Erinnerung in Zahnärzteschaft und Gesellschaft

Zur Aufarbeitung der Zahnmedizin im Nationalsozialismus

Heftarchiv Gesellschaft
Matthis Krischel
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Die Aufarbeitung der Zahnmedizin im „Dritten Reich“ startete zeitgleich mit der Medizin in den 1980ern, wobei die Auseinandersetzung mit den Verfolgten generell früher begann als die mit den Tätern. Als ab den 1990er und 2000er Jahren Standesorganisationen Aufträge für unabhängige Forschung vergaben, war die Zeit dafür in der Zahnmedizin noch nicht reif.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Alliierten eine juristische Bearbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, zu deren bekanntesten Startpunkten der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945 bis 1946 und im Bereich der Medizin der Nürnberger Ärzteprozess (1946 bis 1947) gehörten.

Dabei war die Wahl des Verhandlungsorts nicht zufällig. Neben pragmatischen Gründen war es auch die faktische und symbolische Bedeutung Nürnbergs als „deutscheste aller Städte“ [Kosfeld, 2001], die die Stadt der Reichsparteitage als Ort der Prozesse angemessen erscheinen ließ und diesen gleichzeitig zusätzliche Wirkmacht verlieh [Krischel/Halling, 2020].

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgte in Deutschland seit 1945 in unterschiedlichen Phasen, die juristischen, politischen, gesellschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen und erinnerungskulturellen Einflüssen unterlagen. Dabei wurde der Begriff Vergangenheitsbewältigung erst in den 2000er Jahren vom Begriff der Aufarbeitung abgelöst, der weniger einen erreichten Schlusspunkt, als vielmehr einen andauernden Prozess impliziert [Brechtken, 2021].

Ab Ende der 1950er Jahre folgten weitere Prozesse, von denen viele sich mit den Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern befassten. Besonders große Aufmerksamkeit erhielten hier die vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) angestrengten Frankfurter Ausschwitzprozesse (1963-1965).

Während im Nürnberger Ärzteprozess keine Zahnärzte unter den Angeklagten gewesen waren, gerieten sie nun mit dem Lagerzahnärzten Willy Frank (1903-1989) und Willi Schatz (1905-1985) in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Beiden wurde vorgeworfen, an der „Selektion“ von Häftlingen zur Ermordung teilgenommen zu haben. Während Frank wegen Beihilfe zum Mord in 6.000 Fällen zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, sprach man Schatz aus Mangel an Beweisen frei [Schwanke/Groß, 2020]. Durch die Analyse von Fotos gilt heute als erwiesen, dass auch Schatz an „Selektionen“ teilnahm [Hördler et al., 2015].

Die Beschäftigung mit Tätern und Verfolgten unterlag ebenfalls durch Politik und Gesellschaft ausgelösten Konjunkturen. Auf die initiale Phase der juristischen Aufarbeitung unmittelbar nach Kriegsende folgte zunächst eine Integration aller nicht maximal belasteten Personen. Viele Männer, die erst einige Jahre nach 1945 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, wurden pauschal entnazifiziert, und Personen, die als Flüchtlinge oder Vertriebene bereits vor dem 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst gestanden hatten, bekamen das grundsätzliche Recht auf Wiederanstellung an einer geeigneten Stelle [Sprockhoff/Fischer, 2015].

Auch in vielen (zahn-)medizinischen Fach- und wissenschaftlichen Gesellschaften kam es zu Kontinuitäten. In der Deutschen Gesellschaft für Urologie konnte etwa Hans Boeminghaus (1893-1979) – Mitglied der NSDAP und SS ab 1933 und Mitverfasser eines Lehrbuchs zur chirurgischen Sterilisation und Kastration 1934 – in den Jahren 1948 und 1951 als Kongresspräsident reüssieren [Krischel, 2014]. Hermann Euler (1878-1961) – ab 1937 Mitglied der NSDAP und 1934 als Dekan der Medizinischen Fakultät in Breslau entscheidend für die Entlassung jüdischer und jüdischstämmiger Mitarbeiter:innen verantwortlich – war seit 1928 Präsident der DGZMK und blieb es bis 1954 [Groß, 2020].

