Knackis und Karies
In US-Gefängnissen wird wenig behandelt und viel extrahiert. Das ist hierzulande in manchen Justizvollzugsanstalten zwar nicht unbedingt anders (siehe Interview auf Seite 66). Der Unterschied ist jedoch: Eine Grundversorgung mit Zahnersatz wie in Deutschland bleibt in US-Gefängnissen für die meisten Inhaftierten ein unerreichbarer Traum. Denn sie haben nur dann einen Rechtsanspruch auf eine prothetische Versorgung, wenn sich weniger als acht Seitenzähne in Okklusion befinden.
Laut dem Public Broadcasting Service (PBS) gibt es viele Gründe, warum die Inhaftierten bereits mit einer erbärmlichen Mundgesundheit ins Gefängnis kommen – langjähriger Drogenmissbrauch ist nur einer davon. Denn mehr als 76 Millionen Erwachsene in den USA haben dem Carequest Institute for Oral Health zufolge keine Zahnversicherung. Das bedeute, dass viele Gefängnisinsassen hinter Gittern nach langer Zeit mal wieder oder zum ersten Mal überhaupt bei einem Zahnarzt auf dem Stuhl liegen.
Die Behandlung hinter Gittern darf nichts kosten
In der Haft verschlimmert sich deren Situation laut PBS allerdings häufig noch. Denn die festgelegten Behandlungsgrundsätze begünstigen Extraktionen als schnelle und kostengünstige Therapie bei beinahe jeder Art von Zahnschmerzen. Gleichzeitig herrscht bei den privaten Versorgungsanbietern ein enormer Druck, die Behandlungskosten so gering wie möglich zu halten (siehe Kasten).
Grundsätzlich muss eine prothetische Versorgung vom "Regional Chief Dentist" bewilligt werden. Voll- und Teilprothesen sind dabei nur möglich, wenn Insassen Haftstrafen von mehr als drei Jahren verbüßen und „einen Mangel an Zähnen für eine ausreichende Kaufunktion“ aufweisen. Zudem sollen derartige Maßnahmen zurückgestellt werden, wenn mindestens eine der folgenden Bedingungen vorliegt:
ein Haftende in weniger als sechs Monaten,
eine aktive Karies oder „nicht wiederherstellbare Zähne“,
eine chronische Infektion,
eine nicht abgeschlossene Behandlung,
schlechte Mundhygiene oder
eine schlechte parodontale Gesundheit.
Würde in Deutschland ein vergleichbares Regelwerk gelten, bekäme womöglich auch hierzulande der Großteil der Gefangenen keine ausreichende Versorgung. Wissenschaftliche Daten zur Zahngesundheit Strafgefangener in Deutschland sind rar. Die jüngsten Hinweise zum Behandlungsbedarf und zur Versorgungssituation liefert die Doktorarbeit von Elena Wissmann aus dem vorvergangenen Jahr, die den Stand von April 2019 abbildet. Die Insassen bestanden zu 3 Prozent aus 18- bis 20-Jährigen, zu 27 Prozent aus 20- bis 29-Jährigen, zu 57 Prozent aus 30- bis 49-Jährigen und 13 Prozent waren älter als 50.
Trotz nahezu repräsentativer Altersverteilung der Stichprobe ist der Autorin zufolge die Analyse nicht auf die gesamtdeutsche Situation übertragbar. Weitere Einschränkung: Eine verpflichtende zahnärztliche Eingangsuntersuchung bei Haftantritt gibt es nicht. Gefangene entscheiden selbst, ob sie den Zahnarzt aufsuchen. Ihre Befunde werden also erst erhoben, wenn eine Behandlung stattfindet.
