Nachruf auf Karl Horst Schirbort

Der sperrige Seher

Der ehemalige Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Karl Horst Schirbort, ist tot. Schauen wir zurück auf einen Mann, der den Konflikt nicht scheute, und eine Zeit, in der Zahnärzteschaft und Politik sich schwer miteinander taten.

Der 24. Januar 1974 war für den jungen Standespolitiker Karl Horst Schirbort ein rabenschwarzer Tag. An diesem Tag hatte das Bundessozialgericht (BSG) ein Urteil gesprochen, das den zukünftigen beruflichen Alltag der damals noch sogenannten Kassenzahnärzte grundsätzlich verändern sollte. Das BSG hatte – natürlich im juristischen Eigensprech anders ausgedrückt – einen fehlenden Zahn zur „Krankheit“ erklärt und deren Therapie, den Lückenschluss, zur GKV-Sachleistung erhoben. Die daraufhin abzuschließenden „Prothetik-Verträge“ lösten für die meisten Zahnärzte einen ungeahnten Boom aus.

Von nun an hieß es: auf jede Lücke eine Brücke, weg vom „Kunststoff-Schlappen“, hin zumindest zum Modellgussgerüst (damals mit 200 BEMA-Punkten bewertet!), noch besser zu ingeniösen Stab- oder Geschiebearbeiten. Die Krönung war die 14-gliedrige Brücke. Und das alles als 100-prozentige Sachleistung, quasi zum Nulltarif für die Kassenpatienten. Es begannen (dental-)goldene Zeiten! Für die meisten in der Kollegenschaft waren das neue, glückliche Umstände, für einige, damals wenige, der Beginn einer unheilvollen Entwicklung. Schirbort war einer von ihnen.

Karl Horst Schirbort war der Sohn eines Zahnarztes, der mit seiner Familie die sudetendeutsche Heimat verließ und eine Landpraxis bei Halle eröffnete. Dort erlebte der Sohn die Verstaatlichung des Gesundheitswesens in der damaligen DDR. Das Studium der Zahnmedizin wurde ihm verwehrt, er ging nach West-Berlin, wo er studierte und promovierte. Nach seiner Assistenzzeit ließ er sich in Burgdorf bei Hannover nieder.

Vom Querulanten zum Meinungsführer

Wahrscheinlich ist es auch diese Biografie, die ihn für standes- und gesundheitspolitische Themen und Entwicklungen sensibilisierte. Er sah nicht nur die unvermeidliche finanzielle Implosion im zahnärztlichen Versorgungsbereich des GKV-Systems, er sagte auch die daraus abzuleitenden und sich schnell anbahnenden Regelungs- und Reglementierungszwänge voraus, die in den Folgejahren auf den Berufsstand niederprasseln sollten.

Schirbort wurde aktiv. In seiner standespolitischen Heimat, dem Freien Verband, dem er seit 1968 angehörte, meldete er sich fortan kritisch zu Wort. Zu jener Zeit gehörten auch zumindest die „einfachen“ Mitglieder im FVDZ zu den eher unkritischen Befürwortern der neuen Regelungen – wie überwiegend die Kolleginnen und Kollegen im Land.

Zu Beginn war gegen diese Allianz der Nutznießer nur schwer anzukommen. Als standespolitischer Querulant mit wenigen Gleichgesinnten war er in der Minderheit – nicht nur im Freien Verband. Aber schnell wurde er zu seinen Vordenkern, entwickelte Vorschläge, wie sich der Berufsstand aus der Falle und Umklammerung der sich ankündigenden Kostendämpfungsgesetze lösen könnte.

Antritt zum Auftritt

1989 setzte ihn sein Landesverband Niedersachsen des FVDZ mit einer Mehrheit in der Vertreterversammlung der KZV Niedersachsen als neuen Vorsitzenden der KZV durch. Fortan mischte er zusammen mit dieser Hausmacht und mit ähnlich denkenden Kollegen aus dem bayerischen Landesverband zuerst die moderate Bundespolitik des Freien Verbandes, später die der KZV-Landschaft auf.

Der Mainstream tickte noch anders. Auf den Bundesversammlungen des FVDZ prägten heftige, auch giftige Rededuelle der Delegierten aus Bayern und Niedersachsen mit den „Softies“ aus den anderen Landesverbänden die Abläufe. Ein neues Dreigestirn führte das Wort: der schnell polternde, menschlich aber sehr feinfühlige Bayer Ralph Gutmann, der unterkühlt-nüchterne „Chefideologe“ Hans-Henning Bieg aus Bremen und der von der Mehrheit der KZV-Chefs als eher starrköpfig beschriebene Karl Horst Schirbort.

