Schon wieder einer mit „Morbus Bosporus“
Rund 16 Millionen Menschen sind in Deutschland vulnerable Patienten, sagte Groß, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls der RWTH Aachen. „Patienten können aus verschiedenen Gründen vulnerabel sein.“ Er widmete sich in seinem Vortrag Menschen, die „sozial bedingt“ vulnerabel sind: Migranten und Patienten ohne Aufenthaltserlaubnis. Jeder Fünfte in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte, im Jahr 2050 voraussichtlich jeder Zweite.
Aufgrund der Kommunikationsprobleme werden sie mehr diagnostischen Untersuchungen unterzogen und erhalten mehr Arzneimittelverordnungen als ihre deutschstämmigen Mitbürger. Ärzte müssen also viel Zeit und Verständnis aufbringen, um herauszufinden, woran der Patient tatsächlich leidet. Dabei spielt auch eine Rolle, ob das Land, aus dem die Menschen kommen, ein ähnliches Gesundheitssystem wie Deutschland hat oder nicht. Auch die Frage, ob ein Patient seine Krankheit als schicksalhaft betrachtet oder darauf vertraut, aktiv etwas gegen die Beschwerden unternehmen zu können, ist wichtig.
Die Ärzte glauben den Patienten die Schmerzen nicht
Wer sich in einer fremden Sprache nicht auf Anhieb korrekt auszudrücken vermag, läuft Gefahr, dass Witze über ihn gemacht werden. Das führt zu Vorurteilen, die sich Groß zufolge zum Beispiel im negativ konnotierten Begriff „Morbus Bosporus“ niederschlagen – so bezeichnen manche Ärzte Patienten, die intensiv wehklagen und an deren Intensität der Schmerzen sie auch deshalb zweifeln. Auch „Morbus mediterraneus“, „anatolischer Schmerz“, „Morbus Balkan“ oder „Mamma-mia-Syndrom“ seien Stigmatisierungen für dieses Verhalten. Groß: „Es ist die Unterstellung einer ethnisch oder kulturell bedingten Andersartigkeit der Betroffenen.“
Klärungsbedürftig bleibe, ob hierbei tatsächlich eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit oder eine erhöhte beziehungsweise andersartige Schmerzäußerung vorliegt, sagt Groß. „Menschen mit unterschiedlicher kultureller Prägung artikulieren ihre Gefühle unter Umständen auf unterschiedliche Weise – als Ausdruck des jeweiligen kulturellen Codes.“ Auch bei Todkranken herrschten bei Patienten mit Migrationshintergrund oft andere Regeln als diejenigen, die Menschen hierzulande gewöhnt sind: Entscheidungen zu Behandlungen treffe häufig nicht der Patient, sondern das Familienoberhaupt.
Am besten nimmt man den Patienten an, wie er ist
Groß rät dazu, in der Zahnarztpraxis darauf zu achten, Patienten mit Migrationshintergrund mit ihren Eigenheiten anzunehmen. Wer aufmerksam und offen ist und keine Vorurteile hegt, signalisiere dem Patienten, dass er und seine Schmerzen ernst genommen werden. Die Anstellung von Fachpersonal mit Migrationshintergrund sei ebenfalls ein Weg, um eine bessere Verständigung zu ermöglichen.