„Der Weg darf kein Argument gegen die Behandlung sein“
Im Zahnmobil herrscht wenig Wohlfühlatmosphäre. Egal, ob es draußen minus sechs oder 35 Grad im Schatten sind, ob die Patienten mit besonderen Bedürfnissen lieber kuscheln wollen, schreien oder sogar nach den ZFA grabschen, anstatt den Mund zu öffnen – ist der Einsatz geplant, organisiert und angesetzt, dann geht es raus für Dr. Blum und sein Einsatzteam.
Ein- bis zweimal in der Woche tauschen der Zahnarzt aus Bad Ems und seine drei Mitarbeiterinnen die bequeme Praxis mit Heizung und Klimaanlage sowie Stammpatienten gegen die mobile Zahnstation und besuchen Alten- und Pflegeheime. Mit im Gepäck ist dabei immer „der Respekt für diese Patienten, bei denen fast ausschließlich Hochrisikobehandlungen anstehen“, erklärt Blum. Die sorgfältige Strukturierung macht die Einsätze überhaupt erst praktikabel, aber gleichzeitig auch effizient und sogar rentabel.
Angefangen hat alles im Januar 2018. Damals mussten Blum und sein Team in der Klinik einen Patienten nach Einweisung durch den Notarzt mit einem sich stark ausbreitenden Logenabszess notfallmäßig operieren. Der Patient war zwei Wochen zuvor zu einer geplanten Sanierung in Vollnarkose nicht erschienen. Die Angehörigen hatten abgesagt wegen der vermeintlich zu hohen Belastung für den 83-jährigen, demenziell Erkrankten. Sie schätzten den Transport des Senioren als zu aufwendig ein. Für Blum der Schlüsselmoment, der ihn zum Handeln brachte: Wenn die Seniorinnen und Senioren nicht mehr in die Praxis oder Klinik kommen, müsse man eben zu ihnen fahren.
Wie kann die Versorgung zum Patienten kommen?
Bei vielen Gesprächen mit Angehörigen, Einrichtungen und anderen Praxen hörte der Oralchirurg immer wieder heraus, dass der (vermeintlich) aufwendige Transport und die Belastung dadurch ein Argument für eine Nichtbehandlung seien. So begann das Team um Blum aus zunächst drei Behandlern und sechs Mitarbeitern die ersten Kooperationen mit drei Altenpflegeheimen und zwei Behindertenwohneinrichtungen. Zuerst screenten und analysierten sie den Behandlungsbedarf. Immer mit der Frage im Kopf, wie die Versorgung umgedreht und die notwendigen Behandlungen nach Möglichkeit vor Ort angeboten werden können – voll- und gleichwertig.
„Zur Konzeptentwicklung unseres Zahnmobils gehörte auch, die zu erwartenden Schwierigkeiten durchzugehen“, erklärt Blum. „Der Mehraufwand, die Ausrüstung und natürlich die innere Bereitschaft, das Projekt – selbst wenn es anstrengend wird – durchzuziehen. Schnell war klar, dass wir aufgrund der vielen geistigen und körperlichen – und damit kooperativen – Einschränkungen der Patienten, eine mobile Versorgung benötigen, die auf diese Bedürfnisse ausgerichtet und überall einsetzbar ist.“ Das Zahnmobil musste also auch den Raum für eine intensive Sedierung und Narkoseführung sowie eine geregelte Aufwachzone bieten.
Ebenso musste eine mobile Röntgenlösung gefunden werden, die bis dato nicht zugelassen war. Über acht Monate habe sich die Planungs- und Genehmigungsphase für ein tragfähiges Konzept hingezogen, berichtet Blum. Dann nahm der Plan endlich Gestalt an: In einem 7,5 mal 2,2 Meter großen Abrollcontainer, der auf einem 26-Tonnen-LKW thronen sollte, wurde eine vollwertige Behandlungs- und OP-Einrichtung inklusive Narkosearbeitsplatz und Aufwachzone gebaut. Im März 2019 war es dann soweit: Das Team konnte endlich mit den Einsätzen beginnen.
