Ernst Stuck – sein Handeln bleibt ohne Folgen
Ernst Johannes Stuck ging als „Reichszahnärzteführer“ in die Geschichte der deutschen Zahnheilkunde ein. Damit war er im „Dritten Reich“ nicht nur der höchste Repräsentant der Zahnärzteschaft, sondern zugleich für die nationalsozialistische Gleichschaltung verantwortlich.
Wer war dieser Mann, wie war sein Karriereweg und was machte ihn zum Täter?1
Stuck wurde am 19. Dezember 1893 in Grünhain im Erzgebirge geboren. Hier verbrachte er allerdings nur die ersten Lebensjahre, denn sein Vater – der beamtete Postsekretär Karl Ernst Stuck (1861–1939) – wurde schon 1895 nach Augustusberg und 1902 nach Hilbersdorf bei Chemnitz versetzt. In Chemnitz besuchte Ernst Stuck auch das Gymnasium, legte im März 1914 das Abitur ab und schrieb sich einen Monat später an der Universität Greifswald für das Studium der Theologie ein. Wenig später meldete er sich als Freiwilliger zum Kriegsdienst mit Stationierungen in Riesa und Fulda. Er wurde zum Leutnant befördert und schied erst Ende 1918 aus dem Dienst aus.
Nach dem Krieg nahm er das Theologiestudium in Greifswald wieder auf, wechselte jedoch nach wenigen Monaten Studienfach und -ort: Im Dezember 1918 immatrikulierte er sich in Leipzig für das Studium der Zahnheilkunde und schloss es nach knapp zwei Jahren – im Oktober 1920 – ab. Im März 1921 konnte er dann seine Promotion zum Dr. med. dent. beenden – ebenfalls in Leipzig. Stucks Arbeit behandelte die „Veränderung der Zähne bei kongenitalem Lues“; sie wurde von Wilhelm Pfaff betreut und mit „sehr gut“ bewertet.2
Ebenfalls 1921 ließ sich Stuck in Leipzig als Zahnarzt nieder; besagte Praxistätigkeit hielt er bis 1939 aufrecht. Schon in den 1920er-Jahren engagierte er sich in der Standespolitik: Seit 1924 gehörte er dem Vorstand des Kreiszahnärztevereins Leipzig an, von 1928 bis 1930 als Vorsitzender. 1930 wurde er dann in den Landesverband sächsischer Zahnärzte gewählt.3
Ein Nationalsozialist der ersten Stunde
Im selben Jahr trat Stuck der NSDAP bei – also deutlich vor der Machtübernahme Hitlers, was nahelegt, dass Stuck ein überzeugter Nationalsozialist war und nicht zu den zahlreichen Opportunisten zählte, die nach dem Machtwechsel im Januar 1933 Mitglied wurden. So erklärt sich auch Stucks niedrige Parteinummer (Nr.: 311.896). Hinzu kamen Eintritte in den NS-Ärztebund (1931), die SA (1933), den NS-Dozentenbund, den NS-Altherrenbund und die NS-Volkswohlfahrt.4 Dagegen wurde er – im Unterschied zu anderen bekannten Zahnärzten der NS-Zeit wie Hermann Pook5 oder Helmut Kunz6 – kein Mitglied der SS.
Bereits 1932 ernannte ihn Bernhard Hörmann, Leiter der Hauptabteilung Volksgesundheit der Reichsleitung der NSDAP und wie Stuck ausgebildeter Zahnarzt, zum Reichsfachberater in der Abteilung Volksgesundheit. Im März 1933 veröffentlichte Stuck dann in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ den Beitrag „Nationale Revolution und Reichsverband“7, in dem er eine „Umgestaltung der Leitung und der Verbandspolitik“ des zahnärztlichen Reichsverbandes forderte und sich so für die Aufgabe des Reichszahnärzteführers letztlich „geradezu anbot“.8
Tatsächlich wurde Stuck im März 1933 nach einer Sitzung im Preußischen Innenministerium als solcher designiert und durch Hörmann im Amt bestätigt.
