Digitalisierung des Gesundheitswesens

Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft kommen

mg
Während hier die Digitalisierung im Gesundheitswesen vor allem hinsichtlich Datenschutz und Haftung problematisiert wird, rollt in den USA und in China die nächste große Welle an, prognostiziert die Unternehmensberatung Roland Berger nach einer Befragung von 400 Experten. Der Umbruch ist in vollem Gange.

Aktuell zeigt die Digitalisierung im europäischen Gesundheitswesen ein uneinheitliches Bild – sowohl mit Blick auf die Dynamik als auch beim Blick auf die Akteure, konstatiert die Unternehmensberatung Roland Berger in ihrem Bericht „Future of Health, Eine Branche digitalisiert sich – radikaler als erwartet“.

USA und China: eine Blaupause für Europa

So legen die führenden Länder USA und China mit ihren Entwicklungen eine Blaupause für Europa, denn mit aller Macht drängen die fünf großen Konzerne Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft (kurz: GAFAM) in den Gesundheitsbereich. Der Markt mit Apps auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI), die Kunden Selbstdiagnose, Therapie oder Krankheitsbegleitung anbieten, wächst demnach rasant. Während 2018 das weltweite Volumen bei 1,3 Milliarden Euro lag, wird für 2025 ein Marktvolumen von 16 Milliarden Euro allein für KI erwartet, schätzt das Unternehmen mit Verweis auf das US-Marktforschungsinstitut „Zion Market Research“.

Generell beobachten die Autoren steigende Investitionen und Konzentrationsprozesse in der Branche: So fanden bereits im ersten Quartal 2019 371 Transaktionen statt, davon 78 in Europa. Zu den spektakulärsten zählten die Übernahme des Krankenversicherers „Aetna“ durch die US-Drogerie- und Apothekenkette „CVS“ (63 Milliarden Euro) und die Übernahme der Online-Apotheke „PillPack“ durch Amazon (675 Millionen Euro).

Amazon schafft schon mal eine Testumgebung

Ende Oktober legte Amazon noch einmal nach und kaufte für eine unbekanne Summe das 2014 gegründete US-Telemedizin-Start-up „Health Navigator“. Solche Zukäufe sollen neben der Gründung der eigenen Krankenkasse „Amazon Care“ nur zur medizinischen Versorgung eines Teils seiner mehr als 600.000 Angestellten dienen, teilt der Online-Händler mit. US-Medien gehen jedoch davon aus, dass der Versandhandelgigant so eine Testumgebung aufbaut, in der er Erfahrungen für größere Projekte sammeln will.

Umfangreiche Investitionen gab es zuletzt auch bei den US-Unternehmen „Collective Health“ (Krankenversicherer, 395 Millionen Euro), „Tempus“ (Datenbankbetreiber für klinische Informationen, 473 Millionen Euro) sowie „Encoded Therapeutics“ (Entwickler von viralen Therapien bei genetischen Erkrankungen, 95 Millionen Euro). Die bedeutendste Akquise im europäischen digitalen Gesundheitsbereich stellte 2018 die Übernahme des auf die Auswertung von Krebsdaten spezialisierten Unternehmens „Flatiron“ durch das Pharmaunternehmen Roche dar – zu einem Preis von 1,7 Milliarden Euro.

Die nationalen Bemühungen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens nach dem Vorbild Estlands wertet Roland Berger als hinreichendes Indiz für einen bevorstehenden, grundlegenden Wandel. Finnland, Aserbaidschan und Namibia entwickelten derzeit ähnliche Konzepte. Im Fokus steht indes der ungezügelte Innovationsdruck in China und den USA. Beispielhaft wird das chinesische Unternehmen „Ping An Healthcare and Technology Company Limited“ vorgestellt: Das an der Börse notierte „Ping An Good Doctor“ will ein eigenes Gesundheits-Ökosystem aufbauen, um Hunderttausenden chinesischen Familien Komplettpakete aus medizinischen und gesundheitlichen Leistungen anzubieten. Dazu gehören dann „Online-Beratungen rund um die Uhr, eine Zweituntersuchung durch anerkannte Ärzte, die Vorbereitung von Klinikaufenthalten, Gesundheitsmanagement, der Umgang mit chronischen Erkrankungen und weitere Leistungen“. Wang Tao, Vorstandschef von Ping An Good Doctor, hofft, dass so „jede Familie ihren eigenen Hausarzt, jeder Einzelne eine Elektronische Patientenakte und jeder einen Plan für sein eigenes Gesundheitsmanagement haben kann“.

Persönliche Arztbeziehung – in China virtuell per App

Interessant ist, dass das Unternehmen den innovativen Ansatz für sein chinesisches Hausarztmodell in der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient sieht.

