„Nur wenn die Risiken unter Kontrolle sind, ist der Einsatz ethisch vertretbar“
Aus der Vignette erwächst ein echtes Dilemma: Dr. W. muss sich zwischen zwei Alternativen entscheiden, die beide per se einen hohen Wert besitzen. Entscheidet er sich dafür, den Studenten freie Hand zu lassen, ermöglicht er zwar den humanitären Einsatz der Studierenden, nimmt aber durch deren noch geringe Erfahrung und durch die mangelhafte Ausstattung der Einrichtung potenzielle Behandlungsfehler in Kauf. Fällt die Entscheidung hingegen für ein Behandlungsverbot, werden mögliche iatrogene Schäden für die Patienten vermieden, gleichzeitig ihnen aber notwendige Therapien verwehrt und zusätzlich das soziale Engagement und ein Erfahrungsgewinn der Studenten verhindert. Welches ist das höhere Gut? Zur Entwicklung einer ausgewogenen Entscheidung ist es hilfreich, die bewährte deduktive Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress zurate zu ziehen. Die beiden Autoren haben in ihrer Abhandlung keinem der vier Prinzipien (Wohltunsgebot, Nichtschadensprinzip, Patientenautonomie und Gerechtigkeit) einen ersten Rang zugewiesen.
Ethische Falldiskussion „Hilfsaktionen“
Diesem Themenaufriss folgt ein Erlebnisbericht über eine Auslandsfamulatur auf den Cook Islands. Die eigentliche Falldiskussion wird wie gewohnt von zwei Kommentaren (Kommentar 1/Kommentar 2) begleitet, hinzu kommt dieses Mal eine juristische Stellungnahme.
Der vorliegende Fall drängt uns jedoch dazu, der Einhaltung des Nichtschadensgebots genauere Aufmerksamkeit zu widmen. Die Studenten haben nach dem Abschluss des vorletzten Studienjahres erste Fertigkeiten in der konservierenden Zahnheilkunde erworben, während die Universitäten in der Regel keine nennenswerten chirurgischen Erfahrungsmöglichkeiten bieten. Die angehenden Zahnärzte werden mutmaßlich ordnungsgemäße und „schöne“ Zahnbehandlungen anstreben, die jedoch auch eine gewisse Zeit dauern. Durch den großen Andrang der Patienten werden sie sicherlich zeitlich überfordert, sie werden den Druck zu schnellerem Arbeiten spüren und laufen daher auch vermehrt Gefahr, Fehler zu machen. Diesem Umstand sollte durch eine zeitliche Entspannung der Taktung der Patienten begegnet werden. Die Patienten in den südamerikanischen Zahnstationen sind in aller Regel äußerst dankbar und geduldig – wie der Autor in drei Behandlungseinsätzen in Cuiabá, Brasilien, erfahren durfte.
Schildern Sie Ihr Dilemma!
Haben Sie in der Praxis eine ähnliche Situation oder andere Dilemmata erlebt? Schildern Sie das ethische Problem – die Autoren prüfen den Fall und nehmen ihn gegebenenfalls in diese Reihe auf.
Kontakt: Prof. Dr. Ralf Vollmuth, vollmuth@ak-ethik.de
Alle bisher erschienenen Fälle sowie ergänzende Informationen zur Prinzipienethik und zum Arbeitskreis Ethik finden Sie auf zm-online.de.
Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen können grundsätzlich bei den Therapien auftreten? Sehr häufig ist mit der Eröffnung der Pulpa zu rechnen. Daher wäre ein Instrumentarium für Wurzelkanalbehandlungen äußerst zweckmäßig und sollte organisiert werden. Die ungenügende Reinigung und Desinfektion der Instrumente wären durch einfache Sterilisatoren zu beheben. Bei Extraktionen sind als Komplikationen meist Wurzel- oder Alveolarfortsatzfrakturen zu nennen. Für ernstere Zwischenfälle sollte eine kieferchirurgische Klinik erreichbar sein. Das schließt auch allgemeinmedizinische Notfälle mit ein.
Die Industrie ist bei der Unterstützung humanitärer Einsätze erfahrungsgemäß sehr großzügig. Viele Dentalfirmen stellen gerne auch gebrauchte Röntgengeräte, Kompressoren und Sterilisatoren zur Verfügung. Letztlich hängt alles auch von einer guten Kommunikation und einem hohen Vertrauen zwischen W. und den Studenten ab, was aber eine gewisse Zeit zur Entwicklung benötigen wird.
Das Wohltunsgebot weist hingegen einen klaren Weg. Die meist gravierenden Zahnprobleme der Einwohner von Armutsgebieten in Brasilien, Venezuela oder Argentinien verlangen nach einer schnellen Hilfe.
Das Prinzip der Patientenautonomie beschreibt den Respekt gegenüber der freien Willensentscheidung und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Ein gründlicher „Informed Consent“, wie er in der deutschen Medizin anzustreben ist, wird aber wegen der Kommunikationsschwierigkeiten in Südamerika oft nicht möglich sein. Aus Gestik, Mimik und Wortklängen der Patienten kann man jedoch ihr Einverständnis ablesen. Bei klarem „Nicht-Einverstanden-Sein“ wäre natürlich die Behandlung zu unterlassen.
Das Prinzip der Gerechtigkeit schließt auch politische und soziale Aspekte mit ein. Die Einwohner brasilianischer und anderer südamerikanischer Favelas sind außerstande, einen regionalen Zahnarzt zu bezahlen. Sie würden ohne die Studenten keine der meist dringend notwendigen Zahnbehandlungen erhalten und oftmals starke Schmerzen aushalten müssen. Der Einsatz von W. und den Studierenden ist ein humanitärer Akt, der im Sinne der globalen Gerechtigkeit geschieht. Den oft anzutreffenden Spannungen mit regionalen Kollegen, die eine Abwanderung ihrer Patienten befürchten, ist durch eine gute Kommunikation zu begegnen.
Eine abschließende Synopsis ergibt die Forderung nach einer umfangreichen Zusammenarbeit mit verschiedenen Dentalfirmen und zahnärztlichen Vereinigungen, um eine bessere materielle Ausstattung der Zahnstation zu erreichen. Nur unter den genannten Voraussetzungen können die möglichen Risiken angemessen kontrolliert werden und der Einsatz wird ethisch vertretbar. Können alle diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden, ist die Verschiebung des Einsatzes von W. und der Studenten angezeigt, bis Abhilfe erfolgen kann. Die Möglichkeit des Erfahrungsgewinns und die humanistische Intention der Studenten treten in diesem Fall gegenüber der Forderung nach einer angemessenen Behandlung der Patienten zurück.
Dr. Stephan Grassl
MVZ Bayerwaldzahn
Neuburger Str. 49, 94032 Passau
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