Braindrain

So beuten reiche Länder die Gesundheitssysteme des Südens aus

Heftarchiv Gesellschaft
mg
In vielen Ländern Europas geht die Sorge vor einem Ärztemangel um. Die Politik setzt auf verschiedene Maßnahmen, auch auf qualifizierte Zuwanderung. Damit nimmt sie eine Verschlechterung der Situation in den Heimatländern der immigrierten Gesundheitskräfte in Kauf.

Wenn hierzulande von einer drohenden medizinischen „Versorgungswüste“ gesprochen wird, sobald es schwierig ist, zeitnah einen Arzttermin zu vereinbaren, wirkt das auf Menschen in Teilen Afrikas und in Ländern des globalen Südens fast zynisch. Laut Zahlen der Weltbank versorgen in den hochverschuldeten Entwicklungsländern (Heavily Indebted Poor Countries, HIPC) 20 Ärzte 100.000 Einwohner, in Deutschland sind es 440, in Frankreich 320. Dieses Ungleichgewicht könnte sich durch Zuwanderungsprogramme noch weiter verschärfen, warnte jüngst die Zeitung Le Monde in einem Bericht über ein aktuell in Frankreich geplantes Einwanderungsgesetz.

„Wir tragen dazu bei, ohnehin schlechte Gesundheitssysteme zu destabilisieren“, rügte Rony Brauman in dem Blatt. Der ehemalige Präsident von Ärzte ohne Grenzen unterzeichnete im Januar einen Appell für den Entzug des Aufenthaltsgenehmigungsprojekts für ausländische Ärzte. Denn während Mediziner aus reichen Ländern für Nichtregierungsorganisationen unermüdlich Hilfseinsätze im globalen Süden leisten, arbeiten bei ihnen Zuhause vermehrt neue Kollegen, die aus eben diesen ärmsten Länder abgewandert sind.

Hier gibt es zu viel wenig Absolventen

Die europäischen Gesundheitssysteme sind laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) teilweise in großem Ausmaß von Zuwanderung abhängig, allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang. So lag der Anteil der Ärzte, die im Ausland ausgebildet wurden, laut OECD 2020 in Österreich bei 6,5 Prozent, in Deutschland bei 13,7 Prozent und in der Schweiz bei 37,3 Prozent. Spitzenreiter sind Irland (40,1 Prozent), Neuseeland (42,3 Prozent), Norwegen (41,2 Prozent) und Israel (57,8 Prozent). Hauptursache dafür ist die niedrige Zahl der inländischen Medizinabsolventen. Hier belegt Israel mit 6,9 Absolventen pro 100.000 Einwohner den letzten Platz, Neuseeland (10,4) und Norwegen (10,9) liegen im unteren Drittel – Deutschland bleibt mit 12,0 ebenfalls deutlich unter dem Durchschnitt von 13,5. Die drei Spitzenreiter sind Dänemark (21,2), Lettland (22,6) und Irland (26,4).

Mehr Verdienst und bessere Arbeitsbedingungen

Die Länder des Globalen Südens unterstützen so die Gesundheitssysteme der reichen Länder, indem sie ihre ausgebildeten Ärzte ziehen lassen. Dies funktioniere allerdings nur, weil Gesundheitsfachkräfte oft in Afrika unterbezahlt und oft in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stecken und mit schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, gibt Brauman zu bedenken: „Wenn afrikanische Staaten mehr Ressourcen in ihre Gesundheitssysteme investieren würden, wäre das Phänomen weniger bedeutsam.“

Zudem hat die Corona-Pandemie die Abwanderungsbewegungen noch einmal verstärkt, berichtete das südafrikanische Netzwerk Healthcare Workers Care Network, das Mitarbeitern im Gesundheitssektor psychologische Unterstützung bietet. Viel Geld für die Corona-Bekämpfung sei veruntreut worden, berichtet das Netzwerk Le Monde. Schutzkleidung, Lebensmittelpakete, Sozialgelder und Arbeitslosenhilfen in Milliardenhöhe seien einfach verschwunden. Gleichzeitig hätten Großbritanniens und auch Kanada die Einreisemöglichkeiten für professionelles Gesundheitspersonal deutlich gelockert.

Erst Im Januar erinnerte der Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (International Council of Nurses, ICN) daran, dass eine Handvoll reicher Länder – insbesondere die USA, das Vereinigte Königreich und Kanada – für 80 Prozent der Migration von Krankenschwestern verantwortlich sind, und forderte die entwickelten Länder auf, sich selbst zu versorgen und mehr auszubilden. Bereits 2019 hatte der ICN gewarnt, Ungleichgewichte zwischen reichen und armen Ländern bedeuteten „ein erhöhtes Risiko skrupelloser internationaler Rekrutierungen, die sich nicht an ethische Grundsätze halten und dazu führen, dass gefährdete Gesundheitssysteme ihr wertvollstes Kapital, qualifizierte Krankenpfleger, verlieren".

Mehr zugewanderte Ärzte in Deutschland und der Schweiz

Am International Nurses Day am 12. Mai erneuerte der ICN darum seine Forderung nach einer Überwachung der Migration von Gesundheitspersonal sowie ethischen wie transparenten Standards, die den Entsende- und Aufnahmeländern „gleichermaßen gegenseitige Vorteile“ bringen. Nichtsdestotrotz stieg die Tendenz entwickelter Länder, in armen Staaten Gesundheitspersonal anzuwerben, laut OECD in den vergangenen zehn Jahren stark. In fast allen Ländern wuchs der Anteil an im Ausland ausgebildeten Ärzten. Während die Zahlen in Israel, Norwegen, Irland und dem Vereinigten Königreich mehr oder weniger stagnieren, steigen sie vor allem in zwei Ländern sehr dynamisch an: In der Schweiz wuchs der Anteil im Betrachtungszeitraum von 25,6 auf 37,3 Prozent und in Deutschland von 7,6 auf 13,7 Prozent.

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