fortbildungsmöglichkeiten.

Ein Ranking listet die mobilsten Berufe in der EU: Ärzte, Krankenpfleger, Lehrer, Physiotherapeuten – und Zahnärzte. Die EU-Migrationsstatistik* gibt auch Auskunft darüber, wo migrierende Fachkräfte ihre Qualifikation erworben haben und in welchen Ländern diese anerkannt wird.

Zwischen 2010 und 2019 wurden beispielsweise 19 Prozent der anerkannten Abschlüsse migrierender Zahnärzte aus Rumänien, 18 Prozent aus Spanien, knapp 10 Prozent aus Deutschland, fast 7 Prozent aus Portugal, 6 Prozent aus Polen und gut 40 Prozent aus anderen Ländern verzeichnet. Die Top Five der Länder, die Abschlüsse anerkannt haben, waren im gleichen Zeitraum das Vereinigte Königreich (20 Prozent), Italien (17 Prozent), Belgien (12 Prozent), Schweiz (11 Prozent), Niederlande (10 Prozent) und alle weiteren Länder (30 Prozent).

„Ethik spielt hier eine große Rolle!“

Wie beurteilt die Bundeszahnärztekammer das Problem der weltweiten Migration von Fachkräften und Zahnärzten und was bedeutet es für die Herkunfts- und für die Gastländer?

Dr. Peter Engel: Die weltweite Migration von Fachkräften ist zuerst nichts Negatives. Sie ermöglicht einen Erfahrungsaustausch zwischen Kolleginnen und Kollegen, eröffnet gute Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten und trägt dazu bei, Forschung innovativ zu gestalten und einen globalen Wissenstransfer zu ermöglichen.

Schwierig wird es allerdings, wenn in Ländern ein anhaltender Fachkräftemangel entsteht, da viele der Zahnärzte dauerhaft in andere Länder emigrieren und diese dann dem lokalen Gesundheitssystem fehlen.

Für die Herkunftsländer bedeutet dies langfristig eine verschlechterte Versorgungslage. Die Qualität der Patientenbetreuung ist schwierig aufrechtzuerhalten und die Aus- und Weiterbildung gestaltet sich kritisch aufgrund der abgewanderten Fachkräfte. Die Gastländer stehen vor der Herausforderung, die Fachkräfte zu integrieren, sowohl auf beruflicher wie auf gesellschaftlicher Ebene.

Inwieweit spielen ethische Aspekte eine Rolle?

Ethik spielt hier eine große Rolle. Dies zeigt auch die in diesem Jahr verabschiedete politische Stellungnahme der FDI zu diesem Thema. Sowohl die Herkunfts- wie die Gastländer sind aufgefordert, sich an die Menschenrechte und den Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften der Weltgesundheitsorganisation zu halten. So sollen die Herkunftsländer Maßnahmen ergreifen, die einen Verbleib der Fachkräfte in diesen Ländern fördert. Dies umschließt eine angemessene Bezahlung, Investitionen in medizinische Infrastrukturen und das Angebot von qualitativ hochwertigen Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Gastländer sind angehalten, die ausländischen Fachkräfte nicht zu diskriminieren und sie ihrer Ausbildung nach adäquat einzusetzen.

Welche Probleme ergeben sich für die Versorgung aus Sicht der EU?

Die zunehmende Deregulierung und Vereinfachung von Berufszugängen erleichtert die Mobilität von Fachkräften innerhalb der europäischen Länder. Das bedeutet auf der einen Seite zwar einen Gewinn für den fachlichen Austausch und das interkulturelle Lernen. Andererseits werden damit aber auch einseitige Wanderungsbewegungen von Fachkräften von zumeist Ost- und Südosteuropa nach Westeuropa befeuert.