Legendär seine Antritte zum Rednerpult: Die Mimik geprägt von leicht zusammengekniffenen Augen und zusammengepressten Lippen, den Kopf leicht nach vorn gebeugt, stampfte er mit Kampfesschritten aus den hinteren Reihen zum Podium. Ob bewusst oder nicht: So war sein Antritt zum Auftritt! Er konnte austeilen, wenn er die Dinge, die ihn quälten, benannte; wenn er die Positionen und Argumente der anderen mit zunehmendem Temperament und rotem Rage-Kopf zu zerpflücken suchte. Ich bin aber überzeugt: Keiner seiner Gegner konnte sich je persönlich verunglimpft fühlen.

Wer kein Erfüllungsgehilfe sein will, muss raus aus der GKV

Die einsetzenden Kostendämpfungsgesetze zeigten in den Praxen zunehmend spürbare Wirkung. Eine eher hilflose Gesundheitspolitik setzte auf Reglementierung und auf für die Zahnärzteschaft unheilvolle Umstrukturierung. 1992 spitzte sich die Lage zu. Die Eckpunkte für das von der damaligen Bundesregierung angepeilte Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) waren bekannt geworden.

Im „Lahnsteiner Kompromiss“ wollten CDU, FDP und SPD die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen in den Griff bekommen und hatten sich auf die Instrumente geeinigt: Bedarfsplanung und Zulassungsbeschränkungen, Altersgrenze 68 Jahre, Gewährleistung – und eine auf Jahre festgelegte strikte Budgetierung der ärztlichen und zahnärztlichen Vergütung.

Schirbort formulierte seine Analyse in einem Vortrag Ende 1992 in Mainz so: „In der Praxis werden wir Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen sein und in den Ehrenämtern der Selbstverwaltung zu reinen Erfüllungsgehilfen der Ministerialbürokratie degradiert. Eine qualifizierte Zahnheilkunde wird es damit nicht geben. Wer das mit sich geschehen lassen will, muss im System der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben. Wer das alles nicht will, muss die GKV verlassen.“

Die unselige Gesetzgebung und die Schirbort'sche Analyse machten eine Initiative populär, die er schon Mitte der 80er-Jahre in Niedersachsen vorgestellt hatte. Das „Korb-Modell“ fand zunehmend Interesse, in den Bundesländern bildeten sich „Korb-Initiativen“.

Dabei verpflichteten sich die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen unter notarieller Begleitung, zum Zeitpunkt X die Kassenzulassung zurückzugeben. Der Notar sammelte diese Verpflichtungen „in einem Korb“. Ausgeleert wurde er nicht, das Modell nicht realisiert. Karl Horst Schirbort: „Wir hatten schon über 50 Prozent im Korb, konnten uns aber dann berufs­intern nicht einig werden, ob das reicht, deshalb haben wir das Modell nicht umgesetzt. Das Ergebnis wäre zu knapp geworden.“

Das ist die richtige Bilanz, aber geschönt formuliert. Wir Zahnärzte gingen überzeugt in den Korb (auch ich), da es ja „nur“ eine Bereitschaft für den Tag X sein sollte. Als dann aber dieser Tag X näher kam, wurden die meisten zögerlich (auch ich): Die Alten hatten ja womöglich ihre Schäfchen im Trockenen, wir Junge hatten Praxisschulden und Familien. Wir kniffen. Denn der Gesetzgeber  antwortete mit einer sechsjährigen Zulassungssperre bei Kollektivverzicht. Aber die Parole „Raus aus der GKV“ war für die nächsten Jahre Leitspruch derjenigen, die die Korbniederlage nicht verwinden konnten.

Am Ende war Schirbort neuer KZBV-Chef

Aus dieser Stimmungslage heraus entschloss sich Schirbort, gefordert und gefördert von Gleichgesinnten, 1994 für den KZBV-Vorsitz zu kandidieren und gegen den amtierenden Vorsitzenden Wilfried Schad anzutreten. Schirbort galt zwar als Radikaler, die (Noch-)Mehrheit in der KZBV-Vertreterversammlung und der KZBV-Vorstand angesichts der politischen Umstände aber als zu moderat.

Für das Schirbort-Team, das den neuen Vorstand unter seiner Führung komplettieren sollte, war die Mehrheit allerdings höchst ungewiss. Karl Horst Schirbort hatte neben einigen niedersächsischen Getreuen auch einige junge KZV-Vorsitzende in seinem Team aus Freiverbandlern – auch mich als Vorsitzenden der KZV Hessen. Als Stellvertreter sollte Peter Kuttruff aus Baden-Württemberg antreten. Für den Fall des Wahlsiegs war ich ausgeguckt, zwischen dem „Ideologen“ Schirbort und dem „Technokraten“ Kuttruff im Ernstfall zu vermitteln.

