Wie gefährlich ist Titandioxid in Cerec-Mattierungspulvern?
Als sie die Diagnose bekommt, ist für Zahnärztin Julia Hasel klar, dass ihre Krankheit durch das Mattierungspulver Vita Cerec Powder ausgelöst wurde, das sie jahrelang bei jeder optischen Abformung eingeatmet hat. So berichtete die Wochenzeitung DIE ZEIT Ende Dezember über das laufende Verfahren am Landgericht München.
Heute praktiziert Hasel, die eigentlich anders heißt, nicht mehr. Sie hat ihre Praxis im Herbst vergangenen Jahres aus gesundheitlichen Gründen verkaufen müssen. Stattdessen versucht die Anfang 40-Jährige vor dem Landgericht nun das nahezu Unmögliche: Sie will beweisen, dass der Inhaltsstoff eines zugelassenen Medizinprodukts bei ihr Morbus Waldenström, eine seltene Krebserkrankung des Lymphgewebes, ausgelöst hat.
Sollte ihr das gelingen, hätte das weitreichende Folgen für Zahnärzte weltweit. Schätzungsweise sind allein in Deutschland Tausende Cerec-Geräte jener Generation auf dem Markt, die den Einsatz genau jener Mattierungspulver oder -Sprays noch nötig machen, um bei der optischen Abformung Artefakte zu reduzieren.
Sie verbrauchte 66 dieser Flaschen
Behandler, die diese Produkte einsetzen, haben wahrscheinlich jahrelang ein Titandioxid-haltiges Mattierungspulver oder -Spray verwendet. Oder tun es noch immer. Das Vita Cerec Powder, das Gegenstand des aktuellen Verfahrens ist, kam 2006 auf den Markt. Laut Hersteller sind insgesamt 307.602 Flaschen zu jeweils 12 Gramm verkauft worden. Wahrscheinlich sind Hunderttausende PatientInnen und Tausende ZahnärztInnen mit dem Puder mehrfach in Kontakt gekommen. Allein Hasel hat in ihrem kurzem Berufsleben 66 dieser Flaschen verbraucht.
Vergleichbare Produkte wurden jedoch nicht zurückgerufen
Am 16. März 2018 – fünf Monate nachdem Hasel das Produkt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gemeldet hatte – startete der Hersteller Vita Zahnfabrik eine freiwillige Rückrufaktion, „um jede, auch noch so geringe Gefährdung von Patienten und Anwendern auszuschließen“, wie es hieß. Vergleichbare Produkte anderer Hersteller wie etwa Sirona Cerec Optispray oder Dentaco scan‘spray black+white enthalten ebenfalls Titandioxid, wurden jedoch nicht zurückgerufen. Auch das 3M High-Resolution Scanning Spray oder weiterhin erhältliche extraorale Mattierungsprays sind Titandioxid-haltig.
Die Sicht des BFARM
Im März 2018 rief VITA Zahnfabrik sein Titandioxid-haltiges Produkt „Cerec Powder“ über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zurück. Auf Nachfrage gab das BfArM diese Risikobewertung von Titandioxid/Nanopartikeln in Cerec-Mattierungspulvern ab:
„Gemäß dem europäischen Medizinprodukterecht liegt es in der Verantwortung des Herstellers, über Risiken bezüglich seiner Produkte zeitnah zu informieren und gegebenenfalls korrektive Maßnahmen im Feld zu initiieren.“
„Derzeit liegen uns – trotz möglicherweise großer Anwendungshäufigkeit – nur einzelne Meldungen zu Produkten eines Herstellers vor. Die von uns zum Thema einbezogene medizinische Fachgesellschaft sieht in Kenntnis des derzeitigen wissenschaftlichen Diskussionsstands keine Veranlassung, eine Empfehlung zum Verzicht auf Kontrastierungsmittel auszusprechen.“
„Dennoch kann, nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand, eine potenzielle Schädigung nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.“
Dass eingeatmete Nanopartikel bis in die kleinsten Lungengefäße eindringen, sich dort ablagern und über die Blutbahn im gesamten Körper verteilen können, ist seit einiger Zeit unstrittig. Wie gefährlich in diesem Zusammenhang Titandioxid jedoch für den Menschen ist und wie groß die tatsächliche Exposition gegenüber Nanopartikelstaub bei der Verwendung von Mattierungssprays oder anderen zahnärztlichen Tätigkeiten bei gleichzeitiger Absaugung und Tragen eines Mundschutzes ist, bleibt offen. Selbst wenn Unternehmen wie Sirona gegenüber der ZEIT angeben, ihnen sei neben dem aktuellen Verfahren keine weitere Meldung von einer unerwünschten Nebenwirkung bekannt, haben viele Akteure der Branche bereits reagiert. So präsentierten einige Hersteller auf der IDS 2019 Titandioxid-freie Scansprays. Auch mit dem werbewirksamen Hinweis, dass das Einatmen von eben jenen Partikeln nach Ansicht der Europäischen Chemikalienagentur ECHA möglicherweise krebserregend ist.
