Wissenschaftsrat zur Digitalisierung

„Die Nicht-Nutzung von Daten kann Menschenleben kosten!“

Mit großem Nachdruck plädiert der Wissenschaftsrat dafür, dass Deutschland seine Defizite bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens aufholt. Das gelte für die Forschung wie auch für die Versorgung, betont das Gremium in einem Positionspapier. Die Risiken würden hierzulande gegenüber dem Nutzen vielfach überbetont.

Deutschland befindet sich bei der Digitalisierung gegenwärtig in einem dringend notwendigen Aufholprozess“, hält der Wissenschaftsrat in seinem neuen Positionspapier fest. Das gelte auch für das Gesundheitssystem. Erst in jüngerer Zeit seien dort verstärkte Anstrengungen erkennbar, heißt es in dem über 100 Seiten umfassenden Papier. Die Risiken der Digitalisierung und der Gesundheitsdatennutzung würden gegenüber den Chancen, die diese bieten, vielfach überbetont, rügt das Gremium, das die Bundesregierung in Fragen der Wissenschaft und Forschung berät. Die erheblichen Potenziale für die Gesellschaft und das Individuum seien hingegen weithin unbekannt. 

Der Mensch muss im Zentrum stehen

„Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, wie wichtig die Digitalisierung in Gesundheitsforschung und Versorgung für Wohlstand, Unabhängigkeit und Innovationskraft des Standorts Deutschland ist, aber vor allem für den einzelnen Menschen und sein Wohlergehen“, betonte Prof. Dr. Dorothea Wagner, Vorsitzende des Wissenschaftsrats und Professorin für Algorithmen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), bei der Vorstellung des Papiers: „Die Nicht-Nutzung von Daten kann Menschenleben kosten.“

Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein

Für den Wissenschaftsrat gibt es zwei Prämissen bei der Digitalisierung: Der Mensch muss im Zentrum stehen. Für ihn muss die digitalisierte Forschung und Versorgung einen erkennbaren Mehrwert haben. Und: Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein, sie muss zu spürbaren Verbesserungen für den Menschen führen – etwa zu mehr Zeit und Zuwendung für den Patienten.

Übergeordnetes Ziel zur Umsetzung der Digitalisierung soll demzufolge die datenbasierte Vernetzung aller relevanten Akteure, Einrichtungen und Dateninfrastrukturen des Gesundheits- und Wissenschaftssystems sein – auch über Sektorengrenzen hinweg. Das Gremium empfiehlt dazu folgende Maßnahmen: 

  • Der Gesetzgeber sollte die Umsetzung einer einheitlichen Datenerfassung nach internationalem Standard und die Interoperabilität von IT-Systemen dringend forcieren.

  • Übergeordnetes Ziel sollte der Aufbau einer mit der Forschung kompatiblen, dezentralen, vernetzten, nationalen Gesundheitsdateninfrastruktur sein. Sie soll den Austausch und das Zusammenführen von Daten aus unterschiedlichsten Quellen, Datenspeichern und Systemen in einem reibungslosen Ablauf ermöglichen.

  • Dem Bund wird empfohlen, ein nationales Gesundheitsforschungsdatenportal zu implementieren, um über die dezentral verorteten Gesundheitsdatenbestände der öffentlichen Hand zu informieren und Forschende beim Zugang zu diesen Beständen zu unterstützen. Es wäre zu prüfen, ob dieses Portal als zentrale Zugangstelle zu den dezentralen Datenbeständen fungieren sollte.

  • Der Umgang mit sensiblen, personenbezogenen Daten müsse so gestaltet sein, dass die Schutzansprüche und Sicherheitsanforderungen mit dem berechtigten Interesse an der Nutzung dieser Daten in Einklang gebracht werden. Die Datenschutz-Grundverordnung bietet für den Wissenschaftsrat hierfür die erforderlichen Grundlagen.

  • Die bereits laufenden großen Maßnahmen zur Datenvernetzung sollten enger zusammengeführt werden (Telematikinfrastruktur, Forschungsdatenzentrum Gesundheit beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Konsortien der Medizininformatik-Initiative, Nationale Forschungsdateninfrastruktur, Netzwerk Universitätsmedizin). Gesundheits- und Forschungsdaten sollten dabei nicht getrennt betrachtet werden.

