Gesundheitskioske lotsen in die passende Versorgung
Nachdem es in Hamburg erfolgreich etabliert wurde, hat das Konzept der Gesundheitskioske auch im Koalitionsvertrag der Ampel seinen Niederschlag gefunden: SPD, Grüne und FDP haben dort die Einrichtung von Gesundheitskiosken in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen vereinbart. Vor Kurzem wurde bekannt, dass sogar ein entsprechendes Gesetzesvorhaben in Vorbereitung ist, die Gespräche laufen. Weitere Informationen wie Eckpunkte oder einen Zeitplan hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) allerdings noch nicht veröffentlicht.
Hamburg hat es vorgemacht: Ab 2017 gingen die bundesweit ersten Gesundheitskioske in den sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen Billstedt, Mümmelmannsberg und Horn an den Start. Ziel ist der Abbau sozialer Ungleichheiten und eine gesundheitliche Chancengleichheit bei Prävention und Versorgung. In den Stadtteilen leben überdurchschnittlich viele Empfänger von Sozialleistungen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Alleinerziehende. Chronische Krankheiten treten früher und häufiger auf und das durchschnittliche Sterbealter ist niedriger als im Hamburger Durchschnitt. Außerdem gibt es dort deutlich weniger Haus- und Fachärzte als in anderen Stadtteilen Hamburgs.
Für die Umsetzung des Gesundheitskiosks in Hamburg ist eine zentrale Koordination eingerichtet worden, die das Netzwerk aufbaut und steuert und die Verhandlungen mit Projektpartnern führt. Hierfür wurde 2016 die regionale Managementgesellschaft „Gesundheit für Billstedt/Horn UG“ gegründet. Gesellschafter sind das Ärztenetz Billstedt-Horn e. V., der Gesundheitskiosk e. V., die SKH Stadtteilklinik Hamburg GmbH und der NAV-Virchow-Bund – Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e. V. Die Grundidee eines solchen Netzwerks wird übrigens schon seit über zehn Jahren in Baden-Württemberg mit der Initiative Gesundes Kinzigtal umgesetzt.
Der Ansatz der Hamburger: Durch eine weitreichende Vernetzung von Ärzteschaft, Pflegeheimen, Stadtteilkliniken, Sportvereinen, Schulen und Krankenkassen wird die Eigenverantwortung von Patienten gestärkt, die Ärzte werden entlastet und die Kosten für die Gesundheitsversorgung gesenkt. Ärztlicherseits steht dahinter das Ärztenetzwerk Billstedt/Horn, also die Ärzte, die vor Ort mitmachen und ihre Patienten bei Bedarf an die konkreten Beratungs- und Förderungsangebote der Kioske über- und verweisen können. Die Kioske haben Lotsenfunktion zwischen der örtlichen medizinischen und der sozialen Infrastruktur.
Gezielte Schulung und Kultursensible Betreuung
Die Mitarbeitenden verweisen an die Ärzte und begleiten die Menschen vor Ort auf ihrem Weg in eine geeignete Behandlung. Im Gesundheitskiosk arbeiten sieben Gesundheitsfachkräfte im Sinne des neu geschaffenen Berufsbilds der „Community Health Nurse“ – darunter Pflegewissenschaftler, Pflegefachkräfte, Gesundheitswissenschaftler und Medizinische Fachangestellte. Zur Vorbereitung haben die Mitarbeiter ein umfassendes Schulungsprogramm am Institut für Allgemeinmedizin und Poliklinik (IPA) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf durchlaufen und bei den in Billstedt und Horn niedergelassenen Ärzten, Stadtteileinrichtungen und Verbänden hospitiert. Die Beratungskräfte stammen aus verschiedenen Kulturen und können entsprechend kultursensibel auf die Patienten eingehen. Mit den im Team gesprochenen acht Sprachen (Polnisch, Türkisch, Russisch, Farsi/Dari, Portugiesisch, Spanisch und Englisch), die im Stadtteil besonders häufig sind, können sie viele der Menschen mit Migrationshintergrund auch in ihrer Muttersprache betreuen.