Anfang Mai stellte ihm der Vorstand des Reichsverbandes eine „Generalvollmacht“ aus; damit war das Führerprinzip im Reichsverband durchgesetzt.9
Am 24. Juni 1933 versammelten sich auf Stucks Initiative hin in Leipzig 38 deutsche Hochschullehrer aus 21 zahnärztlichen Instituten, um sich als „Einheitsfront“10 der Dozenten zur „völligen Anerkennung einer einheitlichen Führung und des Autoritätsprinzips“ zu verpflichten – darunter bekannte Professoren wie Georg Axhausen11, Hermann Euler12, Heinrich Fabian13 und Wolfgang Rosenthal14.
Mit jener Erklärung bestätigten die Anwesenden Stuck in seiner Führerrolle. Zudem wurde Otto Loos zum zahnärztlichen „Reichsdozentenführer“15 bestimmt. Loos unterstand Stuck, war aber qua Amt befugt, mit ihm zu verhandeln. Als Loos im April 1936 überraschend starb, nahm Karl Pieper seine Stelle ein16; Pieper tat sich jedoch deutlich schwerer als Loos, Stucks Vormachtstellung anzuerkennen. Die dritte machtvolle Position innerhalb der Zahnärzteschaft wurde Euler übertragen: Er war bereits in der Weimarer Republik Vorsitzender des Central-Vereins Deutscher Zahnärzte gewesen und wurde auf Stucks Betreiben Präsident der im Oktober 1933 aus dem Central-Verein hervorgegangenen DGZMK.17
Euler war damit für die Gleichschaltung der zahnärztlichen Wissenschaft und ihrer Organisationen verantwortlich. Das Verhältnis zwischen Stuck und Euler war durchgängig gut, wie wechselseitige Würdigungen dokumentieren.18
Im Juli 1933 wurde das „Gesetz über die Kassenzahnärztliche Vereinigung Deutschlands“ (KZVD) verabschiedet. Die KZVD war damit alleinige Trägerin „der Beziehungen der Kassenzahnärzte zu den Krankenkassen“, und Stuck fungierte seinerseits als ihr Leiter. Erst im August 1933 wurde Stuck von Reichsinnenminister Wilhelm Frick formell zum „Reichsführer der Zahnärzte“ ernannt – unbeschadet der Tatsache, dass er diese Position faktisch schon längst innehatte.19
Erwähnenswert ist, dass Stuck neben seiner Rolle als Zahnärzteführer keine Parteiämter bekleidete: Tatsächlich hatte Stuck von 1924 bis 1927 einer Freimaurerloge angehört – und jene Mitgliedschaft schloss eine „Karriere“ innerhalb der NSDAP aus.20
Obwohl das Oberste Parteigericht Stuck 1936 trotz der früheren Logenzugehörigkeit „politische Unbedenklichkeit“ attestierte, kam es wiederholt zu parteiinternen Diffamierungen Stucks, an denen Pieper nicht unbeteiligt war. Erst im Juni 1942 konnten die Verunglimpfungen durch einen Schiedsspruch des Disziplinargerichtshofs des NS-Ärztebunds ad acta gelegt werden.