Loyalitäten in Medizin und Zahnmedizin

Während mit der 68er-Generation mehr kritische Nachfragen nach Handlungsspielräumen im Nationalsozialismus und Karrierekontinuitäten gestellt wurden, waren die Medizin und Zahnmedizin noch länger von Loyalitäten zu den vor 1945 aktiv im Beruf stehenden Personen gegenüber geprägt. Erst das Ausscheiden der belasteten Generationen selbst – und in einigen Fällen sogar erst das Ausscheiden ihrer direkten Schülergeneration – machte den Weg für eine kritische Geschichtsschreibung frei [Krischel/Halling, 2020].

So benannte die Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik nach dem Tod Hans Nachtsheims (1890-1979) einen Preis nach ihm. Nachtsheim war vor 1945 Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik gewesen, hatte sich dort aber schwerpunktmäßig mit Forschung am Tiermodell beschäftigt und war als einer von wenigen führenden Biowissenschaftlern seiner Generation nicht der NSDAP beigetreten. In der Nachkriegszeit wurde er zunächst Professor für Genetik an der Humboldt-Universität und nach ihrer Gründung an der Freien Universität Berlin. Gleichzeitig lehnte er aber die Entschädigung vom im Nationalsozialismus zwangssterlisierten Personen mit dem Argument ab, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sei kein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz gewesen und sprach noch 1963 von einer „Pflicht zur praktischen Eugenik“. Dieses Engagement Nachtsheims wurde durch einen Preisträger in den 1980er Jahren öffentlich thematisiert, in der Folge wurde der Preis nicht mehr vergeben [Krischel et al., 2021].

Erinnern an Verfolgung und Verfolgte

Die Beschäftigung mit im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen und ermordeten Personen begann früher als die mit den belasteten. Einige medizinische Fachgesellschaften – darunter die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) – suchten bereits Anfang der 1950er Jahre wieder Kontakt zu vertriebenen, ehemaligen Mitgliedern. So nahm die DGU 1953 Leopold Casper (1859-1959) und Paul Rosenstein (1875-1964) als Ehrenmitglieder auf, die nach New York beziehungswiese Rio de Janeiro geflüchtet waren. Beide veröffentlichten Autobiografien, die ihre erinnerungskulturelle Position stärken sollten [Krischel, 2014].

In der Zahnmedizin wurde bereits in den 1960er Jahren an den nach New York emigrierten Hans Sachs (1881-1974) erinnert. Sachs war in Berlin als niedergelassener Zahnarzt tätig gewesen und erhielt 1933 für seine Arbeit „Grenzen der Zahnerhaltung bei Parandontose“ den Miller-Preis. 1934 wurde ihm als Juden die Kassenzulassung entzogen. Unmittelbar nach den Novemberpogromen 1938 und einer Inhaftierung im Konzentrationslager Sachsenhausen floh Sachs aus Deutschland. In den USA legte er im Alter von 60 Jahren das amerikanische Staatsexamen ab und erhielt die Approbation. Neben seiner zahnärztlichen Tätigkeit war Sachs auch bedeutender Sammler von Plakatkunst: Seine Sammlung umfasste mehr als 30.000 Plakate und Gebrauchsgraphiken [Halling/Krischel, 2020]. Erinnert wurde Sachs im Nachkriegsdeutschland, weil er 1966 in den Zahnärztlichen Mitteilungen eine Serie von drei familienbiografischen Artikeln veröffentlichte, in denen er nicht nur die Lebensgeschichten seines Großvaters und Vaters – beide ebenfalls Zahnärzte –, sondern auch seine eigene Emigrationsgeschichte erzählte [Sachs, 1966]. In der Folge wurde zu seinem 90. Geburtstag in den Zahnärztlichen Mitteilungen eine Laudatio auf ihn veröffentlicht [ZM, 1971].

Ein Erinnern an Casper, Rosenstein oder Sachs gelang in den 1950er und 1960er Jahren jedoch nur, weil sie die Judenverfolgung überlebt hatten und nach dem Krieg in den Austausch mit ihren in Deutschland zurückgebliebenen Kollegen treten konnten. Weniger prominente Überlebende und die meisten Ermordeten fielen zusätzlich einer Damnatio Memoriae zum Opfer, das heißt, sie wurden vergessen, aus der Geschichte herausgeschrieben und die Erinnerung an sie wurde verschüttet [Voswinkel, 2004]. Abgesehen von wenigen Vorarbeiten erschienen erst ab den 1990er Jahren systematische, zunächst regionalhistorische Arbeiten, die die von Verfolgung betroffenen Personen systematisch erfassten und an sie erinnern wollten [Schwanke/Krischel/Groß, 2016, S. 13].

