Studie zum Nocebo-Effekt in der Zahnmedizin

Das ethische Dilemma der Patientenaufklärung

Ein internationales Forscherteam hat in einer narrativen Studie den aktuellen Wissensstand über den Nocebo-Effekt zusammengetragen und dabei besonders dessen Bedeutung für die Zahnmedizin analysiert.

Die Autoren aus Japan, Dänemark und Schweden definieren den Nocebo-Effekt so: „Während sich der Placebo-Effekt auf eine Verbesserung der Symptome bezieht, die durch psychosoziale Faktoren wie positive Erwartungen verursacht wird, äußert sich der Nocebo-Effekt in einer klinischen Verschlechterung, einer suboptimalen Behandlungswirksamkeit oder dem Auftreten unerwünschter Ereignisse, die vermutlich durch negative Erwartungen verursacht werden. Laut Definition sind Nocebo- und Placebo-Effekte unspezifisch, was bedeutet, dass die wahrgenommene Wirkung nicht durch einen pharmakologischen Wirkstoff, sondern durch unspezifische gemeinsame Faktoren (zum Beispiel Erwartungen) verursacht wird“ [Watanabe et al., 2022].

Insbesondere die Erwartungen der Patienten spielen also eine zentrale Rolle beim Nocebo-Effekt. In der zahnmedizinischen Praxis hat dieser Punkt besondere Relevanz, wenn es um die Aufklärung vor Behandlungen geht, da der Patient umfassend über die Behandlungsschritte sowie über Chancen und Risiken informiert werden muss. Gleichzeitig sollten auch eher selten eintretende Komplikationen nicht unerwähnt bleiben, obgleich diese den Patienten möglicherweise so beunruhigen, dass sie das Behandlungsergebnis verschlechtern könnten. Die Autoren bezeichnen dies als „ethisches Dilemma des Nocebo-Effekts“.

Die Patientenautonomie gebietet umfassende Aufklärung

Informationen dürften nicht zurückgehalten werden, weil die Autonomie des Patienten gewahrt werden muss, gleichzeitig könne man aber durch die Nennung von bestimmten Risiken oder Nebenwirkungen die Chance auf deren Eintreten erhöhen.

Während ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis sich positiv auf die Behandlungsergebnisse auswirken kann, gebe es umgekehrt Hinweise darauf, dass ein negatives Verhältnis einen Nocebo-Effekt auslösen kann. Ursächlich seien insbesondere mangelndes Vertrauen und eine fehlende Akzeptanz zwischen Patienten und Ärzten. Auch Angstgefühle seien eng mit dem Nocebo-Effekt verknüpft. Die Autoren vermuten hier eine bidirektionale Beziehung.

Ein Großteil des Wissens über den Nocebo-Effekt wurde indirekt, aus Placebo-Studien gewonnen. Beispielsweise hat man in einer Studie Patienten in zwei Gruppen unterteilt und jeweils mit einem aktiven Wirkstoff oder mit einem Placebo behandelt. Vorab fand eine Aufklärung über unerwünschte Arzneiwirkungen statt, die dann auch in beiden Gruppen auftraten, wobei bis zu 50 Prozent der Placebo-Gruppe darüber berichteten. Vermutet wird, dass die Erwartung des Eintritts von Nebenwirkungen jene hervorgerufen hat (Nocebo-Effekt). Auch in den aktiven Behandlungsgruppen wird geschätzt, dass der Anteil der durch den Nocebo-Effekt ausgelösten unerwünschten Nebenwirkungen und Ereignisse sehr hoch ist.

Die Angst vor Risiken triggert die empfundenen Nebenwirkungen

Die Forschenden schlussfolgern, dass schon die Information über mögliche unerwünschte Nebenwirkungen oder Ereignisse bei der Verabreichung von Medikamenten dazu führt, dass deren Eintreten um ein Vielfaches wahrscheinlicher wird. Deutlich wurde dies im direkten Vergleich mit einer Gruppe, die diese Informationen nicht erhielt. Diese sogenannte „negative verbale Suggestion“ habe dabei nicht nur Auswirkungen auf das Eintreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, sondern könne auch die Wirksamkeit von Medikamenten und Therapien herabsetzen oder gänzlich aufheben. Bemerkenswerterweise beruhen die Erkenntnisse nicht allein auf Patientenaussagen, sondern konnten auch in der Magnetresonanztomografie (MRT) nachgewiesen werden: Die Hirnbereiche, die für Schmerzempfinden verantwortlich sind, zeigten tatsächlich eine höhere Aktivität im MRT.