Für Produkte mit Nanopartikeln gelten andere Regeln
Und auch die Politik hat reagiert: So gelten ab dem 26. Mai 2020 die Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte sowie Änderungen verschiedener damit verbundener Richtlinien, die am 25. Mai 2017 in Kraft getreten sind. Eine maßgebliche Änderung betrifft die Risikoklassifizierung von Produkten, die Nanopartikel enthalten.
Das sagen die Hersteller
Auf der IDS 2019 präsentierten viele Hersteller – darunter auch Vita Zahnfabrik – Cerec-Mattierungspuder und -sprays, die ohne Titandioxid (TiO2) auskommen. Nach zm-Recherchen verwenden heute nur noch drei Hersteller den umstrittenen Inhaltsstoff. Hier erklären sie, warum sie das für unproblematisch halten.
CEREC OPTISPRAY, DENTSPLY SIRONA:
„Dentsply Sirona erfüllt für seine Medizinprodukte alle Vorgaben, die nach dem Medizinproduktegesetz erforderlich sind und bei sachgemäßem Gebrauch eine sichere Anwendung durch Ärzte und Fachpersonal an Patienten gewährleisten. Dies umfasst selbstverständlich die entsprechenden Konformitätsbewertungsverfahren der Produkte, die TiO2 enthalten wie unser Cerec Optispray.“
Dieses „wurde zuletzt 2018 nochmals vom TÜV auf das Freisetzen von Nanopartikeln untersucht. Demnach werden bei der Anwendung keine Nanomaterialien freigesetzt und alle Arbeitsplatzgrenzwerte werden eingehalten“.
SCAN‘SPRAY BLACK+WHITE, SCAN‘SPRAY STONE, DENTACO:
„Von diesen beiden Produkten ist nur das scan‘spray black+white [...] ein Medizinprodukt. Die darin enthaltenen speziellen TiO2-Partikel sind um ein Vielfaches größer als der Grenzwert für Nanopartikel von 100 nm, sie sind mit > 2,5 µm nicht einmal lungengängig. Und auch wenn es kein Medizinprodukt ist: Beim scan‘spray stone, das nur extraoral im Labor eingesetzt wird, sind ebenfalls 99 Prozent der TiO2-Partikel größer als 100 nm und damit auch keine Nanopartikel.“
„Was grundsätzlich die Verwendung von TiO2 in Mattierungssprays anbelangt, so bleibe ich – auch nach intensiven Gesprächen mit Experten – der Ansicht,
dass das Einatmen von TiO2-Stäuben genauso risikoreich ist wie das Einatmen anderer Feinstäube.
dass die Ergebnisse einer Studie mit Ratten, nicht nur was die Exposition anbelangt, absolut nicht auf den Menschen übertragbar sind.