Zum Kiosk kommen Menschen mit ganz unterschiedlichem Behandlungsbedarf. Thematisch geht es um ein breites Spektrum – etwa um die Suche nach dem richtigen Haus- und Facharzt, um Hilfe beim Verstehen von Arztbriefen, um Beratung zu Prävention, Bewegung und Ernährung, Schwangerschaft, Erziehung, Vorsorge oder Pflege. Gelegentlich kommen auch zahnmedizinische Themen zur Sprache. Die Patienten können auf Empfehlung ihres Arztes, einer sozialen Einrichtung oder auf eigene Initiative in den Gesundheitskiosk kommen. Das Erstgespräch dauert in der Regel 45 bis 60 Minuten.
„Gesundheitskioske vermitteln den Menschen Gesundheitswissen, stärken die Gesundheitskompetenz und tragen zu einer präventiv wirkenden Gesundheitsversorgung bei. Die enge Kooperation mit den niedergelassenen Haus- und Fachärzten garantiert eine qualifizierte und gleichzeitig niedrigschwellige Versorgung, die in vielen Muttersprachen erfolgt. Damit wird auch eine kultursensible Versorgung gewährleistet.“
Alexander Fischer, Geschäftsführer Gesundheit für Billstedt/Horn UG
Die Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz unterstützt das Projekt. Finanziert wurde es von 2017 bis 2019 vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) mit Mitteln der gesetzlichen Krankenkassen. Das Projekt ist kürzlich vom Innovationsausschuss des G-BA für die Regelversorgung empfohlen worden. Seit dem 1. Januar 2020 wird das Modell von den vier Krankenkassen AOK Rheinland/Hamburg, DAK-Gesundheit, BARMER und Techniker Krankenkasse im Rahmen von Selektivverträgen finanziert und dauerhaft weitergeführt. Für die Nutzenden des Kiosks ist das Angebot kostenlos.
Das Hamburg Center for Health Economics (HCHE) hat zu dem Projekt eine umfangreiche wissenschaftliche Evaluation veröffentlicht. Demnach schaffen die Kioske für die Menschen einen besseren Zugang zur Versorgung, erhöhen die Zufriedenheit der Patienten und entlasten die Ärzteschaft. Über die Wirtschaftlichkeit konnten keine belastbaren Aussagen getroffen werden, hierzu sei der untersuchte Zeitraum noch zu kurz, hieß es.
Weitere Kioske nach Hamburger Vorbild
Inzwischen sind auch in anderen Städten Deutschlands – vornehmlich in Nordrhein-Westfalen – weitere Gesundheitskioske nach dem Hamburger Vorbild eröffnet worden:
Köln: Das Netzwerk „dieKümmerei“ hat im September 2021 ihre erste Quartierszentrale in Köln-Chorweiler eröffnet, einem Stadtteil, in dem Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status leben. Das neunköpfige Team ist multiethnisch, mehrsprachig und multidisziplinär aufgestellt und unterstützt die Bürgerinnen und Bürger bei allen Gesundheits- und Sozialthemen: So begleiten die Mitarbeitenden sie zum Beispiel bei Arztbesuchen und Behördengängen, beraten und übersetzen, vermitteln an Einrichtungen vor Ort. Aufgebaut wird das Netzwerk von der HerzNetzCenter GmbH gemeinsam mit der AOK Rheinland/Hamburg, der Stadt Köln und den vor Ort bereits engagierten Akteuren und Initiativen. Insgesamt zwölf Sprachen sprechen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der „Kümmerei“. Die Mitarbeitenden decken unter anderem die Kompetenzbereiche medizinische Versorgung, Case Management und Pflege ab. Das Angebot ist aktuell für Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg und der IKK classic kostenlos. Hervorgegangen ist „dieKümmerei“ aus einem seit 2008 bestehenden Versorgungsvertrag der AOK Rheinland/Hamburg mit der HerzNetzCenter GmbH.