Es muss die Frage gestellt werden, ob dies in unser aller Interesse sein kann, wenn in den Herkunftsländern ein dauerhafter Braindrain entsteht und dadurch die lokale (zahn-)medizinische Versorgung gefährdet wird. Es muss überlegt werden, ob nicht höhere Berufszugangsregelungen zielführender für die Sicherstellung von Versorgungsqualität und den Patientenschutz in von Abwanderung betroffenen Ländern wären.

Die Fragen stellte Gabi Prchala.

Doch wer als Fachkraft aus der eigenen wirtschaftlich schwachen Heimat in wohlhabendere Länder zieht, hinterlässt zu Hause eine Lücke. Auch in der Zahnmedizin kann man beobachten, dass in großem Maße Wissen abgesaugt wird. Deshalb hat die Weltzahnärzteorganisation FDI auf ihrer diesjährigen Generalversammlung im September in San Francisco in einem aktualisierten Positionspapier mehr Transparenz gefordert, mehr Fairness, die Einhaltung ethischer Grundsätze und die nachhaltige Förderung von Gesundheitssystemen in Entwicklungsländern.

Die FDI hofft, mehr Einfluss auf die Meinungsmacher im Gesundheitswesen und zahnärztliche Organisationen zu gewinnen. Wichtig sei, dasss die betroffenen Länder Strategien entwickeln, um Zahnärzte zu halten, die negativen Effekte der Emigration abzumildern und Abwerbungsaktivitäten von profitgesteuerten Vermittlungsagenturen zu unterbinden.

 Ein weiteres Defizit: die mangelnde Datenlage. Denn die Migration von Zahnärzten und zahnärztlichem Fachpersonal wird laut FDI viel zu wenig erfasst. Der Verband ruft daher zusammen mit Fachgesellschaften und Zahnärzteorganisationen dazu auf, diese Daten zu erheben und den entsprechenden Institutionen zur Verfügung zu stellen. Auch die Forschung in diesem Bereich müsse gefördert werden, um die Gründe für Migration zu erkennen und zu verstehen.

Das Europäische Parlament hatte sich bereits im Mai 2015 ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie man den Verhaltenskodex der WHO von 2010** in der EU umsetzen kann. Das Dilemma besteht noch heute: Während das Recht auf berufliche Mobilität im Binnenmarkt ausdrücklich begrüßt wird, stellt es die Länder, die von der Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte bedroht sind, vor ein Problem.

Verlierer- und Gewinnerländer

Verliererländer liegen vor allem in Südeuropa – Spanien, Portugal oder Griechenland – sowie in Mittel- und Osteuropa – Polen, Rumänien, Bulgarien und die Balkanländer. Gewinnerländer sind Deutschland, Skandinavien und – zumindest bis zu den Brexitdiskussionen – das Vereinigte Königreich.

Ein großes Problem ist das mangelnde Gleichgewicht von Investitionen in die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften einerseits und dem Recht auf Mobilität der Fachkräfte andererseits. Letztlich kommen durch die Migration aus ärmeren in reichere Länder Einkommensunterschiede zustande, die eine geografische Fehlverteilung von Gesundheitsfachkräften in der EU noch weiter verschärfen. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten daher ihre Personalplanung im Gesundheitsbereich an der Deckung des Bedarfs durch inländische Fachkräfte ausrichten. Die EU will betroffene Länder bei der Bindung ihrer Gesundheitsfachkräfte unterstützen, um wachsende Ungleichheiten zu verhindern und den Zugang zu medizinischer Versorgung sicherzustellen.

Ungeachtet dessen findet die Migration von Fachkräften in Europa, insbesondere im Gesundheitsbereich, weiter in breitem Maße statt:

  • Rumänische und bulgarische Ärzte, deren Approbation mit Studienabschluss innerhalb der EU anerkannt sind, kommen nach Deutschland und arbeiten in Kliniken oder in ländlichen Regionen, um den Ärztemangel aufzufangen. Die hoch qualifizierten Fachkräfte wurden im Heimatland ausgebildet und fehlen jetzt dort in der medizinischen Versorgung.

