Eine philosophische Betrachtung

Vertrauen ist das Bindemittel

Giovanni Maio
Wozu braucht man eigentlich Vertrauen in der Zahnmedizin? Es würde doch reichen, etwas über die Kompetenz des Zahnarztes zu wissen, sich also Sicherheit über sein Können zu verschaffen, und dann bräuchte man doch eigentlich kein Vertrauen, gerade bei so einem Beruf, der mit viel technischem Können einhergeht – könnte man denken.

Dass die Wahrheit etwas komplexer ist, hat damit zu tun, dass man in der Zahnmedizin nicht einfach ein bestimmtes Können einkauft wie in anderen Dienstleistungsbranchen. Beim Zahnarztberuf geht es darum, dass ein Patient mit einem Beschwerdebild kommt, er aber gar nicht wissen kann, was er denn kaufen soll, weil er das als Laie nicht beurteilen kann. Deshalb geht er ja zum Arzt, um dort eben gerade nicht etwas einzukaufen, sondern um vor allen Dingen erst einmal einen guten Rat zu erhalten.

Ginge es um das Einkaufen einer bestimmten Produktionsleistung, würde es tatsächlich reichen, wenn man wüsste, dass der Anbieter dieser Leistung sein handwerkliches Können beherrscht. Der Zahnarzt ist aber gerade deswegen kein Handwerker, sondern ein handwerklich tätiger Professioneller, weil seine Grundaufgabe nicht allein im Handwerklichen zu sehen ist, sondern im Herausfinden des Vorgehens, das dem Patienten Hilfe verspricht.

Die ärztliche, das heißt wissenschaftlich begründete Beurteilung eines Befunds und die Entwicklung eines auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Behandlungsplans ist ein zentraler professioneller Arbeitsschritt der Zahnärzte. Und wegen dieses Arbeitsschritts ist der Patient darauf angewiesen, dass der Zahnarzt nicht nur handwerklich geschickt und geübt ist, sondern dass er einen guten Rat erteilen kann. Während es für das Handwerkliche nur eines technischen Könnens bedarf, ist es für das Gefühl, gut beraten zu werden, notwendig, dass der Patient seinem Zahnarzt vertraut.

Die Notwendigkeit des Vertrauens tritt also dort auf den Plan, wo der Patient gar nicht mehr beurteilen kann, ob das, was der Arzt empfiehlt, tatsächlich ein guter Rat ist oder nicht. Im Grunde ist es so, dass wir uns auf das technische Können verlassen, während wir für das Annehmen eines guten Rates Vertrauen brauchen.

Warum ist das so? Um das zu verstehen und so auch zu verstehen, warum der Zahnarztberuf ein Vertrauensberuf ist, kann es hilfreich sein, den Begriff des Vertrauens genauer in den Blick zu nehmen. Was also ist Vertrauen überhaupt und warum ist es, nicht nur in der Zahnmedizin, so essenziell?

Es bleibt ein Rest Unsicherheit

Von Vertrauen zu einem anderen Menschen lässt sich nur dort sprechen, wo etwas Unsicheres und vor allem etwas Unkontrollierbares im Raum schwebt. Vertrauen ist also eine Notwendigkeit für Situationen, die man nicht restlos kontrollieren kann. Vertrauen heißt aber auch nicht nur Nicht-Wissen, sondern Vertrauen ist eine Art Mittelzustand zwischen Nichtwissen und Wissen [Simmel, 1908, S. 393]. Wer vertraut, weiß etwas, aber er weiß, dass er keine Garantie hat. Der Soziologe Georg Simmel hat das wunderbar auf den Punkt gebracht, als er betonte, dass derjenige, der alles wüsste, kein Vertrauen bräuchte und derjenige der nichts wüsste, gar nicht vertrauen könnte [Simmel, 1908, S. 93]. Deutlich wird: Es bleibt beim Vertrauen immer ein Rest an Unsicherheit; anderenfalls wäre es kein Vertrauen, sondern eine Vereinbarung. Dem Vertrauen ist somit das bereitwillige Akzeptieren eines Wissensdefizits inhärent, es ist eine Art Unsicherheitstoleranz. Wer vertraut, akzeptiert, dass er nicht so viel weiß, dass er eine gute Leistung des anderen garantieren könnte, aber er lässt sich auch ohne diese Garantie auf die Beziehung ein, weil er darauf vertraut, dass der andere sich vertrauenswürdig verhält.

