Datenschutzabbau als Versorgungsinnovation
Betrachtet man all die Gesetze und Gesetzessentwürfe im Gesundheitswesen der letzten 20 Jahre, würde ich mir für das Thema Digitalisierung mittlerweile mehr persönliche Vergesslichkeit wünschen. So etwas wie selektiver BMG-Digital-Alzheimer wäre vielleicht nicht das Schlechteste. Mein Blutdruck bliebe moderat und ich könnte bei jedem Digitalthema, das der beamteten Gedankenbrutstätte entspringt, immer wieder unbelastet beginnen.
Doch leider ist das Gegenteil der Fall! Und so erreicht mein Blutdruck schneller kritische Höchststände als Jens Spahn das Adenauer-Mantra aufsagen kann: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“. Nur zur Erinnerung, sein Geschwätz lautete: „Der Patient ist Herr seiner Daten“, gerne noch garniert mit „immer und überall“.
Aus und vorbei, das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG)* setzt neue Maßstäbe. War der Datenschutz trotz der gefühlten Verschärfung durch die Datenschutz-Grundverordnung DSGVO schon immer mehr Lattenzaun als Mauer, wird mit den neuen Vorschlägen zur Datennutzung aus Lattenzäunen ein Hauch von Nichts. Jetzt geht es nämlich um Höheres: die Sozialforschung, für die man natürlich Daten der Krankenversicherten wie Alter, Geschlecht, Wohnort und Behandlungen braucht.
Neu ist, dass der Versicherte seine Daten ungefragt zu liefern hat. Punkt – eine Widerspruchs-lösung hat der Gesetzeber nicht vorgesehen. Auch die Lieferkette hat es in sich.
Die Krankenkassen sollen die pseudonymisierten Daten ihrer Versicherten an den GKV-Spitzenverband übermitteln, dieser wiederum an das sogenannte „Datenforschungszentrum“, wo sie zentral(!) gespeichert werden und der Forschung zu Diensten sind. In den ersten Entwürfen zum DVG fand sich noch die Regelung, dass die Kassen Klarnamen an den GKV-SV schicken, die dann dort pseudonymisiert werden sollten.
Das war dann wohl doch etwas zu heikel (oder zu offensichtlich?), und so werden nun vor der Weitergabe die Kassen statt der Krankenversichertennummer oder eines entsprechenden Versichertenkennzeichens „ein versichertenbezogenes Lieferpseudonym verwenden, welches eine krankenkassenübergreifende eindeutige Identifikation des Versicherten innerhalb des Berichtszeitraums ermöglicht“.
Wo bitte ist da der faktische Unterschied beziehungsweise die Verbesserung durch den Wechsel von Klardaten auf ein versichertenbezogenes Lieferpseudonym? Zumindest klingt es ein wenig mehr nach Datenschutz. Welche Forschung mit diesen Daten und vor allem von wem geleistet werden soll, ist wohlweislich nicht definiert worden. Wird dieses Gesetz so beschlossen, ist die zentrale Speicherung zwangsweise erhobener Gesundheitsdaten von 73 Millionen gesetzlich Versicherten perfekt. Bei der Diskussion um das Organspendegesetz hatte man den Bürgern immerhin noch eine Wahlmöglichkeit zugestanden, wenn auch nur mit einer komplizierten Opt-out-Regelung.
Der Patient kann nicht Herr seiner Daten sein, wenn er gleichzeitig zur Zwangslieferung sensibelster persönlicher Gesundheitsdaten – wenn auch „nur“ zur Forschung – verdonnert wird. Diese fundamentale Kehrtwende hätte einer breiten und einer Demokratie würdigen Diskussion bedurft. Statt dessen wird sie en passant in einem Gesetz „versteckt“. Aber vielleicht ist es ja auch nur Weitsicht des Ministers, der den Forschungsstandort Deutschland gegenüber den großen Datenkonzernen aus den USA stärken will, frei nach dem Motto: „Gleiche Daten für alle“.
Immerhin verfügen Google & Co. dank der hochgelobten Apps über umfassende Kenntnisse. Ob Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Risikofaktoren, Gesundheitsverhalten – alle diese Daten sind bereits vorhanden und es werden stetig mehr, dank immer häufiger genutzter Apps wie ADA oder Vivy. Insofern würde Spahn sogar eine tatsächliche „Lücke“ schließen.
A propos Lücke: Warum sind eigentlich die Privatversicherten nicht dabei? Statt angeblicher Zweiklassenmedizin haben wir zukünftig realen Zweiklassendatenschutz. Aber an dem kann man sich ja dann mit einem weiteren Gesetz abarbeiten. Für allfällige Diskussionen bietet sich der Hinweis auf die Autoversicherer an, denn die haben bereits Telematik(!)tarife im Angebot.
Beworben mit erheblichen Einsparungsmöglichkeiten findet sich im Kleingedruckten der Hinweis, dass sich die Kosten auch erhöhen können – bei risikobehaftetem Verhalten. Aber vielleicht will die Gesundheitspolitik ja auch genau dahin …
Dr. Uwe Axel Richter
Chefredakteur
* Der Bundestag stimmte nach Redaktionsschluss am 7. November über den Gesetzentwurf zum DVG ab.