Corona hat die Situation noch verschärft
Es geht um Menschen, die in Notlagen sind und die aufgrund verschiedener Lebensumstände nicht ins Raster der Gesellschaft passen – Obdachlose, Geflüchtete ohne Aufenthaltsstatus oder Menschen ohne Krankenversicherung“, sagte Dr. Karsten Heegewaldt, Präsident der Berliner Zahnärztekammer und Vorstandsreferent der BZÄK für soziale Aufgaben und Hilfsorganisationen, der die Konferenz eröffnete.
Menschen helfen, die keine Stimme haben
„Viele trauen sich auf normalem Weg nicht in die Praxis“, führte Heegewaldt aus. „Es braucht daher eine breitere Basis, gerade den Menschen zur Seite zu stehen, die keine Stimme und kein Sprachrohr haben. Sie fallen durchs System und werden übersehen.“ Ziel der Konferenz war daher auch, eine Plattform zu schaffen zum Austausch und Netzwerken trotz Corona-Zeiten.
„Die Praxen für Menschen ohne Krankenversicherung waren sechs Wochen lang geschlossen, da es keine Schutzausrüstung gab“, berichtete Heegewaldt. „Das war ein riesiges Problem, insbesondere weil auch noch die niederschwelligen Angebote weggefallen sind.“ Dennoch hätten Zahnmediziner versucht, ehrenamtlich Hilfe zu leisten – und seien in dieser Ausnahmesituation noch einmal über sich hinausgewachsen. Dass soziales Engagement interdisziplinär funktioniert, aus der Mitte kommt und langfristig angelegt sein sollte, wurde Heegewaldt zufolge sehr deutlich. Seine Bitte: „Nutzen Sie die sozialen Netzwerke der BZÄK!“ Er verwies in dem Zusammenhang auf die bundesweit zahlreichen – insbesondere zahnärztlichen – Hilfsinitiativen in Deutschland, die Menschen in sehr schwierigen Lagen helfen.
Die Pandemiebedingungen sind wie ein Brennglas
„Die Pandemiebedingungen sind wie ein Brennglas“, schilderte BZÄK-Vizepräsident Prof. Dietmar Oesterreich die Situation. „Wir schauen zwar mit Stolz auf die Mundgesundheit der Gesamtbevölkerung, die deutlich besser geworden ist. Aber hier geht es ja um eine Bevölkerungsgruppe, die in den Untersuchungen überhaupt nicht erfasst wird.“
Mit der Veranstaltung wolle die BZÄK auch unterstreichen, dass die Versorgung weitergehen muss. „Wir sind sehr froh, dass viele Kolleginnen und Kollegen nach wie vor aktiv sind – auch unter diesen schwierigen Bedingungen“, betonte Oesterreich. Das zeige: „Der Berufstand ist weiterhin für diese Menschen da.“ Darüber hinaus müsse das Signal jedoch in die Gesellschaft gelangen. Zusätzlich seien gesetzliche Maßnahmen erforderlich, um dieser Bevölkerungsgruppe gesundheitliche Chancengleichheit zumindest auf einem Niveau zu ermöglichen, das für sie erreichbar ist. Oesterreich: „Es kann nicht sein, dass auf Dauer immer nur die akutesten Notfälle behandelt werden.“
Wichtig sei, die Angebote möglichst niedrigschwellig zu gestalten: „Hemmungen und Scham dürfen die Patienten nicht von der Behandlung abhalten“, stellte Oesterreich klar. „Umgekehrt darf es nicht noch einmal wie zu Beginn der Coronavirus-Pandemie aufgrund mangelnder Hilfsmittel zu einer Unterbrechung der Versorgung kommen.“ Die BZÄK wolle daher auch die Zahnärzte bestärken, die bislang noch gezweifelt haben und sich fragen, wie sie sich engagieren können. „Es geht um die ethische Verpflichtung, nicht nur im konkreten Patientenfall in der Praxis – auch bei den Problemen in der Gesellschaft muss sich der Berufsstand platzieren.“
Dass sich die gesundheitliche Versorgung aus dem Grundgesetz ableitet, bekräftigte Gyde Jensen, Menschenrechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion und und Vorsitzende des Ausschusses Menschenrechte und Humanitäre Hilfe im Bundestag: „Gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht!“ Rund 61.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz lebten in Deutschland, mit einer hohen Dunkelziffer. Es müsse daher mehr dafür getan werden, dass diese Zahl weiter sinkt.
Die geforderte soziale Distanzierung hält Dr. Peter Bartmann, Leiter des Zentrums Gesundheit, Rehabilitation und Pflege Diakonie Deutschland, für eine große Herausforderung. Die Helfer müssten sich bei ihrer Arbeit herantasten und viel Ausdauer beweisen. Gleichwohl sieht Bartmann Fortschritte: „Viele Projekte stabilisieren sich wieder. In der Akutlage gab es eine große Hilfsbereitschaft. Jetzt muss die Gesellschaft schauen, wie sie die Post-Corona-Phase überstehen kann.“
Die Rolle des ökonomischen und sozialen Kapitals veranschaulichte Prof. Dr. Stephan Dettmers, 1. Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e. V. (DVSG): „Es gibt nicht nur ökonomisches Kapital – auch Freundschaften, Netzwerke und Nachbarschaft bilden ein Kapital. Arme Menschen haben meistens von beidem zu wenig. Indem man das Netzwerk von Menschen verbessert, verbessert man auch ihr soziales Kapital.“ Sein Vorschlag ist, dass Zahnärzte sich mehr in ihrem Kiez einbringen: „Mischt Euch ein, macht Projekte, auch mit Sozialwissenschaftlern.“
Viele der Projekte stabilisieren sich wieder
Einen Flickenteppich an Ansätzen und Lösungen für Migration und Integration in Deutschland machte Ramazan Salman, Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums Hannover, aus. Er plädierte für Evidenz-basierte Lösungen und nannte als Beispiele die Projekte „Muttersprachliche Oralprophylaxe Mentoren“ (MOM) und „Mit Migranten für Migranten“ (MiMi). Migranten müssten von der Bedeutung der Mundgesundheit überzeugt werden, doch fehle es hier an Anknüpfungspunkten in der Gesellschaft. Eine Brücke sind für ihn die ZFA, da in dem Beruf inzwischen überproportional mehr Personal mit Migrationshintergrund arbeite als in anderen Feldern.