Besagte Querelen drangen allerdings kaum an die Fachöffentlichkeit und Stuck blieb bis zum Ende des „Dritten Reiches“ als Reichszahnärzteführer unangefochten und präsent. So wandte er sich beispielsweise regelmäßig mit Beiträgen an die Berufskollegen.21
Zu seinen zentralen Themen zählte die „Neuregelung der Judenfrage“, wobei er dezidiert antisemitische Sichtweisen vertrat. 1938 forderte er etwa den Ausschluss aller jüdischen Zahnärzte nach dem Vorbild der „Regelung, die zum Ausschluß der jüdischen Ärzte geführt hat“ und erklärte: „Die Deutsche Zahnärzteschaft hält es nach wie vor für unmöglich, daß hinsichtlich der jüdischen Zahnärzte eine andere Regelung gefunden wurde als bei den jüdischen Ärzten“.22
Die Judenfrage gehörte für ihn geregelt
1939 konnte er dann den Vollzug der „Ausschaltung der Juden“ vermelden. Seinen Bericht schloss er mit einem „Versprechen“: „Damit übernimmt die Deutsche Zahnärzteschaft die Verpflichtung, die von fremdrassischem Einfluß vollkommen freie deutsche Zahnheilkunde im Sinne ihrer großen Lehre nach Kräften weiter zu entwickeln und das Beste für die deutsche Volksgesundheit zu leisten. Die Geschichte soll und wird einmal sagen können, daß die gegenwärtige Generation sich dieses großen Auftrages, der ihr vom Führer gestellt ist, würdig erwiesen hat.“23
Noch Anfang 1945 trat Stuck mit nationalsozialistischen Durchhalteparolen an die Kollegenschaft heran: „Unsere Feinde gedachten [...] das nationalsozialistische Deutschland zu zertrümmern. [...] durch das Aufgebot aller Deutschen wurde der gegnerische Ansturm gebrochen. [...] Treu und gehorsam folgen wir dem Führer bis zum Sieg.“24
Er selbst war aufgrund seiner berufspolitischen Aufgaben „vom aktiven Kriegsdienst an der Front freigestellt“.25
Auf Stucks politischer Agenda standen zudem die Weiterbildung zum Kieferchirurgen und Kieferorthopäden, die Förderung der „Neuen Deutschen Heilkunde“ – einer kruden Melange aus alternativer Medizin und NS-Ideologie – und die „weltanschauliche Schulung“ der Kollegen, was auch die „Rassenfrage“ und die „Erbbiologie“ einschloss.26
Um Hitlers Vision, dass „jeder anständige Deutsche“ Nationalsozialist werden solle, umzusetzen, hatte Stuck bereits 1934 die „Berufsstandespflicht“ eingeführt – eine achtwöchige weltanschauliche Schulung, die jeder „arische“ Zahnarzt, der bis zum 1. Oktober 1934 noch nicht selbstständig war, im Lager Jüterbog durchlaufen musste.27
Zudem nahm Stuck seit 1937 einen Lehrauftrag für zahnärztliche Berufskunde an der Berliner Universität wahr.28
Überhaupt wurde der Praktiker Stuck seitens der wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der DGZMK, stark hofiert – dies zeigt sich unter anderem in der Tatsache, dass er 1938 die Ehrenplakette der DGZMK erhielt.29
Stuck wiederum nahm gelegentlich durch Stellungnahmen Einfluss auf Personalentscheidungen an den Universitäten, so zum Beispiel bei den Hochschullehrern Josef Eschler (auf Betreiben Karl Häupls30) und Gustav Korkhaus.31
Ein weiteres zentrales Anliegen von Stuck war die Lösung der „Dentistenfrage“: Er trat für die Aufhebung des Dentistenberufs und die Etablierung eines zahnärztlichen „Einheitsstandes“ ein. Doch da die mehrmals wechselnden „Reichsdentistenführer“ zum Teil gegenläufige Interessen verfolgten, kam es bis 1945 nicht zu einer Lösung. Erst 1949 (DDR) beziehungsweise 1952 (Bundesrepublik) wurde der „Einheitsstand“ Realität.32
