„Mehr Produktsicherheit hat ihren Preis“
Die Europäische Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) ist seit dem 25. Mai 2017 in Kraft. Warum macht sich erst jetzt Pessimismus im Markt breit?
Prof. Dr. Ulrich M. Gassner: Skeptische Stimmen gab es von Anfang an. Kritisiert wurden die allzu knappen Übergangsvorschriften und der Umstand, dass in der Kürze der Zeit kaum alle Benannten Stellen re-akkreditiert werden können.
Aktuell steigt die Nervosität. Die Mahnrufe und Warnsignale in Richtung Brüssel nehmen zu, weil sich die Befürchtungen nun tatsächlich zu realisieren scheinen. Das gilt insbesondere für das Flaschenhalsproblem: Nach dem Urteil zahlreicher Beobachter zeichnet sich ab, dass es bis zum Ende der Übergangsfrist für die Geltung der MDR am 25. Mai 2020 zu wenige Benannte Stellen geben wird.
Teilen Sie diesen Pessimismus?
Tendenziell ja. Wir verzeichnen jetzt schon einen beträchtlichen Schwund an Benannten Stellen. Hinzu kommt, dass die Benannten Stellen ebenso wie die Hersteller Anforderungen unterliegen, was die Zertifizierungsprozesse verlangsamen wird.
Wer ist besonders betroffen und welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach auf den Medizinproduktemarkt Deutschland und Europa haben?
Die großen Hersteller haben ihre Hausaufgaben gemacht. Wir haben es jedoch mit einem mittelständischen Markt zu tun. Und gerade kleine und mittlere Unternehmen tun sich besonders schwer mit den stark gestiegenen Anforderungen und dem damit verbundenen exorbitanten Kostenaufwand. Die MDR hat jetzt schon zu einer gewissen Marktkonzentration beigetragen und wird es auch weiter tun. Mir sind Fälle kleiner Hersteller bekannt, die sich ganz vom Markt zurückgezogen haben oder dies beabsichtigen. Was dies für die betroffenen Patienten bedeutet, mag man sich lieber nicht ausmalen.
Wie wirkt sich die Verordnung auf Hersteller aus außereuropäischen Ländern – Asien, Amerika etc. – aus, die ihre Medizinprodukte nach Europa exportieren?
Diese Hersteller müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Im Übrigen werden Importeure mit Blick auf ihre Pflichten nach der MDR wie Hersteller behandelt.
Nach Einschätzung der Industrieverbände Spectaris und BVMed, die gestützt werden von Marktbefragungen – u. a. vom Fraunhofer-Institut, zeichnet sich ab, dass 40 Prozent der Firmen ihre auf dem Markt befindlichen Medizinprodukte bereits gekündigt haben. Wirkt sich die MDR als Innovationsbremse aus?
Ja, mehr Produktsicherheit hat ihren Preis. Je höher die regulatorischen Hürden, desto kostenintensiver ist der Zertifizierungsprozess und desto später ist das innovative Produkt beim Patienten. Dieser Zusammenhang wird in der öffentlichen Diskussion leider häufig übersehen. Im Übrigen ist es sehr die Frage, ob die MDR tatsächlich bei allen ihren Regelungen mehr Patientensicherheit oder nicht vielmehr nur mehr bürokratischen Aufwand generiert.
Wer und wo sind die „Benannten Stellen“ (Notified Bodies), die die Konsultationsverfahren im Zusammenhang mit der klinischen Bewertung für Produkte der Klasse IIb und Implantate der Klasse III genehmigen bzw. die Einhaltung der umfangreichen Regelungen überwachen?
Nach aktuellem Stand (Ende Mai 2019) sind bislang nur zwei Stellen nach neuem Recht aktuell akkreditiert: BSI (London) und TÜV Product Service (München). Die jeweilige Zertifzierungsbefugnis richtet sich nicht nach Risikoklassen, sondern Produktkategorien und technischen Querschnittskompetenzen.
Mit der Vermarktung von nach altem Recht zertifizierten Produkten ist spätestens im Mai 2024 endgültig Schluss. Wie weit sind Ihrer Erfahrung nach die Hersteller in der Umsetzung der MDR?
