Zwischen Humanitas und Justitia
Dr. W. hat sich vor fünf Jahren niedergelassen. Seit Längerem spielt er mit dem Gedanken, sich sozial zu engagieren. Nach reiflicher Überlegung entschließt er sich, in seinem Jahresurlaub im Rahmen einer Hilfsorganisation an einem zahnärztlichen Projekt in Südamerika teilzunehmen. Dort soll er mit anderen Teammitgliedern auf dem Gelände eines Klosters die Einwohner der umliegenden Dörfer zahnmedizinisch versorgen.
Nach seiner Ankunft werden ihm durch eine Mitarbeiterin der Organisation zwei Zahnmedizinstudenten zugeteilt. Beide haben gerade das vorletzte Studienjahr absolviert und beabsichtigen, ihr Studium im folgenden Jahr mit dem Staatsexamen abzuschließen. In einem ersten Gespräch betonen die beiden ihre humanitäre Motivation. Darüber hinaus hoffen sie, praktische zahnärztliche Erfahrung sammeln zu können, räumen aber auch ein, dass sie im Rahmen ihrer chirurgischen Ausbildung an der Universität bisher nur wenige einfache Extraktionen durchgeführt haben.
„Wir wollen einfach praktische Erfahrung sammeln“
Das vorhandene Instrumentarium besteht überwiegend aus einer überschaubaren Anzahl an (oft nicht vollständigen) Sätzen zahnärztlicher Grundbestecke und Akku-betriebenen Handstücken. Ein dentales Röntgengerät ist nicht vorhanden und auch bei der Reinigung und Desinfektion der Instrumente liegen die Möglichkeiten deutlich unter den aus Deutschland gewohnten Standards.
Ethische Falldiskussion „Hilfsaktionen“
Diesem Themenaufriss folgt ein Erlebnisbericht über eine Auslandsfamulatur auf den Cook Islands. Die eigentliche Falldiskussion wird wie gewohnt von zwei Kommentaren (Kommentar 1/Kommentar 2) begleitet, hinzu kommt dieses Mal eine juristische Stellungnahme.
„Hier ist so viel los! Ihr dürft frei entscheiden“
Nach einiger Zeit kommen W. allerdings Zweifel an diesem Vorgehen. Er ist sich über die rechtliche Situation nicht mehr ganz sicher und es stellen sich aus seiner Sicht insbesondere auch ethische Fragen:
In Deutschland dürfen – abgesehen von der universitären Ausbildung – nur approbierte Zahnärzte eigenständig behandeln. Nun soll er aber die Aufsicht über zahnärztlich praktizierende Studenten übernehmen, obwohl ihm (losgelöst von der rechtlichen Bewertung) zumindest die formale Qualifikation und damit die Befugnis fehlt, die beiden methodisch und fachlich zu beaufsichtigen. Kann er verantworten, dass den südamerikanischen PatientInnen durch die Studenten bei allem Idealismus aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung unter extremen Behandlungsbedingungen möglicherweise Schaden zugefügt wird?
Oder sind diese Bedenken eher akademischer Natur, wenn die Bevölkerung ohne die Hilfsorganisation und den Einsatz der Studenten überhaupt nicht zahnmedizinisch versorgt würde?
Und schließlich: Welche Rolle muss für ihn dabei die Motivation der beiden Studenten spielen, also die Frage, ob der humanitäre Antrieb zugunsten dieser Hilfsbedürftigen im Vordergrund steht oder nicht vielmehr der Erfahrungsgewinn, der möglicherweise auf die gesundheitlichen Kosten dieser Menschen geht?
Oberfeldarzt Dr. André Müllerschön
Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg
Werner-Heisenberg-Weg 39, 85579 Neubiberg
andremuellerschoen@bundeswehr.org
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam
vollmuth@ak-ethik.de