Er sah sich nicht als Nazi im landläufigen Sinn
Nach Kriegsende blieb Stuck zunächst unbehelligt. Erst am 20. Mai 1945 wurde er verhaftet und in das Speziallager Jamlitz eingeliefert. Im April 1947 wurde er ins sowjetische „Speziallager Nr. 2 Buchenwald“ verlegt, im Juli 1948 entlassen und im Herbst desselben Jahres einem Entnazifizierungsverfahren zugeführt. Im April 1950 erklärte ihn der Spruchkammerausschuss Berlin-Steglitz dann für rehabilitiert. Wie die allermeisten NS-Verantwortlichen33 konnte somit auch Stuck seine Karriere fortsetzen. Ohnehin hatte er bereits fünf Wochen nach seiner Haftentlassung in Berlin bei beschränkter Arbeitserlaubnis eine neue Zahnarztpraxis übernommen, die ein emigrierter Kollege hinterlassen hatte. Im Oktober 1950 zog Stuck dann mit seiner Familie nach Westdeutschland, wo er in Krefeld eine eigene Praxis gründete. Seine Kassenzulassung endete Ende 1957; er blieb jedoch bis zum Jahreswechsel 1970/71 als Zahnarzt tätig. Daneben engagierte er sich für das in Köln beheimatete „Forschungsinstitut für Geschichte der Zahnheilkunde“. Seit 1962 war er wieder Mitglied der DGZMK; zudem hielt er „Verbindung zu nun führenden Persönlichkeiten des Zahnärztestandes“ wie Erich Müller und Fritz Witt.34
Stuck starb am 20. November 1974 in Uerdingen. Obwohl von ihm bis zum Jahr 1945 zahllose nationalsozialistische Äußerungen und Parolen dokumentiert sind, sah er sich selbst rückblickend nicht als „Nazi im landläufigen Sinne“ und „ein bedingungslos gläubiger Anhänger Hitlers“ sei er35 ohnehin nie gewesen.36
1933 klang dies noch durchaus anders, denn damals schrieb Stuck aus Anlass von Hitlers Geburtstag: „Der Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands grüßt in heiliger Zuversicht den geliebten Kanzler und Befreier aus tiefster deutscher Not.“37
Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2,
Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de
Fußnoten:
1 Heidel, 2007, passim; Groß/Schäfer, 2009, passim; Vogt, 2013, passim; Kirchhoff/Heidel, 2016, passim;
2 Diemer, 2013, Tab. 2, Anhang LXIf.;
3 Heidel, 2007, 203f.; Vogt, 2013, 29–32;
4 BArch R 9361-I/3575; Vogt, 2013, 35–41; Klee, 2013, 611;
5 Groß, 2020a;
6 Heit et al., 2020;
7 Stuck, 1933a;
8 Heidel, 2007, 204;
9 Heidel, 2007, 205;
10 Anonym, 1933; Bitterich/Groß, 2020;
11 Groß, 2018a;
12 Groß, 2018b; Groß/Schmidt/Schwanke, 2016;
13 Groß, 2020b;
14 Groß, 2018c;
15 Groß, 2020c
16 Groß, 2020d;
17 Groß/Schäfer, 2009, 114f.;
18 Euler, 1944; Stuck, 1943;
19 Heidel, 2008, 205–207; Vogt, 2013, 76–84;
20 Heidel, 2007, 208; Vogt, 2013, 30, 46f.;
21 Stuck, 1933b–1933f; Stuck, 1938a–1938b; Stuck, 1942a;
22 Stuck, 1938c;
23 Stuck, 1939;
24 Stuck, 1945;
25 Vogt, 2013, 39;
26 Vogt, 2014, 214–217, 218–228 u. 242–244;
27 Stuck, 1934; Guggenbichler, 1988, 108–111; Vogt, 2014, 242;
28 Vogt, 2013, 37;
29 Groß/Schäfer, 2009, 116 u. 276;
30 Groß, 2020e;
31 Forsbach, 2006, 314
32 Groß, 2019, 37f. u. 175–179;
33 Groß, 2018d; Groß/Krischel, 2020;
34 Vogt, 2013, 68f.;
35 Stuck, 1968, Bl. 5a;
36 Stuck, 1968, Bl. 6;
37 Klee, 2013, 611;