Konflikte bei der Geschichtsschreibung

Seit Beginn der 1980er Jahre befasst sich die professionelle Medizingeschichte mit der Medizin im Nationalsozialismus [Jütte, 2012, S. 311ff]. Wegweisend war dabei eine Serie von Artikeln im Deutschen Ärzteblatt, die im Anschluss auch als Buch erschien [Bleker/Jachertz, 1989]. Zeitgleich entstanden in Ost- und Westdeutschland die ersten Analysen zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus [Schwanke/Krischel/Groß, 2016, S. 6-12]. In der Bundesrepublik ging die Forschung maßgeblich von der 1978 gegründeten Vereinigung Demokratische Zahnmedizin e. V. (VDZM) aus, die bereits 1983 einen Zeitschriftenband zum Thema vorlegte [VDZM, 1983]. Die Vereinigung blieb bis in die 2010er Jahre aktiv, weitere Veröffentlichungen aus ihrem Umfeld folgten [Kirchhoff, 1987; Guggenbichler, 1988; Kirchhoff/Heidel, 2016] und auf ihrer bis etwa 2020 aktiven Internetseite sammelte die VDZM biografische Daten zu verfolgten ZahnärztInnen. Diese Daten stammten in vielen Fällen aus (zahn-)medizinischen Doktorarbeiten, die auf lokaler Ebene der Verfolgung nachgingen. Hier gilt der Berliner Zahnarzt Michael Köhn als Pionier [Köhn, 1994].

Trends der Aufarbeitung

Gewisse Konflikte zwischen den zahnärztlichen Standesorganisationen und der VDZM wurden offenbar, als 1998 ein Sonderheft der Zahnärztlichen Mitteilungen erschien [BZÄK et al., 1998]. Die überwiegende Zahl der Beiträge in dem Heft stammte vom zm-Redakteur Ekkhard Häussermann, der zum einen Aufklärungsarbeit über die Zeit des „Dritten Reiches“ leistete, zum anderen aber auch die VDZM und ihre gesundheitspolitischen Positionen angriff [Schwanke/Krischel/Groß, 2016]. Einige Jahre zuvor hatte auch Michael Köhn die Erfahrung gemacht, dass die Akzeptanz einer kritischen Aufarbeitung in den 1990er Jahren innerhalb der Zahnmedizin noch erkämpft werden musste. So wurde ihm 1991 für seine Recherchen der Zugang zum Archiv des Forschungsinstitut für Geschichte und Zeitgeschichte der Zahnheilkunde in Köln verwehrt [Krischel/Nebe, 2022].

In den 2000er Jahren hatte sich die Situation in der Medizin bereits deutlich geändert. Nach und nach begannen Universitäten, medizinische Fakultäten und Fachgesellschaften, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Bereits im Jahr 2000 erschien eine Studie zu entrechteten, geflohenen und ermordeten Kinderärzten [Seidler, 2000], es folgten zahlreiche weitere. Mitte der 2010er Jahre war es sogar schon möglich, die unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen miteinander zu vergleichen [Krischel/Schmidt/Groß, 2016]. Dabei stellte sich heraus, dass etwa der Anteil als jüdisch klassifizierter Mitglieder in einigen Fachrichtungen besonders hoch war (Kinderheilkunde, Dermatologie, Urologie), und dass die Gleichschaltungsprozesse unterschiedlich schnell verliefen. Die meisten Fachgesellschaften hatten zuerst ihrer vertriebenen und ermordeten Mitglieder gedacht, sukzessive wurde nun auch die Täterforschung akzeptiert – vielleicht, weil auch für die Mitglieder der Vorstände der Fachgesellschaften zu dieser Zeit der Nationalsozialismus keine persönliche, sondern eine historische und seine Aufarbeitung zunehmend eine professionspolitische Angelegenheit war. Zuletzt erlebt die „Täterforschung“ in der (Zahn-)Medizingeschichte einen Aufschwung [Rauh et al., 2022].

