Eingriffe in Allgemeinanästhesie an zahnmedizinischen Universitätskliniken

Große Versorgungslücke bei der Behandlung in Vollnarkose

Andreas Schulte
,
Diana Wolff
Laut einer Umfrage unter allen 30 zahnmedizinischen Universitätskliniken Deutschlands können über 90 Prozent von ihnen vulnerable Patienten nicht mehr ausreichend versorgen. Die Wartezeiten für Behandlungen in Vollnarkose betragen im Schnitt 4,5 Monate – 2009 lagen sie mehrheitlich noch bei drei bis vier Wochen. Die Situation droht ins komplette Versorgungsversagen zu kippen.

Seit Jahren reduzieren sich die Kapazitäten für Eingriffe in Allgemeinanästhesie an den Universitätskliniken. In der Folge sind die Wartezeiten für dringlich erforderliche Eingriffe stark gestiegen. Bei Patienten, Angehörigen und Pflegenden sorgt das für Wut und Frustration. Die zahnärztlichen Kolleginnen und Kollegen versuchen mit den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Kapazitäten die schlimmsten Fälle aufzufangen, aber der tägliche Kampf um OP- und Bettenkapazitäten, das Leid der Patienten und die ständige Erklärungsnot bringen nicht wenige an den Rand der Belastbarkeit.

Eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft der Vereinigung der Hochschullehrer für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (VHZMK) hat nun begonnen, die massiven Probleme aufzuarbeiten und in die Öffentlichkeit zu tragen, mit dem Ziel, dringend erforderliche Veränderungen zu bewirken.

Die Situation in Zahlen

Im Sommer 2022 zeigte eine deutschlandweite Umfrage an den zahnmedizinischen Universitätsstandorten, dass 92 Prozent der Standorte es nicht schaffen, Patienten mit ITN-Behandlungsbedarf zu versorgen. Mindestens 50 Prozent der Patientenanfragen mussten abgewiesen werden. 13 Jahre zuvor waren es nur fünf Prozent der Standorte, die die Patienten nicht ausreichend versorgen konnten. Die Wartezeiten auf Termine für zahnmedizinische Behandlungen in Allgemeinanästhesie lagen im Schnitt bei 4,5 Monaten. Hinter diesen Zahlen stehen Kinder und Erwachsene, die dringend Hilfe benötigen und oft unter Schmerzen leiden. Für sie und ihre Angehörigen und Pflegenden beginnt ein langer Leidensweg. Sie werden nicht selten mehrfach weiterverwiesen und müssen viele und weite Wege auf sich nehmen, um schließlich die erforderliche zahnmedizinische Therapie zu erhalten.

Wer aber braucht eine zahnmedizinische Therapie in Allgemeinanästhesie? All die Menschen, die im zahnärztlich-ambulanten Setting nicht im Wachzustand behandelt werden können. Darunter sind sehr kleine Kinder, Menschen mit schweren Allgemeinerkrankungen oder mit Behinderungen und medizinischem Unterstützungsbedarf sowie geriatrische Patienten. Nicht die Gesamtheit dieser Personen, aber eben doch ein substanzieller Teil ist nicht in der Lage, im Wachzustand behandelt zu werden. Ihnen steht gesetzlich das gleiche Recht auf benötigte Gesundheitsleistungen zu, die sie unter anderem speziell wegen der Behinderung/Erkrankung benötigen.

Der beobachtete Anstieg resultiert auch aus der zunehmenden Sensibilisierung für die wichtige Rolle der Mundgesundheit im Rahmen der Allgemeingesundheit. Wir Zahnärzte können, wollen und müssen dazu beitragen, dass auch jene Patienten ihre eigenen Zähne so lange wie möglich behalten, denn das bedingt eine deutlich höhere Lebensqualität. Allerdings ist der Aufwand für zahnerhaltende Maßnahmen, Zahnreinigungen, Füllungen, Parodontalbehandlungen, Kronen und Wurzelkanalbehandlungen deutlich höher als für Zahnextraktionen.

Mit welchem Betreuungsaufwand eine zahnmedizinische Therapie in Allgemeinanästhesie durchgeführt werden kann, wird vom Anästhesierisiko bestimmt. Je höher das Anästhesierisiko, also je mehr anästhesiologische und/oder medizinische Risikofaktoren der Patient aufweist, desto eher muss die Versorgung durch einen Maximalversorger wie beispielsweise eine Universitätsklinik erfolgen. Diese Entscheidung trifft im Regelfall ein Facharzt oder eine Fachärztin für Anästhesiologie. Er oder sie entscheidet auch, ob der Eingriff ambulant oder stationär durchgeführt werden kann. Die zahnmedizinische Therapie ist hier meist nicht der ausschlaggebende Faktor.