Der Vertrauende verzichtet freiwillig auf das Einholen weiterer bestärkender und versichernder Informationen [Hartmann, 2011, S. 410] und lässt sich freiwillig auf das Wagnis des Vertrauens ein. Vertrauen ist daher nicht weniger als eine Bewältigung von Unsicherheit und ein kreativer und konstruktiver Umgang mit den Grenzen des Voraussagbaren, mit den Grenzen unserer Voraussicht. Vertrauen stellt damit eine konstruktive Antwort auf die Unvermeidbarkeit von Unwissen und Undurchsichtigkeit dar. Durch das Vertrauen wird der Kontrollimperativ durch innere Ruhe ersetzt.

Eine Schneise der Sorglosigkeit

Daraus wird deutlich, dass Vertrauen in gewisser Weise ein Sprung ist, der sich über die dem Leben inhärenten Ungewissheiten hinwegsetzt. Ohne diesen Sprung könnten wir mit der grundsätzlichen Offenheit unserer Zukunft nicht zurechtkommen. Vertrauen ist die emotionale Überbrückung eines zwingenden Defizits an Wissen über die Zukunft – und die innere Disposition, dieses Wissensdefizit nicht als lähmend zu empfinden, sondern als normal.

Vertrauenkönnen heißt also, tolerant sein zu können mit unserem fragmentarischen Wissen. Vertrauen ist insofern nichts anderes als die Entproblematisierung des Nichtwissens auf dem Boden einer Grundhaltung der Zuversicht.

Wer vertraut, ist von der Überzeugung getragen, dass das weitere Einholen von Informationen nicht nötig ist. Der Sozioloege und Psychologe Uwe Laucken hat das Vertrauen einmal als „Schneise der Sorglosigkeit“ [Laucken, S. 25] treffend bezeichnet.

Die Zahnarzt-Patienten-Beziehung

Es gibt wenige Situationen, in denen sich der Mensch freiwillig einer ihm eigentlich fremden Person so rückhaltlos ausliefert wie beim Zahnarzt. Er weiß, liegt er erstmal auf dem Stuhl, gibt es kein Zurück. Die Behandlung kann er mehr schlecht als recht verfolgen, im Zweifel tut sie auch noch weh. Will er im Ernstfall die Reißleine ziehen, kann auch das zum Problem werden, denn sich zu artikulieren ist ja auch nur eingeschränkt möglich. Eine rundum fiese Sache so ein Zahnarztbesuch, sollte man meinen. Warum also sprechen die allermeisten Deutschen dennoch so positiv über ihren Zahnarzt? Loben ihre Zahnärztin und empfehlen sie in den höchsten Tönen weiter? Vertrauen ist das Stichwort. Nur weil der Patient seinem Zahnarzt vertraut, lässt er zu, dass in seinem Mund herumgefuhrwerkt wird. Er zählt darauf, dass sein Zahnarzt das Richtige tut und hält deshalb diesen Kontrollverlust aus.

In dieser Ausgabe ist das Thema Ethik in der Zahnarztpraxis unser Schwerpunkt: Prof. Giovanni Maio beleuchtet in nebenstehendem Beitrag den Wert des Vertrauens als Grundstein der Zahnarzt-Patienten-Beziehung in einer philosophischen Betrachtung. Danach diskutieren in unserem klinisch-ethischen Fall zwei Experten anhand einer Kofferdam-Behandlung, inwieweit ein angestellter Zahnarzt die Prinzipien seines Chefs bei der Therapie ignorieren darf – mit unterschiedlichem Ergebnis.

Aber worauf vertraut man, wenn man vertraut? Wenn man an die Kompetenz des anderen glaubt, dann ist das eher ein Zutrauen als ein Vertrauen. Man traut ihm zu, dass er etwas kann; wenn man vertraut, dann geht das über dieses Zutrauen hinaus, denn dann traut man dem anderen nicht nur ein Können zu, sondern man unterstellt ihm grundsätzlich gute Motive. Im Grunde ist in das Vertrauen eine implizite Botschaft über den unterstellten Charakter hineingeschrieben. Wenn wir jemandem vertrauen, dann verlassen wir uns nicht nur auf ihn, sondern dann unterstellen wir ihm einen guten Charakter, weil derjenige, der vertraut, implizit davon ausgeht, auf den anderen auch dann bauen zu können, wenn es für den anderen schwierig wird. Das heißt, dass über das Vertrauen dem anderen etwas zugetraut wird, was über Verlässlichkeit und Einhalten von Abmachungen hinausgeht.

