„Erhalte Deinen Zahn und Deine Papille!“
„Die Kariologie des Alterns“ – das klingt schon fast nach einer neuen Wissensdisziplin, also nach dem Fokus Wissenschaft. Werden Sie künftig mehr forschen als heilen?
Prof. Dr. Carolina Ganß:
Das ist eine gemeine Frage für jeden, der in der Medizin arbeitet und Menschen zu mehr Gesundheit verhelfen will. Ich sage es mal pragmatisch: Mein Antrieb ist, heute zu forschen, um morgen besser heilen zu können. Aber speziell die Fragestellungen, die mich interessieren, sind eigentlich nur klinisch zu beforschen und da geht beides sowieso zusammen.
Mit dem Alter verändern sich die Bedingungen in der Mundhöhle. Was weiß man heute über die Kariesrisikofaktoren im Verlauf der Lebensspanne, die „Kariologie des Alterns“?
Es gibt viele Faktoren, die im Verlauf des Älterwerdens Einfluss auf die Verhältnisse im Mundraum nehmen: Veränderungen im Stoffwechsel, in der Leistung der Speicheldrüsen, aber auch Allgemeinerkrankungen, Medikamente und vieles andere mehr haben Einfluss auf das Kariesrisiko. Das bedeutet, dass die Mundgesundheit plötzlich aus der Balance geraten kann. Ganz offensichtlich ist das bei schwerwiegenden Erkrankungen mit nebenwirkungsreichen Therapien wie Tumorerkrankungen.
Was wir sicherlich noch nicht so auf dem Schirm haben, sind die Effekte von Therapien, die scheinbar wenig Wirkungen in der Mundhöhle haben, beispielsweise blutdrucksenkende Medikamente, die den Speichelfluss verringern können. Der Verbrauch speziell dieser Medikamente hat im vergangenen Jahrzehnt enorm zugenommen. Ein anderes Problem ist die Polypharmazie, also die gleichzeitige und dauerhafte Einnahme vieler Arzneimittel, die einigen Studien zufolge über 40 Prozent der über 65-jährigen betreffen. Wenn man international Literatur zu Polypharmazie sucht, gibt es fast 13.000 Treffer – aber nur 48, wenn man nach Polypharmazie und Speichel sucht. Dabei hat eine aktuelle Publikation aus der Ship-Studie ganz klar gezeigt, dass potenziell xerogene Medikamente und Polypharmazie einen deutlichen Einfluss auf die Speichelfließraten haben.
Das Thema Karies schien mit den Erfolgen in der Kariesreduktion in der Spur zu sein – bis die Wurzelkaries in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus geriet. Was ist da passiert?
Wenn immer mehr Zähne bis ins hohe Alter erhalten bleiben, können diese natürlich auch eine Wurzelkaries entwickeln – sofern Rezessionen vorliegen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob der stärkere Fokus tatsächlich mit einer Zunahme der Prävalenz einhergeht, jedenfalls geben das die Daten der letzten Mundgesundheitsstudie nicht her.
Es scheint sogar ein gewisser Rückgang vorzuliegen. Das geht auch einher mit einer Abnahme der Prävalenz von Parodontalerkrankungen sowohl bei jüngeren Erwachsenen als auch bei jüngeren Senioren. Dennoch zeigen 12 Prozent der jüngeren Erwachsenen und 28 Prozent der jüngeren Senioren mindestens eine kariöse oder gefüllte Wurzeloberfläche. Was Wurzelkaries aber sicherlich in den Fokus geraten lässt, ist, dass sie oftmals sehr schwierig zu behandeln ist und der Erfolg von Restaurationen nicht immer so eintritt, wie wir es uns wünschen.
Wie sieht es mit den restaurativen Behandlungsmöglichkeiten aus?
Die Versorgung koronaler Karies kennt an sich keine altersbezogenen Faktoren – außer vielleicht Fragen von Compliance. Wenn wir es mit Wurzelkaries zu tun haben, gibt es verschiedene Herausforderungen: Allein schon die Zugänglichkeit und die Tatsache, dass die Pulpa oftmals relativ schnell erreicht wird, können Schwierigkeiten bereiten. Ein anderes Problem ist die Frage der Trockenhaltung und der Matrizentechnik und damit auch die Frage nach geeigneten Materialien.