Aachen: Am 1. April 2022 wurde der erste Gesundheitskiosk in den Aachen-Arkaden, unweit des Bahnhofs Rothe Erde, eröffnet. An den Start gebracht wurde dieser von der AOK Rheinland/Hamburg und der StädteRegion Aachen. Trägergesellschaft ist die Sprungbrett GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der StädteRegion. Beraten werden soll auch aufsuchend, etwa im Rahmen eines Stadtfestes oder anlässlich der Öffnung der Tafel. Das neue Angebot kann von allen Bürgern – unabhängig von der individuellen Krankenkassenzugehörigkeit – genutzt werden.
Essen: Der erste Gesundheitskiosk der Stadt wurde im April 2022 in Altenessen in den Räumen der Alten Badeanstalt eröffnet – ein weiterer in Katernberg ist geplant. Dort arbeitet ein Team aus vier medizinisch ausgebildeten, mehrsprachigen Mitarbeitenden. Das Angebot kann von allen Bürgern – unabhängig von der individuellen Krankenkassenzugehörigkeit – kostenfrei genutzt werden. Das Team vermittelt Gesundheitswissen möglichst leicht verständlich und zielgruppengerecht. Aufgebaut wurde der Gesundheitskiosk nach dem Hamburger Modell auf Initiative unter anderem des Netzwerks Gesundheitskiosk; finanziert wird er durch die Stadt Essen und die AOK Rheinland/Hamburg. Betreiber ist die Gesundheit für Essen gGmbH, eine Managementgesellschaft, die für den Betrieb der Essener Gesundheitskioske gegründet wurde.
Weitere Gesundheitskioske in Solingen, Duisburg und Krefeld sind nach Auskunft der AOK Rheinland/Hamburg in Vorbereitung.
Eine Frage der Finanzierung
Ob das niedrigschwellige Angebot der Gesundheitskioske tatsächlich bald in ein Gesetzesvorhaben einfließt, bleibt abzuwarten. Schließlich bestehe Reformstau „an allen Ecken und Enden in der Gesundheitspolitik“, hieß es bei einer Diskussionsveranstaltung des AOK-Bundesverbands Anfang Juli mit Wissenschaftlern und Politikern. Und das betreffe nicht nur den Bereich der vulnerablen Gruppen.
Die konkrete Ausgestaltung müsse auch noch ausverhandelt werden. Mit Gesundheitskiosken und Netzwerken allein sei es nicht getan. Es brauche zudem die Bereitschaft vor Ort und schnittstellenübergreifende Konzepte, hieß es. Zu differenzieren sei auch zwischen der Versorgung in der Stadt und auf dem Land. Außerdem müssten andere Konzepte mit einbezogen werden, etwa die Arbeitsteilung von Ärzten mit Community Health Nurses. Letztlich stehen und fallen solche Konzepte aber mit der Finanzierung.
Fakten
Neun Sprachen – darunter Farsi und Russisch – sind im Team vertreten.
Rund 50 Prozent der Besucher kommen über Arztzuweisung.
Beratungsthemen sind Ernährung, Bewegung und Sport, Gesundheitssystem, psychische Belastung, Raucherentwöhnung, Stress, Hilfe bei Anträgen.
Aktuell versorgen über 150 Partnerorganisationen 6.000 Versicherte.
Aktuell haben 61 Mitglieder im Ärztenetz 2.000 Überweisungen an den Gesundheitskiosk ausgestellt.
Insgesamt 32 Arztpraxen sind als feste Partner bei der Gesundheit für Billstedt/Horn aktiv.
Es gibt neun sektorenübergreifende Gesundheitsprogramme für Risikopatienten (Diabetes, Herz, Rücken, COPD, Onkologie, Depression).
Es stehen über 100 Gesundheitsangebote der Einrichtungen, Vereine und sonstigen Anbieter (social Care) zur Vermittlung der Patienten als Kooperationspartner bereit.
Es gibt 58 Veranstaltungen für Ärzte (CME-zertifizierte Fortbildungen wie etwa FORTA, Qualitätszirkel oder Ärztenetztreffen)
Über 15.000 Beratungsgespräche haben für 6.000 Versicherte durch mehrsprachige Community Health Nurses stattgefunden.