Ulrich Boelsen (1900-1990) – Mitglied des „Leuschner-Netzes“
Ulrich Ernst Boelsen kam am 7. April 1900 in Emden in Ostfriesland als Sohn des Ehepaares Wilhelm (1865-1930) und Auguste Boelsen, geborene Schumacher (1869-1929) zur Welt. Nach dem Abitur und einem kurzen militärischen Einsatz am Ende des Ersten Weltkrieges nahm er das Studium der Zahnheilkunde auf, das damals eine Regelstudienzeit von sieben Semestern umfasste. 1922 schloss er seine akademische Ausbildung ab und erlangte die zahnärztliche Approbation [AZD 1925/26]. Anschließend war er für kurze Zeit als Zahnarzt in seiner Geburtsstadt Emden tätig. 1923 promovierte er an der Universität Frankfurt am Main „Ueber Mundschleimhauterkrankungen bei Bismogenolbehandlung“ zum Dr. med. dent.
Als Doktorvater fungierte der jüdische Hochschullehrer und Geheimrat Karl Herxheimer (1861-1942). Herxheimer war einer der führenden Dermatologen seiner Zeit, Mitbegründer der Universität Frankfurt und erster Direktor der dortigen Universitäts-Hautklinik. Er sollte ab 1933 aufgrund seiner jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten verfolgt und am 6. Dezember 1942 im KZ Theresienstadt ermordet werden. Posthum wurde er Namensgeber der Karl-Herxheimer-Medaille, die von der „Deutschen Dermatologischen Gesellschaft“ bis heute für besondere Leistungen in diesem Fachgebiet verliehen wird [Notter 1994].
Boelsen war nach der Promotion zunächst in Frankfurt am Main als Zahnarzt tätig – erst in der Tölpitzstraße, dann in der Straße „Eiserne Hand“. Vor 1928 ließ er sich dann in eigener Praxis in der Friedensallee in Neu-Isenburg bei Offenburg nieder. Dort führte er zunächst kurzzeitig eine Sozietät mit dem Prothetiker und späteren Marburger Honorarprofessor August Elbrecht (1892-1944) [AZD 1925/26 und 1927/28]. Elbrecht gründete jedoch bereits Ende der 1920er Jahre in Neu-Isenburg ein innovatives Dentallaboratorium, das auf den stahlartigen Werkstoff Wipla („Wie Platin“) spezialisiert war. In der Folge gelang Elbrecht die Entwicklung von partiellen Prothesen und Schienen aus V2A-Stahl; er ging als Namensgeber der „Elbrechtschiene“, einer abnehmbaren gegossenen „Parodontoseschiene“, in die Fachgeschichte ein [Groß 2022].
Nach dem Ausscheiden Elbrechts führte Boelsen in Neu-Isenburg eine Einzelpraxis – zunächst in der Bahnhofstraße, ab 1941 in der Roonstraße und ab 1946 in der Zeppelinstraße, wo er noch 1978 – im stattlichen Alter von 78 Jahren – praktizierte [DZB 1932/33 - 1941; ADDZ 1948; DZA 1953 - 1978]. Boelsen war verheiratet mit Auguste Gertrud Boelsen, geborene Zerrath (1902-1988). Bis zu seinem Lebensende wohnte er in Neu-Isenburg (Zeppelinstraße).
Gründung des „Leuschner-Netzes“ in Neu-Ilsenburg
Boelsen kämpfte im „Dritten Reich“ heimlich gegen das NS-Regime. Hierzu begründete er mit Gleichgesinnten in Neu-Isenburg eine Zelle des „Leuschner-Netzes“ beziehungsweise „Leuschnerkreises“ [Groß 2023; Bonavita 2023]. Letzterer ist benannt nach dem Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner (1890-1944). Axel Ulrich schrieb 1997 in seinem Buch „Polis. 20. Juli 1944“ über jene Zelle: „In Neu-Isenburg existierte um den früheren Bibliotheksrat Dr. Wilhelm Weinreich, auch er Sozialdemokrat, den Arzt Dr. Hans Hayn sowie den Zahnarzt Dr. Ulrich Boelsen eine kleine Gruppe Oppositioneller, die an ihrer Peripherie aber bis zu 100 Personen erfasst haben soll; enge Verbindungen bestanden dort nach Frankfurt zu Christian Fries, ins Ruhrgebiet, sogar zur ‚Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien‘“ [Ulrich 1997].