Einer Beziehung, „die von Vertrauen, Wissen und einer langfristig angelegten Verbundenheit getragen wird und die Branche in ein Zeitalter führt, das von Hausärzten geprägt ist“. Die Botschaft mag für deutsche Ohren wenig innovativ klingen, Tatsache ist aber, dass die Chinesen ein anderes Verständnis von dieser „persönlichen Beziehung“ haben. Denn Ping An realisiert die Konsultationen mithilfe eines computeranimierten, virtuellen Mediziners via App. Und diese wird massenhaft genutzt: Ende Juni hatte das Unternehmen mehr als 289 Millionen registrierte beziehungsweise 62,7 Millionen aktive Nutzer, die in der ersten Jahreshälfte täglich durchschnittlich 650.000 Anfragen an das KI-gestützte Diagnosesystem stellten. Dies vergibt auch Überweisungen zu Fachärzten, stellt Rezepte aus und liefert auf Wunsch die Medikamente über die eigene Onlineapotheke innerhalb einer Stunde aus. Ein Angebot, das Amazongründer Jeff Bezos mit seinen Unternehmenszukäufen offenbar ebenfalls anstrebt.

Doch auch die anderen vier großen Tech-Konzerne engagieren sich stark im Gesundheitsbereich: Eine Forschungsabteilung von Facebook arbeitet mit der Radiologie-Abteilung einer New Yorker Universitätsklinik an einem Forschungsprojekt zur KI-gestützten Diagnose bildgebender Verfahren. Googles Tochterunternehmen „Verily“ gab im Mai eine strategische Allianz mit den Pharmariesen Novartis, Otsuka, Pfizer und Sanofi bekannt, „um neue klinische Forschungsprogramme zu entwickeln, zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Onkologie bis hin zur psychischen Gesundheit“. Gleichzeitig arbeitet Verily in einem Joint Venture mit dem weltweit tätigen US-Pharmazie- und Konsumgüterhersteller Johnson & Johnson an der Entwicklung von OP-Robotern. Erste Produkte sind für Ende 2020 angekündigt. Und während Apple mit renommierten Unikliniken an den Themen Tracking, Auswertung von auditiven Umgebungsinformationen und Analyse von Bewegungs- sowie Herz-Kreislauf-Daten via Apple Watch forscht, lotet Microsoft für seinen Clouddienst „Azure“ seine Marktchancen bei der Speicherung von Gesundheitsdaten aus.

KI in Deutschland

Erste Software für Krebs-Screening zugelassen

Das Berliner Start-up „MX Healthcare“ hatte Ende Oktober bekanntgegeben, dass seine KI-Software Vara die CE-Kennzeichnung zum Einsatz in der Brustkrebsvorsorge erhalten hat. Somit könnte Vara bald bei der Teilautomatisierung von Brustkrebs-Screenings zum Einsatz kommen. Die Idee: KI filtert sicher negative Befunde – bis zu 97 Prozent aller Mammogramme sind unauffällig und bräuchten dann nicht mehr beurteilt werden –, damit Radiologen Zeit für die übrigen Aufnahmen gewinnen.

Angesichts des zunehmenden Zeitdrucks sei dies für alle Radiologen weltweit eine anstrengende und zugleich fehleranfällige und für die Gesundheitssysteme eine kostenintensive Aufgabe, heißt es. Und der Trend weg von der klassischen 2-D-Mammografie hin zur Tomosynthese erhöhe zwar die Aussagekraft von Screenings – aber auch die zu befundende Bilderanzahl. „Krankenversicherer zahlen heutzutage Millionen für sich wiederholende Fließbandarbeiten. Vara kann das für einen Bruchteil der Kosten tun“, erklärt MX-Healthcare-Chef Jonas Muff. Die Vision des Unternehmens ist nach eigenen Angaben, durch diese Kostenreduktion die Brustkrebsvorsorge weltweit erschwinglich zu machen.

Nach der Zulassung geht die Software jetzt in den Vertrieb. MX Healthcare hat sich bereits mit mehreren Radiologie-Gruppen und Tele-Radiologie-Anbietern in ganz Europa zusammengeschlossen, um Vara in nationalen Screening-Programmen einzuseten. Derzeit ist das Programm in fünf europäischen Ländern im Einsatz. In Deutschland laufen zurzeit Gespräche mit verschiedenen Krankenkassen, um die Software zunächst in selektivvertraglichen, regionalen Settings zum Einsatz zu bringen, berichtet das Unternehmen.

Nach Einschätzung von Experten ist das Engagement der Konzerne verständlich: Sie gehen im Mittel davon aus, dass das Marktvolumen 2025 für „Digital Health“ allein in Deutschland bei rund 38 Milliarden Euro liegen könnte. Seriöse Referenzwerte sind kaum zu finden, man findet lediglich Prognosen für „eHealth“ im deutschen Gesundheitswesen. So bezifferte die „Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland für Außenwirtschaft und Standortmarketing“ (GTAI) den Umsatz in diesem Bereich für 2017 mit 400 Millionen Euro, den einzigen Wert für 2018 (491Millionen Euro) liefert „Statista“, ein deutsches Online-Portal für Statistik.