Problemfelder: die OP- und die Personalkapazitäten

Seit der Corona-Pandemie sind die limitierten Kapazitäten der Krankenhäuser in Bezug auf Operationsräume, Betten und medizinisches Personal bekannt. Verschärft durch die finanzielle Schieflage vieler Krankenhäuser nach der Corona-Pandemie kämpfen die Kliniken mit Kapazitätsengpässen und müssen die auf Wartelisten stehenden Patienten nach Schweregraden sortieren. Personen mit Bedarf an zahnmedizinischer Therapie in Allgemeinanästhesie rutschen immer dann nach hinten, wenn kein hochakuter Behandlungsbedarf vorliegt. Ein weiteres großes Problem ist, dass die Zahl der Personalstellen der zahnmedizinischen Abteilungen staatlicher Universitätskliniken strikt mit der Zahl Studierenden im Fach Zahnmedizin verbunden ist. Im Regelfall ist kein Personal für die reine Krankenversorgung verfügbar, sondern die Lehrkräfte sind sozusagen „abgezählt“, um die Studierenden auszubilden. Die notwendige Mehrkapazität für hochkomplexe spezialisierte Versorgungen wie Behandlungen in Allgemeinanästhesie fehlt somit.

Ambulante zahnmedizinische Behandlungen in Allgemeinanästhesie werden über die Gebührenordnungen BEMA und GOZ (gegebenenfalls zuzüglich einer Anästhesiepauschale) abgerechnet. Somit generieren sie die gleichen Erträge wie zahnärztliche Behandlungen im Wachzustand bei einem gesunden Menschen in einer zahnärztlichen Praxis. Dass der Behandlungsaufwand überproportional höher ist, liegt auf der Hand.

Bei stationärer Betreuung werden Fallpauschalen angesetzt (sogenannte DRGs, Diagnosis Related Groups), die in einem festen Erlös münden. Die für die meisten Patienten zutreffende Diagnose „Zahnkaries“ inklusive Berücksichtigung von zum Teil schweren Nebendiagnosen (wie Epilepsie, Entwicklungsstörung, Paresen, Fehlbildungen des Herzens) führt zu einem effektiven DRG-Entgelt von weniger als 2.000 Euro. Mit diesem Entgelt müssen alle Aufwände des Krankenhauses bedient werden. Dazu zählen die stationäre Aufnahme, Voruntersuchungen, Anästhesieleistungen und der operative Eingriff (in diesem Fall die gesamte zahnmedizinische Therapie) sowie die Liegedauer auf einer Station. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es unmöglich, kostendeckend arbeiten zu können. Kapazitätsausweitungen sind bei derartig defizitären Rahmenbedingungen illusorisch.

Lösungswege

Wichtig und zuallererst brauchen wir dringend eine Sensibilisierung für das Problem! Momentan fallen vulnerable Gruppen vielfach durch das Raster unseres Gesundheitssystems. Da wir uns als Zahnmediziner verantwortlich fühlen, die zahnmedizinische Versorgung vulnerabler Gruppen sicherzustellen und zu verbessern, sehen wir uns in der Verantwortung, über diesen Missstand zu informieren und gemeinsam mit den am System Beteiligten Lösungen zu erarbeiten. Wir fordern eine Reformierung der Abrechnungsmodalitäten. Im stationären Setting muss über eine Anpassung der entsprechenden Fallpauschalen gesprochen werden. Im ambulanten Bereich muss es angemessene Zusatzentgelte geben. Zudem brauchen wir in den Universitätskliniken kapazitätsneutrale zahnmedizinische Stellen(anteile) für die reine hochspezialisierte Krankenversorgung.

Weiterhin müssen wir Hand in Hand mit niedergelassenen Kollegen und Expertinnen in Netzwerkstrukturen zusammenarbeiten. Eine sinnvolle Patientenverteilung in die verschiedenen Ebenen der Versorgung muss regional und überregional definiert und gestaltet sein. Wir sehen uns als Zahnmediziner ethisch in der Pflicht, uns für die Gesundheit und Lebensqualität dieser Patientengruppen einzusetzen!

Univ.-Prof. Dr. Andreas Schulte

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde / Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin,
Universität Witten/Herdecke
Alfred-Herrhausen-Str. 44,
58455 Witten
267583-flexible-1900

Univ.- Prof. Dr. Diana Wolff

Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde an der
Mund-, Zahn- und Kieferklinik des Universitätsklinikums Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400,
69120 Heidelberg

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