Wie vorhin schon angedeutet, sind große Hersteller schon relativ gut vorbereitet. Mancher kleine Hersteller scheint eher eine Vogel-Strauß-Politik zu betreiben, die freilich auch oft einem Mangel an qualifiziertem Personal auf dem Arbeitsmarkt geschuldet ist.
In welchem Umfang ist die Zahnmedizin, respektive die orale Implantologie, von der EU-Verordnung betroffen?
Implantologen mit Eigenlaboren sind Hersteller von Sonderanfertigungen. Für sie gibt es keine Übergangsregelung. Sie müssen also ab dem 26. Mai 2020, zum Beispiel in Bezug auf klinische Bewertungen, genau die gleichen Anforderungen erfüllen wie Hersteller seriell beziehungsweise industriell hergestellter Medizinprodukte. Mit der klinischen Bewertung ist es aber nicht getan. Unter dem Begriff „Post-Market Surveillance“ (PMS) fordert die MDR, dass der Implantologe auch nach der Implantation weiter beobachtet, ob die Sicherheit und der medizinische Nutzen des Implantats gegeben sind und es keine Vorkommnisse mit ihm gibt. Ferner muss nachgewiesen werden, dass dauerhaft und ständig auf eine für die Einhaltung der Regulierungsvorschriften verantwortliche Person zurückgegriffen werden kann.
Die Fragen stellte Anita Wuttke.
BZÄK-Statement
Eine „Post-Market Surveillance“ industriell gefertigter Medizinprodukte ist sinnvoll
Nach der geltenden europäischen und nationalen Gesetzgebung und auch der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) sind Zahntechniker und Zahnärzte mit Eigenlabor Hersteller von Sonderanfertigungen. Ob die Implantologie zum Leistungsspektrum der Praxis gehört, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Medizinprodukte dürfen nur mit CE-Kennzeichnung auf den europäischen Markt gebracht werden. Ab der Risikoklasse 2 benötigt der Hersteller dafür eine benannte Stelle. Da durch die Vorschaltung eines solchen Verfahrens die Anfertigung zum Beispiel von Zahnersatz praktisch unmöglich wäre, sind „Sonderanfertiger“ von dieser Verpflichtung befreit. Nun fordert die MDR allgemein von Medizinprodukteherstellern, vor dem Inverkehrbringen ihrer Erzeugnisse eine klinische Bewertung und über den gesamten Produktionszeitraum eine „Post-Market Surveillance“ durchzuführen.
Für neue, industriell gefertigte Medizinprodukte sind dies sinnvolle und notwendige Maßnahmen, um die Patientensicherheit fortwährend zu gewährleisten.Auch wenn der (europäische) Gesetzgeber hier keine Unterscheidung zwischen den Herstellern trifft, muss allen Akteuren klar sein, dass die Umsetzung auf dem Gebiet der Zahntechnik nur spezifisch erfolgen kann. Der Zahntechniker fertigt den Zahnersatz auf Verordnung des Zahnarztes und muss bei der Auswahl von Werkstoffen und Herstellungsverfahren den Stand von Wissenschaft und Technik einhalten und die Konformität mit den grundlegenden Anforderungen bescheinigen. Da er selbst keinen Patientenkontakt hat, erfolgt die „Post-Market Surveillance“ in Zusammenarbeit mit dem Zahnarzt.
Bereits heute müssen nach MDR alle Hersteller, Anwender und Betreiber von Medizinprodukten Vorkommnisse melden, die zum Tode oder zur schwerwiegenden Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt haben oder hätten führen können.
Bundeszahnärztekammer
Abteilung Zahnärztliche Berufsausübung
Zur Person
Prof. Dr. Ulrich M. Gassner ist seit 2007 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg, Gründungsdirektor der Forschungsstelle für Medizinprodukterecht (FMPR), Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht (IBGM), Mitglied der Faculty des Munich Intellectual Property Law Center (MIPLC).
Tätigkeitsschwerpunkte: Arzneimittel- und Medizinprodukterecht, Krankenversicherungsrecht, Europäisches und Internationales Gesundheitsrecht, Verfassungsrecht.
Die FMPR an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg besteht seit 2005 als in Europa nach wie vor einzigartige Einrichtung dieser Art.