Vor einiger Zeit habe ich eine Wurzelkaries am Zahn 26 distal approximal unter Amalgam versorgt (der 27 war da), nachdem ich mühsam mit dem OP-Mikroskop exkaviert hatte – das sollte eine dauerhafte und gute Lösung sein. Manch eine Läsion muss auch gar nicht gefüllt werden – es kann auch ausreichend sein, zu exkavieren und die Wurzeloberfläche dann zu belassen, sofern sie gut gereinigt werden kann. Oder man behandelt palliativ, wenn der Allgemeinzustand des Patienten / der Patientin nichts anderes zulässt. Das zeigt, dass man hier viele Optionen hat und auch mal kreativ sein muss.
Was bedeutet das für die klinische Praxis? Müssen wir uns mit Wurzelkaries abfinden?
Nein, das müssen wir nicht. Ich sehe vor allem in der Prävention noch viel Potenzial. Allerdings sehe ich das nicht so sehr bei Fluoriden, die sind sicherlich hilfreich, aber in ihrer Wirksamkeit im Vergleich zu koronaler Karies doch limitiert. Hier wäre es natürlich wünschenswert, wenn wir effektivere Wirkstoffe hätten. Allerdings unterliegen die Mundhygieneprodukte der Kosmetikverordnung und da ist die Palette der Wirkstoffe, die eingesetzt werden können, limitiert.
Was ich aber viel wichtiger finde, ist die Frage der Mundhygiene. Wir haben in aufwendigen Studien die Zahnputztechniken bei Erwachsenen untersucht. Die Videobeobachtungen haben deutlich gezeigt, dass die angewandten Putztechniken – sagen wir es mal vorsichtig – „suboptimal“ sind. Wir haben ja heute hervorragende Geräte für die häusliche Plaque-Entfernung – man muss sie aber richtig nutzen. Da gibt es viel Potenzial und da möchte ich auch ansetzen. Wir haben beispielsweise begonnen, unseren Patientinnen und Patienten ihre Mundhygienesituation anhand von 3-D-Visualisierungen zu zeigen. Wir färben Plaque an und machen einen Intraoralscan. Da gibt es für viele einen erheblichen Aha-Effekt und im Ergebnis trainieren wir dann Hands-on. Beim nächsten Termin können die Patienten dann im Intraoralscan sehen, ob sie sich verbessert haben und wo noch „Luft nach oben“ ist.
Mundhygienetraining bei Erwachsenen war bislang eher ein Stiefkind in der Prävention …
Ich bin aber fest der Überzeugung, dass da erheblich mehr Potenzial drin steckt, als wir bislang angenommen haben. Generell sollte die Mundhygiene ja nicht erst dann in den Blick geraten, wenn ein Problem auftaucht – sei es Wurzelkaries oder Parodontitis. Man sollte das Präventionsmotto „Erhalte Deinen Zahn“ auf die Formulierung „Erhalte Deinen Zahn und Deine Papille“ erweitern.
Inwieweit kann da die Technik beim Zähneputzen helfen? Es gibt ja inzwischen elektrische Zahnbürsten, die beim Putzen alles Mögliche steuern und rückmelden.
Die Technik kann zwar einiges an Komfortfunktionen bereitstellen, dennoch wird man das Zähneputzen nicht in einen Prozess verwandeln können, bei dem der Patient wie in der Autowäsche im Auto sitzt und nichts tun muss, während die Bürsten ihrer Arbeit nachgehen. Mundhygiene und Zähneputzen werden auf absehbare Zeit ein selbstverantwortlicher Prozess bleiben, zu dem wir motivieren müssen.
Welche Risikogruppen sind im Verlauf des Älterwerdens besonders kariesgefährdet?
Da sind vor allem Patientinnen und Patienten zu nennen, die unter – teils schweren – Allgemeinerkrankungen leiden und entsprechende Medikationen benötigen. Wie bereits erwähnt können gerade Medikamente einen erheblichen Einfluss auf das Kariesrisiko haben. Wenn dann kognitive und/oder motorische Einschränkungen hinzukommen, muss dringend gegengesteuert werden.
Wird das zu den Schwerpunkten Ihrer künftigen Arbeit gehören?
Ja, ich habe mir im Wesentlichen zwei Bereiche herausgesucht, die mir wichtig für die Entwicklung der „Kariologie des Alterns“ sind. Zum einen will ich mich für die große Gruppe der „jüngeren Älteren“ einsetzen und insbesondere das Mundhygienetraining bei Erwachsenen entwickeln und popularisieren. Prävention ist nicht nur für Kinder und Jugendliche richtig, sondern lebenslang für alle Altersgruppen. Zum anderen möchte ich die Entwicklung von Versorgungskonzepten für die oft zahlenmäßig nur kleinen Risikogruppen wie Tumor- und Bisphosphonatpatienten vorantreiben.
Das Gespräch führte Benn Roolf.