Auch die Pandemie konnte sie nicht ausbremsen
Im ersten Jahr von Anfang 2019 bis zum Pandemiebeginn 2020 wurden so 37 Einsätze durchgeführt mit einem Honorarumsatz von 127.000 Euro. Rund 1.000 weitere Patienten wurden untersucht, befundet und beraten. „Mit der Corona-Pandemie kam es dann kurzzeitig zum Stocken der Einsätze mit dem LKW, da keine Einrichtung eine größere Ansammlung und eine Begegnung von Patienten untereinander wollte,“ erzählt Blum aus der Krisenzeit.
Das Team reagierte: „Also stellten wir das Konzept um und begannen mit einem nochmals gerätetechnisch verkleinerten, aber inhaltlich gleichen vollumfänglichen Konzept Heim für Heim jeweils ein bis drei Patienten in Form einer Rundtour zu versorgen.“ Dabei wurde von der PZR über die Extraktion in tiefer Sedierung bis hin zur Implantation jede gewünschte und nötige Leistung erbracht. Mit dem Abflachen des Infektionsgeschehens und dem Zugewinn an Erkenntnissen konnten im Herbst 2020 auch wieder große Versorgungen an Heimen erfolgen. Somit bestand die „rollende Versorgung“ ab Oktober 2020 aus LKW-Einsatztagen vor Heimen und aus einmal wöchentlichen Hausbesuchen für häuslich gepflegte Menschen mit dem Praxisauto.
„Unser Radius ist inzwischen auf 80 Kilometer angewachsen“
Von März 2020 bis März 2021 wurden so 67 Einsätze erfolgreich durchgeführt, über 2.200 Patienten gesichtet, behandelt und vor Ort versorgt – und über 205.000 Euro Honorar erwirtschaftet. „Unser operativer Radius ist inzwischen auf 80 Kilometer gewachsen, wir betreuen rund 16 Einrichtungen.“ Und so wird der Aufwand rentabel: „Während in meiner Praxis die Patienten erwarten, dass ich mich vor und nach der Behandlung umfassend kümmere, geht das bei unseren mobilen Einsätzen viel schneller. Meine Mitarbeiter planen und organisieren den Ablauf, übernehmen größtenteils die Aufklärung, so dass wir Behandelnde uns so ganz auf den operativen Teil konzentrieren können. Durch Strukturieren und Delegieren sind so mehr Einsätze möglich“, erklärt der Zahnarzt. Im besten Fall lässt sich so der Kontroll- und Behandlungszyklus von drei Monaten einhalten. Blum skizziert den Ablauf: „Wenn wir mit einer Einrichtung in Kooperation gehen, händigt diese uns die Dokumente zu Medikamenten, Anamnese und Diagnose aus. Dann fahren wir raus in die Einrichtungen und machen eine Triage vor Ort. Hier wird der Behandlungsbedarf festgestellt und für die Einwilligung an die Betreuung zurückkommuniziert. Dann planen wir unseren Einsatz mit Nachkontrollen und Neupatienten, bevor wir erneut rausfahren, um zu behandeln.“
Neben dem Aufbau des Mobils erzählt Blum auch von den organisatorischen Schwierigkeiten mit den öffentlichen Stellen: „Wir haben von Beginn an mit der Engstirnigkeit der Behörden, Organe und Verbände zu kämpfen. Bis heute sind hier kaum reale und pragmatische Lösungen gefunden – etwa warum wir in eine Kooperation gehen können und nach SGB V 119b zu Patient Werner (85 Jahre und dement) fahren dürfen, aber keine Kooperation eingehen können für einen Hausbesuch bei Patient Markus (23 Jahre mit hypoxischem Hirnschaden und schwerstbehindert), dessen Einrichtung nach SGB XII gelistet ist.“ Das sei schlicht fern der Lebensrealität. Ebenso wie der Hinweis, die Patienten stets und aus Respekt mit dem Nachnamen anzusprechen. „Das funktioniert oft einfach nicht, weil sie diesen gar nicht mehr wissen oder nicht darauf reagieren, da sie immer mit dem Vornamen angesprochen werden“, so Blum aus seiner Erfahrung. „Für uns zählt im Zahnmobil-Alltag, dass wir einen Zugang zu unseren Patienten finden.“
In Zukunft will Blum noch mehr Druck auf die Aufsicht führenden Organisationen und Verbände ausüben, „da es noch viel zu wenige Konzepte zur Versorgung der rund fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen gibt“.