Nichts anderes als eine Loyalitätserwartung

Dass jemand eine Abmachung oder einen Vertrag einhält, weil er sonst Sanktionen befürchten müsste, könnten wir voraussetzen. Und doch müssten wir jederzeit damit rechnen, dass er auch lieber die Sanktionen in Kauf nehmen könnte als die Konsequenzen der Vertragseinhaltung zu tragen. Beim Vertrauen ist es genau umgekehrt. Hier unterstellen wir, dass der andere an seinem impliziten Versprechen, vertrauenswürdig zu bleiben, auch dann festhalten wird, wenn etwas dazwischenkommt. Eine echte Vertrauensbeziehung ist daher von besonderer Stabilität gekennzeichnet, weil in diese Beziehung etwas hineingelegt worden ist, was unabdingbar mit dem Vertrauen verbunden ist, und das ist die Erwartung eines nicht-opportunistischen Verhaltens. Das ist der Kern des Vertrauensverhältnisses: Dem anderen wird unterstellt, dass er sein Verhalten nicht nach dem Wind richtet und einfach die Fahnen wechselt, wenn es seinen Interessen näherkäme, sondern dass der andere fest dabeibleibt, was er implizit versprochen hat, nämlich sich solidarisch zu zeigen mit dem Vertrauensgeber und seinem Vertrauensgut.

Vertrauen ist somit nichts anderes als eine Loyalitätserwartung. Wenn wir vertrauen, dann unterstellen wir, dass der andere sich mit den Zielen, die uns am Herzen liegen, identifiziert. Wir unterstellen eine grundlegende Wertvorstellung, die mit der unsrigen kompatibel ist und die fest verankert ist, also nicht opportunistisch zur Disposition gestellt wird. Wenn wir vertrauen, dann vertrauen wir nicht auf etwas Konkretes, sondern wir vertrauen auf die Treue des anderen. Treue in dem Sinne, dass wir wissen, er wird unsere Sache nicht verraten, wird das Lager nicht wechseln, wird unbeirrt sich für das einsetzen, was in seine Hände gelegt wurde.

Letzten Endes hat Vertrauen mit der Gewissheit der restlosen Unkorrumpierbarkeit des anderen zu tun. Wer das Vertrauen annimmt, gibt damit in gewisser Weise eine Treueerklärung ab, und eine Treueerklärung ist nichts anderes als ein Versprechen.

 Genau aus diesem Grund sprechen wir auch von dem Zahnarztberuf als einer Profession, weil schon im Begriff der Profession dieses Versprechen mit verankert ist [Maio, 2018]. Ein Professioneller ist jemand, der verspricht, die Ziele der Profession nicht zu verraten. Deswegen ist das Vertrauensverhältnis auch ein Grundcharakteristikum einer jeden Profession.

An diesen entwickelten Merkmalen des Vertrauens lässt sich unschwer ablesen, wie wichtig es heute ist, sich die Notwendigkeit des Vertrauens neu zu vergegenwärtigen. Die Treuebeziehung ist eine werteorientierte emotionale Beziehung – und damit entzieht sie sich dem Verwertungskalkül rein ökonomischer Logiken. In unserer Zeit wird vom System her den Ärzten implizit beigebracht, Treueverhältnisse für obsolet zu erklären, aber das wendet sich gegen die Professionalität und gegen die Arbeitszufriedenheit der Zahnärzte.

Arztsein: Die Treue zum sozialen Ideal ist der Kern

Zahnmedizin zu betreiben ist vor allem deswegen so sinnstiftend und erfüllend, weil man das Gefühl hat, anderen Menschen zu helfen. Damit die Zahnärzte ihren Patienten, die sich ratsuchend an sie wenden, eine helfende Antwort geben können, muss ihnen ermöglicht werden, ohne moralische Dissonanz ihrem Auftrag zu folgen. Dem Auftrag zu folgen, anderen zu helfen heißt, sich persönlich zu binden an ein soziales Ideal, von dem sich sagen lässt, dass ohne dieses Ideal Medizin nicht Medizin sein kann. Und die Treue zu diesem Ideal macht die Zahnmedizin erst als Medizin aus. Daher ist die Treue des Arztes zu seiner sozialen Zielsetzung nicht nur ein Add-on, sondern es ist der Markenkern des Arztseins.

Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. phil.

Lehrstuhl für MedizinethikInstitut für Ethik und Geschichte der Medizin
Stefan-Meier-Str. 26, 79104 Freiburg i. Br.
maio@ethik.uni-freiburg.de

Literatur

  • Hartmann, Martin: Die Praxis des Vertrauens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011

  • Laucken, Uwe: Zwischenmenschliches Vertrauen. Rahmenentwurf und Ideenskizze. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem 2001

  • Maio, Giovanni: Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe Ihre eigene Identität verteidigen müssen. München: Kösel, 2018

  • Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Band 11, herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992 (1908)

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Prof. Dr. med. Giovanni Maio

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