  • Das von der Bundesregierung geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz sollte rasch auf den Weg gebracht werden, einschließlich der Regelung zur forschungsbezogenen Nutzung bestimmter Gesundheitsdaten über ein Opt-out-Verfahren (etwa bei der elektronischen Patientenakte).

  • Neben der nationalen Ebene sollte auch die Vernetzung auf europäischer Ebene strategisch in den Blick genommen werden.

Wichtig sei, die Universitätsmedizin in die Lage zu versetzen, die Potenziale der Digitalisierung zu stärken: Dazu gehörten der Aufbau digitaler Kompetenzen auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für sämtliche Gesundheitsberufe, die Etablierung neuer Berufsbilder wie Medical und Clinical Data Scientists und auch die Entwicklung sicherer und wirksamer digitaler Versorgungsangebote. 

Größter Treiber ist die Universitätsmedizin

Der Wissenschaftsrat sieht die Universitätsmedizin aufgrund ihrer Verschränkung von Forschung, Lehre und Versorgung als wesentlichen Treiber der Digitalisierung in Gesundheitsforschung und Versorgung an. Diese müsse auf ein breites System von Daten zurückgreifen und regionale Netzwerke etablieren und koordinieren können. Dazu müsse sie allerdings finanziell entsprechend ausgestattet sein. Bund und Ländern rät der Wissenschaftsrat, sich über die finanzielle Lastenverteilung zu verständigen.

Zur Bewältigung der enormen Finanzierungsbedarfe sollten auch Kooperationen mit der Industrie (Private Public Partnerships) erwogen werden. Generell sei eine enge Kooperation von Wissenschaft und Industrie wichtig, da die Industrie für die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die konkrete Produktentwicklung unerlässlich sei.

Das Gutachten des Wissenschaftsrats finden Sie hier:https://doi.org/10.57674/bxkz-8407

So macht es das Ausland

  • Finnland: Die Finnish Social and Health Data Permit Authority (Findata) ist die zentrale Antragsstelle für Vorhaben mit vernetzten Datensätzen für Wissenschaft, Behörden und die industrielle Forschung. Ein zweigleisiges Antragsverfahren unterscheidet zwischen der Freigabe für aggregierte Datensätze und einer Anforderung pseudonymisierter Gesundheitsdaten in einem Cloud-Dienst. Die Forschung profitiert von einem hohen Grad an elektronischer Datenqualität und Datenstruktur.

  • Frankreich: Über den französischen Health Data Hub haben öffentliche und industrielle Forschung einen zentralisierten Zugriff auf Datenquellen verschiedenster Akteure im Gesundheitswesen. Höchstmögliche Sicherheitsstandards und Transparenz gegenüber der Bevölkerung prägen die Organisation, die hauptsächlich administrative Aufgaben wahrnimmt und Datensätze zusammenträgt.

  • Niederlande: Forschungsvorhaben in den Niederlanden sehen sich derzeit noch mit einer hohen Bürokratielast konfrontiert. Eine zentrale Antragsstelle existiert bisher nicht. Stattdessen verwalten über 200 Register und Organisationen ihre Daten selbst. Die Industrie erhält Antragsrechte, es bestehen jedoch hohe Auflagen bezüglich informierter Einwilligung, Nachweisen der Datensparsamkeit und anderer Voraussetzungen für Forschungsanträge.

  • Portugal: Das Land hat mit den Servicos Partilhados do Ministério da Saúde (SPMS) eine eigene Behörde für die Digitalisierung im Gesundheitswesen, die regelmäßig über ein Portal aggregierte Datensätze und Kennzahlen rund ums Gesundheitssystem veröffentlicht. Die Behörde ist zwar keine zentrale Antragsstelle für Forschungsvorhaben, ist aber de facto eine wegweisende Institution für Anträge und unterstützt dabei, Datensätze von anderen Organisationen zu akquirieren.

  • Vereinigtes Königreich: Dort gibt es parallele Strukturen auf verschiedenen Ebenen, wie das Health Data Research UK oder das Integrated Research and Application System im National Health Service (NHS) England. Die öffentlich-akademische sowie die industrielle Forschung haben hier Antragsrechte. Das Prinzip der Widerspruchsoption (Opt-out-Verfahren) findet im gesamten Vereinigten Königreich Anwendung. 

Quelle: Rainer Thiel et al.: „Stand und Perspektiven der Gesundheitsdatennutzung in der Forschung – Eine europäische Übersicht“, empirica Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung mbH, Mai 2021

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