Der politisch subversive Kriminalpolizist Fries war maßgeblich beteiligt an einem Rettungsversuch von Boelsens Doktorvater Karl Herxheimer, der allerdings erfolglos blieb [Bonavita 2023]. Boelsens Zahnarztpraxis und Hayns Arztpraxis fungierten als heimliche Treffpunkte für konspirative Gespräche, aber auch für die Organisation geeigneter Unterschlupfmöglichkeiten für NS-Verfolgte. Auch in den Praxen selbst wurden nachts Personen versteckt. So konnte man in Hayns Praxis „als vermeintlicher Patient mit Losungswort und einem Zahlencode nächtens unterschlüpfen.“ [Bonavita 2023].
Dank Losungswort konnten Verfolgte nachts in die Praxis
Tatsächlich lebten politisch missliebige Bürger in diesen Jahren im Raum Neu-Isenburg gefährlich. Nationalsozialistische „Fahnenappelle“, Denunziationen und Entrechtungen waren nach 1933 an der Tagesordnung. Bereits 1935 wurde in der Stadt eine „Judenliste“ veröffentlicht. Das jüdische Kinder- und Frauenheim Neu-Isenburg wurde in der Reichspogromnacht 1938 durch Brandstiftung weitgehend zerstört; 1942 wurde es ganz aufgelöst und seine Bewohner wurden deportiert und teilweise ermordet [Heubach 1986].
Obwohl Teile der Widerstandsgruppe 1941 bei der Gestapo angezeigt wurden, entgingen Boelsen und sein ärztlicher Kollege Hayn bis zum Kriegsende einer Verfolgung. Für Fittkau/Werner war dies „pures Glück, denn die illegalen Strukturen, in denen sie sich bewegten, wurden von Unterstützern des NS-Regimes schon Jahre vorher erkannt“ [Fittkau/Werner 2019, 74]. Selbst nach dem gescheiterten „Hitler-Attentat“ vom 20. Juli 1944 bestand das Leuschner-Netz fort, obwohl Leuschner selbst denunziert und im August 1944 vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler [1893-1945] zum Tode verurteilt wurde.
Boelsen selbst beschrieb die Neu-Isenburger Zelle mit folgenden Worten: „In dieser Zeit entstand unsere illegale Widerstandsgruppe, der neben Dr. Hayn und mir nur wenige Mitglieder angehörten. Des Risikos bewusst haben wir den Kreis sehr klein gehalten, kamen aber über unseren gemeinsamen Patienten, den blinden Dr. Weinreich, in Verbindung zu Herrn Kettel, der seinerseits Kontakte zu deutschen sozialistischen Organisationen in Großbritannien hatte“ [Rebentisch/Raab 1978].
Boelsen überlebte die NS-Zeit unbeschadet und machte sich nach Kriegsende weiter um die Zivilgesellschaft verdient: Durch besagten Gewerkschaftsfunktionär und Widerstandskämpfer Gustav Kettel (1903-1983) erfuhren er und Hayn das Codewort, das ihnen nach dem Einmarsch der Amerikaner direkten Zugang zu den alliierten Vertretern verschaffte [Rebentisch/Raab 1978]. Letztlich hatten Boelsen und Hayn wesentlichen Anteil daran, dass der Krieg in Neu-Isenburg ohne Blutvergießen endete: „Nachdem sie sich bereits für die gewaltfreie Auslieferung der Stadt an das amerikanische Militär eingesetzt hatten, sorgten Dr. Boelsen und Dr. Hayn nun auch für eine geordnete Übergabe der politischen Verantwortung an die amerikanischen Besatzungsbehörden“ [Maurer 2020].
Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Amerikaner Boelsen kurzerhand politisch einbanden: Am 17. April wählte der „Bürgerausschuss“, der von der amerikanischen Militärverwaltung gebildet worden war und als provisorische Gemeindevertretung arbeitete, Boelsen zum kommissarischen Bürgermeister der Stadt. Boelsen musste das Amt allerdings nur wenige Wochen ausüben: „Am 22. Mai 1945 kehrte der 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Amt gejagte Bürgermeister Wilhelm Arnoul zurück und übernahm die Amtsgeschäfte“ [Frankfurter Neue Presse 2015]. Doch auch Boelsen blieb kommunalpolitisch aktiv: Er arbeitete „auf Drängen der US-Kommandeure noch ein Jahr lang als Beigeordneter in der Verwaltung Neu-Isenburgs“ [Fittkau/Werner 2019, 75].