Vier Fünftel schließen die Behandlung nicht ab
Bei der Auswertung von 236 zahnärztlichen Patientenakten aus der Justizvollzugsanstalt Würzburg zeigt sich, dass die Inhaftierten der Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen einen viel niedrigeren DMFT-Wert (9,8) haben, als die DMS V für die Allgemeinbevölkerung ausweist (11,2). Dementsprechend ist der festgestellte Behandlungsbedarf mit 71,2 Prozent (Altersgruppe 20 bis 34 Jahre: 76,5 Prozent) deutlich größer als in der Bevölkerung. Unklar bleibt laut Wissmann, warum bei den älteren Strafgefangenen (45 bis 71 Jahre) ein deutlich niedrigerer Behandlungsbedarf (49,0 Prozent) festgestellt wurde.
Dabei haben die Häftlinge, insbesondere die älteren, eher wenig Interesse daran, einen Defekt auch vollständig sanieren zu lassen. Laut Wissmann ist dies bei maximal einem Fünftel der Inhaftierten der Fall. Wissmanns Beobachtungen bestätigen die wenigen Berichte zur deutschen Gefängniszahnmedizin, dass bei vielen Häftlingen das veraltete Bild einer rein kurativen Zahnmedizin vorherrscht. Dieses Bild „bestätigt sich eindrucksvoll auch im Bereich der Ausprägung der präventiven Zahnmedizin im Gefängnis“, schreibt sie.
So werde Zahnstein in allen Altersgruppen oft festgestellt – je nach Altersgruppe bei 70,6 und 87,4 Prozent der Patienten –, doch nur in einem Drittel der Fälle (28 bis 37,5 Prozent) werden die Zähne dann tatsächlich gereinigt. Die Autorin vermutet, dass fehlendes Interesse und mangelndes Verständnis der Häftlinge hierfür verantwortlich sind. Eine ähnliche Ursache dürfte es haben, dass Gingivitis und Parodontitis in einer „unglaubwürdig geringen Häufigkeit“ diagnostiziert werden. Laut Wissmanns Auswertung wurde nur bei 10,6 bis 21,8 Prozent der Inhaftierten eine Gingivitis und bei 2,5 bis 4,5 Prozent eine Parodontitis diagnostiziert.
Zur Situation in Deutschlands Nachbarländern gibt es wenig Informationen. Auf eine Anfrage der zm an die zuständigen Zahnärztekammern antwortete bis zum Redaktionsschluss nur die niederländische Zahnärzteorganisation KNMT. Die KNMT berichtet, dass es in der Patientengruppe der Inhaftierten einen extremen Behandlungsbedarf gibt. Gleichzeitig hätten die Betroffenen häufig mit Ängsten, psychischen Problemen und Suchtfolgen zu kämpfen. In den Niederlanden stellen aktuell 20 bis 25 Behandler sicher, dass Inhaftierte eine zahnmedizinische Versorgung bekommen, die dem gesetzlichen Standard entspricht, heißt es weiter.
Ähnliches gilt laut British Dental Association (BDA) für Großbritannien. Dort haben Gefangene Anspruch auf eine routinemäßige und dringende zahnärztliche Versorgung, wie sie der Allgemeinbevölkerung vonseiten des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS auch zusteht. Doch wie bei der Allgemeinbevölkerung bedeutet der reine Versorgungsanspruch in Großbritannien nicht, dass auch eine zeitnahe Behandlung möglich ist. Es gebe „Anekdoten“ von langen Wartelisten, so die BDA, zu der Dimension des Versorgungsengpasses könne man aber keine genauen Angaben machen. Dazu fehlten schlicht die nötigen Daten.
Man befürchte zudem, dass „das aktuelle Budget den Bedarf nicht deckt“, schreibt die BDA. „Seit Langem mache man auf die Auswirkungen einer schlecht finanzierten NHS-Zahnheilkunde aufmerksam.“ Die BDA schätzt, dass es zusätzliche 880 Millionen Pfund (rund 1 Milliarde Euro) kosten würde, um die zahnmedizinische Versorgung in Großbritannien wieder auf das Niveau von 2010 zu bringen. „Die Zahnmedizin steht auf der Prioritätenliste der Politiker zu weit unten, und dies wird sich immer unverhältnismäßig stark auf schutzbedürftige Gruppen wie Gefangene auswirken.“