dass eine normale Zahnarztpraxis nur wenige Gramm Titandioxid pro Jahr „versprüht“ – selbst bei mehrmaligem täglichem Einsatz von Scanspray. Aber auch diese geringe Menge wird ja keinesfalls komplett von einer Person inhaliert. Eine 75 ml Dose Scanspray (intraoral) enthielt bei uns in der Vergangenheit weniger als 1 g Titandioxid. Die damit realistisch verbundene Exposition ist nicht ansatzweise mit den Werten vergleichbar, denen die Ratten im Tierversuch ausgesetzt waren.“
HIGH-RESOLUTION SCANNING SPRAY, 3M ESPE:
Es „wurde eine Bewertung des 3M High-Resolution Scanning Spray in Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Standards für medizinische und zahnmedizinische Geräte durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass das 3M High-Resolution Scanning Spray für die vorgesehene Anwendung sicher ist.“
„Die Partikelgröße des Scan-Sprühpulvers und seiner einzelnen Einsatzstoffe liegt außerhalb des derzeit als Nanopartikel definierten Bereichs. 3M Oral Care ist sich der Besorgnis um die Sicherheit von Nanopartikeln sehr wohl bewusst, und wir beobachten die Literatur genau auf Entwicklungen, die sich auf unsere Produkte auswirken.“
„Es gibt mehrere Faktoren, die die Exposition der Lunge gegenüber Titandioxid im Produkt begrenzen.
Erstens macht Titandioxid nur 50 bis 60 Prozent des Produktgewichts aus.
Zweitens sind nur Partikel unterhalb einer bestimmten Größenschwelle („lungengängige Größe“) klein genug, um eingeatmet zu werden und das Lungengewebe zu erreichen. Die Analyse der Partikelgröße zeigt, dass die Partikel im Produkt einen Durchmesser von etwa 0,4 bis 200 Mikrometern haben, mit einer durchschnittlichen Partikelgröße von 10 bis 25 Mikrometern [Anm. der Red.: Als Nanopartikel gelten Teilchen zwischen 1 und 100 Nanometern, was 0,001 bis 0,1 Mikrometern entspricht].
Drittens wird das 3M High-Resolution Scanning Spray-Pulver in unmittelbarer Nähe der zu behandelnden Zähne aufgetragen mit einem unter Druck stehenden Sprühgerät gescannt, um die Haftung zu maximieren. Der größte Teil des nicht angehefteten Pulvers steht nicht für die Exposition zur Verfügung, weil es im Speichel oder durch Wechselwirkung mit feuchtem Mundgewebe eingefangen wird.“
Bei Medizinprodukten gibt es vier Klassen, 1, 2a, 2b und 3. Je höher die Klasse, desto höher das vom Hersteller veranschlagte Risiko. Und je höher das Risiko, desto intensiver muss eine externe Prüfstelle zur Zertifizierung involviert sein. Bei diesen Prüfstellen handelt es sich jedoch nicht um Behörden, sondern um privatwirtschaftliche Prüfunternehmen wie den TÜV oder die Dekra. Allerdings ist bei Produkten der Klasse 1 keine externe Prüfung nötig. Es genügt, wenn der Hersteller in eigener Verantwortung das sogenannte Konformitätsbewertungsverfahren durchführt, für sein Produkt eine technische Dokumentation inklusive Risikomanagementakte erstellt und für die Überprüfung durch Behörden bereithält. Alle Titandioxid-haltigen Pulver und Sprays sind momentan der Risikoklasse 1 zugeordnet – das gilt aktuell für etwa 70 Prozent aller Medizinprodukte.
Die Risiko bleibt schwammig formuliert
Ab Mai 2020 müssen jedoch alle neuen Medizinprodukte, die Nanomaterial enthalten oder daraus bestehen, automatisch mindestens der Klasse 2a zugeordnet werden. Und dies auch nur dann, wenn sie nur ein „unbedeutendes Potenzial für interne Exposition“ haben. Daraus wird Klasse 2b, wenn „sie ein niedriges Potenzial“ oder Klasse 3, „wenn sie ein hohes oder mittleres Potenzial für interne Exposition haben“. Die Begriffe „unbedeutend“, „niedrig“, „mittel“ und „hoch“ sind jedoch nicht mit Zahlen unterlegt.
Im November 2019 hat das Bundeskabinett nun den Entwurf des Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetzes (MPEUAnpG) beschlossen, der die EU-Verordnung in nationales Recht überführen soll. Die Verabschiedung gilt als Formsache. Das Hintertürchen für Hersteller ist der Paragraf 99, nach dem für alle bis zum 26. Mai 2020 in Verkehr gebrachten Medizinprodukte noch einmal eine Übergangsfrist bis zum 27. Mai 2025 gelten soll. So lange richtet sich das Inverkehrbringen und Inbetriebnahme von Medizinprodukten nach altem Recht.