  • Auch die Schweiz, Belgien oder Frankreich sind beliebte Auswanderungsländer für osteuropäische, vor allem rumänische Ärzte.

  • Deutsche Ärzte wandern aus, etwa in die Schweiz. Und Mitte der 2000er-Jahre erfolgte eine große Abwanderungswelle nach Norwegen, wo die Mediziner sich bessere Arbeitsbedingungen erhofften.

  • Inzwischen interessieren sich auch angehende deutsche Zahnmediziner für ein Studium in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Ob sie aber nach dem Abschluss dort bleiben, ist fraglich. Wenn sie das Land verlassen, würden sie freilich zum Fachkräftemangel dort beitragen.

  • Auch aus Nicht- oder Noch-nicht-EU-Ländern wie Kosovo oder Albanien kommen Ärzte nach Westeuropa.

  • Gerade in jüngster Zeit rückte in Deutschland immer wieder der Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal in den Fokus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn startete medienwirksame Initiativen im Kosovo, in Mexiko und auf den Philippinen, um geeignete Fachkräfte anzuwerben.

Für Deutschland gilt: In der neuen Zahnärztlichen Approbationsordnung (ZapprO) ist jetzt geregelt, das deutschlandweit einheitliche Vorgaben zur Gleichwertigkeit eingeführt werden sollen. Zahnärzte, die nach Deutschland kommen, können also hierzulande arbeiten, wenn sie ihre Gleichwertigkeitsprüfung bestanden haben und die geforderten deutschen Sprachkenntnisse aufweisen.

 * Link zur aktuellen Migrationsstatistik: ec.europa.eu/growth/tools-databases/regprof/index.cfmranking&b_services=false9

** Bereits 2010 hatte die WHO einen Verhaltenskodex verabschiedet: Mit dem „WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel“ verpflichteten sich die Mitgliedsländer auf freiwilliger Basis, bei der Anwerbung von Gesundheitsfachkräften ethische Prinzipien zu beachten und kein Personal aus wirtschaftlich schwachen Regionen oder Entwicklungsländern abzuziehen. Auch die deutsche Bundesregierung bekennt sich zu dem Code of Practice, er bildet zudem die Basis des FDI-Positionspapiers.

 

Aus der FDI-Stellungnahme

Die FDI fordert alle Regierungen gemeinsam mit ihren nationalen Zahnärzteverbänden auf, ...

  • darauf zu achten, dass eine angemessene Anzahl von Zahnärzten ausgebildet wird und dass landesweit eine angemessene Zahl zahnärztlicher Teams unter Berücksichtigung vorhandener Ressourcen zur Verfügung steht;

  • politische Maßnahmen und Strategien zu fördern, die den Verbleib von Zahnärzten in ihren Ländern unterstützen;

  • Strategien zu fördern, um die schädlichen Auswirkungen der Auswanderung von Zahnärzten aus ihren Heimatländern zu verringern.

Die Regierungen in den Aufnahmeländern sind aufgefordert, ...

  • eingewanderte Gesundheitsfachkräfte nicht zu diskriminieren;

  • dafür zu sorgen, dass eingewanderte Fachkräfte in der Lage sind, die qualitativ hochwertige Behandlung durchzuführen, die den im Aufnahmeland festgelegten Standards entspricht.

Die zugewanderten Zahnärzte sind aufgefordert, ...

  • die Landessprache zu lernen, damit sie zur Kommunikation mit ihren Patienten in der Lage sind, und sich mit örtlichen Gepflogenheiten und Traditionen auseinanderzusetzen;

  • sich dass Wissen und die Fähigkeiten anzueignen, die im Aufnahmeland erwartet werden;

  • alle Vorschriften und Regelungen zu akzeptieren, die auch für die einheimischen zahnmedizinischen Fachkräfte gelten.

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