Auch im neuen Jahrtausend gehen Trends der Aufarbeitung in der Medizin und der breiteren Gesellschaft Hand in Hand. Beispielhaft dafür ist die 2010 veröffentlichte, medial breit rezipierte Studie zum Auswärtigen Amt [Conze et al, 2010], die seit 2005 von einer unabhängigen Historikerkommission im Auftrag des Außenministeriums erstellt worden war. Mit dieser Vergabe des Aufarbeitungsauftrags an externe Wissenschaftler:innen (anstatt einer Bearbeitung „in house“) war zugleich ein neuer Standard gesetzt, an dem sich in der Folge auch viele wissenschaftliche Fachgesellschaften orientierten.

Projekt in der Zahnmedizin

Diesem Modell folgte auch das gemeinsam von Bundeszahnärztekammer, Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung und DGZMK ausgeschriebene Forschungsprojekt. Nach externer Begutachtung von Projektanträgen vergaben die Förderer den Auftrag 2016 an die beiden Projektleiter Dominik Groß (Aachen) und Matthis Krischel (Düsseldorf). In den beiden Arbeitsgruppen fokussierte das Projekt auf Zahnärzte als Täter und Verfolgte [Fangerau/Krischel, 2011] im „Dritten Reich“. Über Ziele, Quellen, Methoden und Ergebnisse des Projekts ist in dieser Zeitschrift umfassend berichtet worden [Groß/Krischel, 2020; Groß, 2020; Krischel, 2020].

Neben zahlreichen einzelbiografischen Studien sind Groß‘ Arbeiten dabei vor allem auf die Fragen ausgerichtet, in welchen Kontexten Zahnärzte zu Tätern werden konnten [Groß, 2018] und wie in Zukunft mit eponymen Benennungen umgegangen werden kann, deren Namensgeber heute als NS-belastet gelten müssen [Groß, 2020]. Krischel hat neben den Lebensgeschichten einzelner Verfolgtervor allem zur Sozialgeschichte [Krischel, 2021] und Erinnerungskultur innerhalb der Zahnmedizin gearbeitet [Krischel et al., 2017] und dabei die Fragen aufgeworfen, welche Rolle die Zahnmedizin im Nationalsozialismus künftig in der zahnärztlichen Ausbildung spielen soll (Sie wird mit Sicherheit eine zentrale Rolle im Kursen Ethik und Geschichte einnehmen.), wen sich Zahnärzte zum Vorbild nehmen wollen (Auch hier spielen wieder eponyme Benennungen eine Rolle.) und wie an verfolgte Kolleginnen und Kollegen erinnert werden soll (Er plädiert für lokale und zivilgesellschaftliche Erinnerungsarbeit) [Krischel, 2020]. In diese Richtung gehen Initiativen zur Verlegung von Stolpersteinen vor dem letzten freiwilligen Wohn- oder Arbeitsort sowie sowie ein Themenheft des Zahnärzteblattes Baden-Württemberg [Krischel, 2022]. Ein Gedenkbuch zu den im Nationalsozialismus verfolgten Zahnärzt:innen konnte bisher nicht realisiert werden, eine über das Internet zugängliche Datenbank befindet sich in Vorbereitung.

Die Aufarbeitung der Zahnmedizin im „Dritten Reich“ begann in den 1980er Jahren zeitgleich mit der in der Medizin. Als in den 1990er und 2000er Jahren viele Fächer und Standesorganisationen anfingen, an externe Wissenschaftler Aufträge für unabhängige Aufarbeitungsprojekte zu vergeben, war die Zeit dafür in der Zahnmedizin noch nicht bereit. In der Folge konnte das Forschungsprojekt erst im Jahr 2016 beginnen. Seitdem sind jedoch zahlreiche Beiträge in Publikationen erscheinen, die sich sowohl an Zahnärzt:innen als auch an (Medizin-)Historiker:innen wenden. Auch wenn die Aufarbeitung verhältnismäßig spät kam, erfolgte sie gründlich und der Prozess des Lernens aus der Vergangenheit hält bis heute an.

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