Für die Wahlvorgänge war ein penibel erstelltes Regiebuch vorbereitet, dass alle möglichen Eventualitäten berücksichtigte. Die ersten zwei Drittel aller Wahlgänge waren Kampfabstimmungen, kein Wahlgang ging verloren; danach warf die Schad-Truppe das Handtuch. Karl Horst Schirbort war neuer KZBV-Vorsitzender.

Der neue Vorstand hatte sich ehrgeizige Ziele gesetzt: eine Neubestimmung des GKV-Leistungskatalogs durch Festlegung von Grund- und Wahlleistungen, ein Bekenntnis zu Festzuschüssen und Kostenerstattung, die Abschaffung von Deckelung und Degression und vor allem der Budgetierung.

Mit einem Satz machte er Furore

Der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer forderte weiterhin die Begrenzung zahnärztlicher Leistungen und bereitete dazu die GKV-Neuordnungsgesetze vor. Schirbort: „Der Gesamtvorstand ist dagegen losgegangen. Damals habe ich den einfachen Satz geprägt, von dem ich nie gedacht hätte, dass er in der Politik so viel Furore macht: Mit begrenzten Mitteln gibt es keine unbegrenzten Leistungen!“

„Furore“ war maßlos untertrieben. Dieser Satz (der übrigens gerade in diesen Tagen wieder aktuell und richtig ist) löste in der Politik eine so nicht gekannte Empörung aus. So richtig und ehrlich diese Formulierung auch war, sie brach ein Tabu: nämlich das Eingeständnis, dass angesichts knapper Kassen eine Versorgung „Alles für Alle“ nicht länger verantwortbar war. Zu dieser Erkenntnis waren weder die Sozialromantiker in der SPD noch die von manchem Herz-Jesu-Sozialismus umwölkten CDU-Sozialausschüssler um Horst Seehofer bereit.

Fortan war das Verhältnis zwischen der verfassten Zahnärzteschaft und den Gesundheitspolitikern nicht nur in Berlin mehr als nur frostig. Und als Schirbort, der ja auch noch weiterhin ehrenamtlicher KZV-Chef in Niedersachsen war, 1995 in einem Honorarstreit mit den dortigen Krankenkassen nicht kuschen wollte, setzte das zuständige Ministerium einen Staatskommissar ein, der die KZV führen sollte. Das brachte zwar keinem der Beteiligten etwas – außer einem Heiligenschein für Schirbort bei seinen engsten Getreuen –, doch folgte auf den politischen Frost eine mittlere Eiszeit.

1995 legte der KZBV-Vorstand ein Konzept für Vertrags- und Wahlleistungen in der zahnärztlichen GKV-Versorgung vor, das so gut war, dass es nicht nur in der durch die Budgetierung frustrierten Kollegenschaft überwiegend positiv ankam, auch von der Politik wurde es mit Interesse aufgenommen. 1997 wurde die Mehrkostenregelung in der Füllungstherapie eingeführt. Die wurde zwar durch Initiativen auf Länderebene entwickelt (wesentlich von der KZV Hessen – und die war ja in Schirborts Vorstand vertreten), aber die KZBV ermunterte erfolgreich die Bundesregierung zur dafür notwendigen Gesetzesänderung.

Mit dem 2. Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der GKV (2. GKV-NOG) führte der Gesetzgeber unter anderem die Kostenerstattung beim Zahnersatz ein: Der prozentuale Zuschuss der Krankenkassen wurde ersetzt durch Festzuschüsse, der Patient erhielt eine reine Rechnung nach GOZ.

Der Coup gelang auf einsamen Waldwanderungen

Für Karl Horst Schirbort war das eine späte Genugtuung, hatte er doch jahrelang für die Kostenerstattung und Direktabrechnung mit dem Patienten gekämpft. Ziemlich spät im eingeleiteten Gesetzgebungsverfahren erfuhren die Öffentlichkeit und auch der überraschte KZBV-Vorstand von dieser Zahnersatz-Neuregelung. Schirborts Stellvertreter Peter Kuttruff war womöglich eingeweiht. Aber es war wohl der Vorsitzende im Wesentlichen ganz allein, der dazu mit den verantwortlichen Politikern im Gespräch war.

Bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte über Gespräche Schirborts auf einsamen Waldwanderungen mit Gesundheitsminister Seehofer. Schirbort genoss den Coup! Doch ein gutes Jahr später war der Zauber schon wieder vorbei: Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und schlechter Umfrageergebnisse für die amtierende Regierung bekam Horst Seehofer kalte Füße und die Nase in den Wind. Kommando zurück – wieder Aus und Vorbei für standardisierte Festzuschüsse und die Kostenerstattung! Genützt hat es ihm nicht, Andrea Fischer war 1998 seine Nachfolgerin im Amt.

Schirbort war tief deprimiert und angeschlagen. Er sah auch nur geringe Chancen für eine erfolgreiche Arbeit angesichts einer rot-grünen Bundesregierung und musste für eine erneute Kandidatur zum KZBV-Vorsitzenden mehr überredet denn überzeugt werden. Das wohl entscheidende Gespräch dazu fand auf der Terrasse meines Hauses statt. Eine Handvoll „Getreuer“ redete mit Engelszungen auf ihn ein und erhielt schließlich seine Zusage. Bei den anstehenden Wahlen lag denn auch die „Liste Schirbort“ wieder vorn.

Die neue Regierung zeigte sehr schnell, wohin es fortan gehen sollte: Das Gesundheitsreformgesetz 2000 verpflichtete unter anderem zur Qualitätssicherung, zur strikten an der Steigerungs­rate der Grundlohnsumme orientierten Budgetierung und zur Vorlage von Vergütungsvereinbarungen mit den Krankenkassen bei den Aufsichtsbehörden. Ein weiteres Mal wurde der Gestaltungsspielraum der zahnärztlichen Körperschaften in der Selbstverwaltung beschnitten. Karl Horst Schirbort verlor zusehends den Elan. Hinzu kam eine ihn zunehmend ärgernde und nervende Opposition aus den Länder-KZVen. Das merkte er in den Vertreterversammlungen der KZBV und noch mehr im KZBV-Beirat, in dem die KZV-Vorsitzenden und der KZBV-Vorstand zusammenkommen. Immer anstrengender war es für ihn, dort für standespolitische Positionen Mehrheiten und die ihm wichtige Geschlossenheit zu finden. Das hatte auch bald die Politik spitzbekommen. In Gesprächen mit den Gesundheitspolitikern fragte man bisweilen nicht ohne Hohn, ob er – Schirbort – denn für seine Positionen auch die Mehrheiten innerhalb der Zahnärzteschaft habe. Die nächste Eiszeit begann. Und begleitete ihn bis zum Ende seiner Amtszeit 2002.

Immer für mehr Freiheit im System gekämpft

Schirbort zog später seine Bilanz so: „Ich habe mich immer dafür verwendet, dass mehr Freiheit ins System kommt, dass die Eigenverantwortung sowohl bei den Leistungsträgern als auch bei den Leistungsempfängern greift […] Das habe ich aus Überzeugung mitgemacht, bis ich gemerkt habe, dass die guten Ansätze nicht mehr praktisch nachvollziehbar waren. Dass das, was wir machen wollten, gar nicht möglich war.“

Schirbort wirkte oft misstrauisch und sperrig. Viele haben ihn erlebt, nur wenige ihn gekannt. Und auch nur wenige ließ er an sich ran, ließ sie teilhaben an seinen Stimmungen oder gar Gefühlen. Privates gab er kaum preis. Wem es vergönnt war (und das waren sicher nicht viele), mit ihm auch mal ein zweites oder gar drittes Bier zu trinken und über Dinge jenseits der Standespolitik zu reden, der merkte bald, welch feinfühliger und fürsorglicher Mensch er war, welch weicher Kern sich hinter der vielfach rauen Panzerung verbarg. Natürlich hatten ihn manche Kränkungen verletzt, politische Entscheidungen entmutigt und die fehlende solidarische Unterstützung enttäuscht. Aber anmerken ließ er es sich kaum.

Bis zuletzt nahm er regen Anteil an gesundheitspolitischen Entwicklungen. Bis zuletzt erhielt ich zu meinem jährlichen Geburtstag von ihm einen handgeschriebenen Brief. Zunehmend altersmilde bewertete er dann das, was nach seiner Amtszeit erreicht und umgesetzt wurde. Es waren ja auch schließlich „seine Jungs“ aus den 90er-Jahren, die ihm im Amt folgten und ernteten, was auch er mit Analysen, Konzepten und auch Träumen gesät hatte. Und auf die späte, jetzt wieder aktuelle Bestätigung, wonach begrenzte Mittel nur begrenzte Leistungen ermöglichen, hätte er auch gern verzichtet.

Karl Horst Schirbort starb am 9. Januar 2023. Er wurde 85 Jahre alt.

Dr. Jürgen Fedderwitz
Vorsitzender des Vorstandes der KZBV von 2005 bis 2013.

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