Die Datenlage zum Nocebo-Effekt in der Zahnmedizin ist dünn, wenngleich die Vermutung naheliegt, dass dieser im zahnmedizinischen Fachbereich eine zentrale Rolle spielt, da der Effekt eng mit Angst verknüpft ist und eine Wechselwirkung beider vermutet wird. Die Autoren führen zwei Studien an, die Hinweise auf den Nocebo-Effekt anhand von zahnmedizinischen Beispielen geben.

In einer Studie wurden die Teilnehmenden über eine Zahnaufhellung aufgeklärt, allerdings wurde das Bleaching nur in einer Gruppe tatsächlich durchgeführt, während die zweite Gruppe mit einem Placebo behandelt wurde. Trotzdem berichteten Teilnehmende beider Gruppen über Überempfindlichkeiten und Zahnfleischbrennen nach der Behandlung.

In einer weiteren Studie wurde den Patienten nach einer Weisheitszahnextraktion entweder Naloxon oder ein Placebo verabreicht. Vorab waren sie darüber aufgeklärt worden, dass das Placebo wirkungslos gegen die Schmerzen sei, während Naloxon zu einer Zunahme der Schmerzen führen könne. Mehr als 60 Prozent der Patienten, die das Placebo bekamen, berichteten über stärkere Schmerzen nach der Einnahme.

Eine weitere Studie zeigt, dass auch die Haltung des behandelnden Zahnarztes einen starken Einfluss auf das Befinden des Patienten haben kann. So wurden die behandelnden Zahnärzte informiert, dass den Patienten nach einer Weisheitszahnentfernung in einer Gruppe entweder Naloxon oder ein Placebo intravenös verabreicht wird, während Teilnehmende einer zweiten Gruppe entweder Naloxon, ein Placebo oder Fentanyl erhalten. Die Erwartungshaltung der Zahnärzte bei den Patienten in der zweiten Gruppe, die Infusion könne schmerzlindernd wirken, hatte positive Auswirkungen auf das Befinden der Patienten, während in der ersten Gruppe deutlich mehr Patienten über starke Schmerzen klagten. Tatsächlich hatten aber alle Patienten ein Placebo erhalten.

Die Beispiele zeigen den engen Zusammenhang zwischen negativen Erwartungen, die durch die Aufklärung der Patienten entstehen können, und dem tatsächlichen Eintreten eines Nocebo-Effekts. 

Welche Rolle spielt das Verhalten des Zahnarztes?

Die enge Verknüpfung von Angst und Nocebo-Effekt untermauert eine Studie, die feststellte, dass die postoperativen Schmerzen nach Zahnextraktionen bei ängstlichen Patienten viel stärker auftreten als bei nicht-ängstlichen. Die Autoren fassen deshalb zusammen, dass hinsichtlich des Nocebo-Effekts „verbale Suggestionen, die Beziehung zwischen Patient und Arzt, die Erwartungen der Patienten und die Angst Faktoren sind, die in der zahnärztlichen Praxis wahrscheinlich eine Rolle spielen, genau wie in anderen klinischen Bereichen“ [Watanabe et al., 2022].

Was also kann getan werden, um möglichst gute Behandlungsergebnisse zu erzielen und den Nocebo-Effekt abzuschwächen? Zunächst ist das Arzt-Patienten-Verhältnis ein wichtiger – und häufig beeinflussbarer – Baustein, bilanzieren die Forschenden. Sie schlagen vor, bei Aufklärungsgesprächen sensibel bei der Formulierung von Behandlungsrisiken zu sein, positive Umdeutungen zu wählen sowie die Patienten auch über den Nocebo-Effekt aufzuklären.

Originalpublikation: Watanabe T, Sieg M, Lunde SJ, Taneja P, Baad-Hansen L, Pigg M, Vase L: What is the nocebo effect and does it apply to dentistry? A narrative review. J Oral Rehabil. 2022 Jan 18. doi: 10.1111/joor.13306. Epub ahead of print. PMID: 35043415.

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