Das größte Potenzial wird dabei KI-basierten Dienstleistungen beigemessen. Hier gehen die Befragten davon aus, dass das globale Marktvolumen bis 2025 auf 16 Milliarden Euro steigt. Vergleichzahlen liefert Roland Berger nicht, der Wert scheint aber nicht völlig aus der Luft gegriffen: Der Digitalverband Bitkom schätzte im Januar 2019 das aktuelle Marktvolumen für KI in Europa auf drei Milliarden Euro und rechnet bis 2022 mit einem Anstieg auf zehn Milliarden Euro.

Das größte Anwendungspotenzial sehen die Experten in den Bereichen digitale Überwachung, Prävention sowie KI-unterstützte Diagnostik. Auf einer Skala von 1 (wenig Einfluss) bis 4 (hoher Einfluss) prognostizieren sie in allen Segmenten einen Wert über 3. Nach ihrer Einschätzung wird KI bis zum Jahr 2025 auch auf Therapieentscheidungen und -durchführungen großen Einfluss haben.

Fast 70 Prozent der Befragten rechnen laut Roland Berger damit, dass Genom-Analysen den Gesundheitsmarkt bis 2025 stark bis sehr stark verändern werden. Sie erwarten, dass bis dahin das Genom von rund 20 Prozent der Menschen typisiert ist. Auch bei der KI-gestützten Analyse bildgebender Verfahren habe sich gezeigt, „dass diese Verfahren sehr zuverlässig sind“, lautet das Fazit. Was die Arbeit verschweigt: Eine Vielzahl von internationalen Studien legt das Gegenteil nahe.

Digitale Überwachung hat mit das größte Potenzial

Für den Bereich personalisierte Medizin gehen die Fachleute davon aus, dass 2025 bereits in 30 Prozent der Fälle individualisierte Therapien zum Einsatz kommen. „Digitale Zwillinge“ – also ein auf der Grundlage seiner ausgelesenen DNA erstelltes virtuelles Abbild eines Patienten, mithilfe dessen sich simulieren lässt, wie ein menschlicher Körper auf ein bestimmtes Medikament oder eine Therapie reagiert – soll in 40 Prozent aller Fälle zum Einsatz kommen, mutmaßen die Experten. Dies entspreche in Deutschland bei rund 13 Millionen medizinischen Krankenhausbehandlungen ohne OP mehr als fünf Millionen Anwendungsfällen.

Allgemein sei davon auszugehen, dass sich Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft vor allem über Kooperationen im Gesundheitsmarkt etablieren und „bald auf Augenhöhe mit klassischen Akteuren des Gesundheitsmarktes positioniert sind“. Dabei spielen die enormen Finanzmittel und die Datenhoheit gleichermaßen eine Rolle. Dementsprechend gehen sieben von zehn befragten Experten davon aus, dass Patienten gegen finanzielle Anreize künftig ihre Gesundheitsdaten mit Versicherern teilen. Sechs von zehn glauben zudem, dass die Marktteilnehmer ihre IT-Systeme angleichen und damit die Grundlage für einen stärkeren Datenaustausch auf den Plattformen legen. Ob und wie der gesetzliche Rahmen all diese Innovationen bremst oder beschleunigt, bleibt offen. Allerdings: Dass die Gesetzgebung im Jahr 2025 den verstärkten Austausch vertraulicher Gesundheitsdaten erlauben wird, damit rechnet knapp die Hälfte der Befragten.

Zur Methodik: Zwischen März und April 2019 bat die Unternehmensberatung Roland Berger 400 Experten des Gesundheitswesens, die weitere Entwicklung der Digitalisierung der Branche einzuschätzen. Das Panel umfasste „alle relevanten Stakeholder-Gruppen entlang der Behandlungskette, darunter Patienten, Ärzte, Verantwortliche aus Kliniken, privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen sowie aus der Pharmaindustrie und Medizintechnik“. Der Großteil der Befragten stammte aus Europa (Deutschland, Österreich, Schweiz: 40 Prozent, weitere europäische Länder: 40 Prozent, andere Länder: 20 Prozent). Die Ergebnisse wurden in einer zweiten Befragungswelle in Einzelinterviews mit führenden Branchenvertretern validiert.

Fazit

Bedeutungsverlust für Ärzte, Bedeutungsgewinn für Kassen

Global betrachtet sieht die Studie auch für niedergelassene Ärzte einen großen Veränderungsdruck, weil Krankenhäuser und weltweite Telemedizinanbieter in den ambulanten Bereich drängen. Es wird geschätzt, dass bis 2025 rund 20 Prozent der ärztlichen Leistungen durch Künstliche Intelligenz ersetzt sein werden.

Was die Arzt- und Therapiewahl betrifft, werden Krankenversicherer dagegen „eine deutlich größere Rolle spielen und ihre Versicherten viel stärker als heute steuern“, vermuten fast 80 Prozent der Experten. Knapp jeder zweite Befragte rechnet außerdem damit, dass Versicherungen in sechs Jahren digitale Diagnose- und Therapieunterstützungen anbieten und die Kunden diese auch nutzen.

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