Boelsen gehört fraglos zu den interessantesten und schillerndsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Zahnheilkunde. Er trat nicht nur als Zahnarzt und Widerstandskämpfer hervor, sondern engagierte sich auch standespolitisch. So trat er etwa in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ für eine zahnärztliche Altersversorgung ein, die finanziell eher konservativ als spekulativ ausgerichtet war und den nachrückenden Kollegen keine unkalkulierbaren Risiken auferlegen sollte [Boelsen 1956a und b].
Er arbeitete zeitweise auch als Schauspieler und Regisseur
Darüber hinaus begeisterte er sich für den Film und die Schauspielerei. Er galt als ambitionierter Hobbyregisseur und -schauspieler. 1932/33 führte er erstmals Regie bei dem Dokumentarfilm „Barcelona, die Weltstadt am Mittelmeer“, 1938 fungierte er dann als Regisseur des elfminütigen Sachfilms „Kranke Zähne – kranker Körper“ und 1942 trat er als Darsteller im Animationsfilm „Der Fischer und seine Frau“ in Erscheinung. Die erwähnten künstlerischen Aktivitäten kann man bei „filmportal.de“ nachlesen, dem offiziellen Internetportal des Deutschen Filminstituts und Filmmuseums (DFF) [Filmportal U. Boelsen 1942].
Ulrich Boelsen war übrigens nicht das einzige prominente Mitglied seiner Familie: Er war der Bruder des bekannten Generalmajors und Ritterkreuzträgers Hans Boelsen (1894-1960) [Bradley et al. 1993]. Hans Boelsen war im Zweiten Weltkrieg unter anderem Kommandeur von Panzergrenadier-Divisionen; im Juni 1944 war er für Massaker in Onna und Filetto di Camarda mitverantwortlich, ohne später hierfür belangt zu werden. Zu Boelsens Nachfahren zählt außerdem der bekannte deutsche Sportjournalist, Tour-de-France-Berichterstatter und Publizist Helmer Boelsen [1925-2015], der ein Sohn von Hans Boelsen und ein Neffe von Ulrich Boelsen war [Rad-net 2015].
Ein Rechenschaftsbericht, der ein politisches Vermächtnis ist
Bemerkenswerterweise erstellte Boelsen über seine kurze Tätigkeit als Bürgermeister einen Rechenschaftsbericht, der zugleich als eine Art politisches Vermächtnis gelten kann [Stadtarchiv Neu-Isenburg; Frankfurter Neue Presse 2015]. Dort notierte er: „Wir alle haben nun die Folgen zu tragen, dass wir glaubten, so bequem die Verantwortung von uns abwälzen zu können auf ein Regime, das mit Feuer und Schwert sich den ganzen Kontinent unterjochen wollte und in allen besetzten Ländern Menschen zu Millionen ausrottete und versklavte.“
Er schloss mit einer Mahnung: „Niemand hat das Recht, über Unbillen und Härten zu klagen, die ihm jetzt der verlorene Krieg bringt. Der Großteil des deutschen Volkes hat dem siegenden Hitler zugejubelt und hat die Ohren verschlossen vor dem, was von dem Schreckensregiment in den besetzten Ländern durchsickerte. So haben wir jetzt für das Unrecht zu büßen, das wir an Millionen Europäern verschuldet haben. Erst nach der Erkenntnis und Sühne seiner Schuld wird Deutschland wieder einen Platz in der Familie der zivilisierten Völker einnehmen können“ [Stadtarchiv Neu-Isenburg; Klemm 2015].
Boelsen starb am 24. März 1990 kurz vor seinem 90. Geburtstag im Dreieichkrankenhaus in Langen (Hessen) [Stadtarchiv Langen; Billion Graves U. Boelsen 1990]. Er wurde neben seiner Frau auf dem Hauptfriedhof Frankfurt (Gewann B) in einem Gemeinschaftsgrab bestattet; auch seine Eltern und weitere Verwandte fanden dort ihre letzte Ruhestätte [Billion Graves U. Boelsen 1990].
Sollte die organisierte deutsche Zahnärzteschaft in naher Zukunft nach geeigneten Namensträgern für die Benennung einer Auszeichnung, einer Einrichtung oder einer Fachtagung Ausschau halten – Ulrich Boelsen wäre ein würdiger Kandidat.
Literaturliste
ADDZ (Adressbuch der Deutschen Zahnärzte) (1948), 83
AZD (Adreßkalender der Zahnärzte im Deutschen Reiche) (1925/26), Teil C, 104; (1927/28), Teil C, 121
Billion Graves U. Boelsen (1990): Billion Graves (Ulrich Boelsen), billiongraves.com/grave/Ulrich-Boelsen/27054795 [26.06.2023]
Boelsen (1956a): Ulrich Boelsen, Um unsere Altersversorgung, ZM 44/1 (1956), 76-79
Boelsen (1956b): Ulrich Boelsen, Mein Schlusswort zu den Ausführungen des Kollegen Flohr, ZM 44/4 (1956), 125
Bonavita (2023): Petra Bonavita, Nie aufgeflogen – Widerstand in der NS-Zeit im Polizeipräsidium Frankfurt am Main, 2. Auflage, Berlin 2023, 63, 80, 82, 195
Bradley et al. (1993): Dermot Bradley, Karl-Friedrich Hildebrand, Markus Rövekamp, Die Generale des Heeres 1921–1945. Die militärischen Werdegänge der Generale, sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang, Bd. 2: v. Blanckensee – v. Czettritz und Neuhauß, Osnabrück 1993, 85–87
DZA (Deutsches Zahnärztliches Adressbuch) (1953), 258; (1959), 352; (1962), 364; (1968), 361; (1971), 245; (1975), 381; (1978), 361
DZB (Deutsches Zahnärzte-Buch) (1932/33), Teil C, 382; (1935), Teil C, 429; (1938), Teil C, 469; (1941), Teil C, 456
Filmportal U. Boelsen (1942): Filmportal (Ulrich Boelsen, Darsteller, Regie), www.filmportal.de/person/ulrich-boelsen_e2912f909c884fb58a0e1c1338877402 [26.06.2023]
Fittkau/Werner (2019): Ludger Fittkau, Marie-Christine Werner, Neu-Isenburg, Waldstraße 128 – Ulrich Boelsen und Hans Hayn, in: Ludger Fittkau, Marie-Christine Werner, Die Konspirateure. Der zivile Widerstand hinter dem 20. Juli 1944, Darmstadt 2019, 73-77
Frankfurter Neue Presse (2015): Gisela Mauer fand berührendes Zeitdokument, Frankfurter Neue Presse, 21.05.2015,
Groß (2022): Dominik Groß, Lexikon der Zahnärzte und Kieferchirurgen im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Täter, Mitläufer, Oppositionelle, Verfolgte, Unbeteiligte, Bd. 1, Berlin, Leipzig 2022, 239-242
Groß (2023): Dominik Groß, Ethik und Geschichte der Zahnheilkunde unter Einbezug der Medizin, Berlin 2023, 89
Heubach (1986): Helga Heubach, Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg, 1907 bis 1942, hrsg. vom Magistrat der Stadt Neu-Isenburg, Neu-Isenburg 1986
Klemm (2015): Holger Klemm, Ein berührendes Zeitdokument, op-online, 21.05.2015, www.op-online.de/region/neu-isenburg/neu-isenburg-beruehrendes-zeitdokument-5030536.html [26.06.2023]
Maurer (2020): Gisela Mauer, Endlich Frieden! Gedenken ans Kriegsende vor 75 Jahren, Isenburger, Dezember 2020, 24,
Notter (1994): Bettina Notter, Leben und Werk der Dermatologen Karl Herxheimer (1861–1942) und Salomon Herxheimer (1841–1899), Diss. Frankfurt a. M. 1994
Rad-net (2015): Helmer Boelsen im Alter von 90 Jahren verstorben. rad-net (Webseite des Bundes Deutscher Radfahrer e.V.), 30.09.2015, www.rad-net.de/rad-net-newsarchiv.htm [05.07.2023]
Rebentisch/Raab (1978): Dieter Rebentisch, Angelika Raab, Neu-Isenburg zwischen Anpassung und Widerstand. Dokumente über Lebensbedingungen und politisches Verhalten 1933-1945, hrsg. vom Magistrat der Stadt Neu-Isenburg, Neu-Isenburg 1978, insb. 225-227
Stadtarchiv Langen (Lebensdaten U. Boelsen)
Stadtarchiv Neu-Isenburg (Kopie des Rechenschaftsberichts von U. Boelsen; Portraitaufnahme U. Boelsen)
Ulrich (1997): Axel Ulrich, Polis. 20. Juli 1944. Versuch eines Militärputsches sowie einer politisch-sozialen Revolution, Wiesbaden 1997, 12