Keine massiven Engpässe, aber Unmut
Im Januar 2023 sorgten der für die Therapie von Brustkrebs zentrale Wirkstoff Tamoxifen und ab April auch antibiotikahaltige Säfte für Kinder für Schlagzeilen: Sie waren in Deutschland aufgrund von Versorgungsengpässen nicht mehr zu bekommen. Versorgungsengpässe sind besonders gravierend, denn – anders als bei Lieferengpässen – steht kein Alternativpräparat zur Verfügung, das die Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherstellt.
Erfahrungen mit Lieferengpässen musste im Winter 2022/23 auch Dr. Carsten Hünecke aus Magdeburg machen. „Insbesondere Amoxicillin war teilweise nicht verfügbar“, sagt Hünecke, der nicht nur Präsident der Landeszahnärztekammer Sachsen-Anhalt ist, sondern auch Vorsitzender der Arzneimittelkommission Zahnärzte. „Manchmal hielten solche Engpässe ein bis zwei Wochen an, so dass wir auf andere Präparate ausweichen mussten.“
In der Gemeinschaftspraxis, die Hünecke zusammen mit zwei Kollegen betreibt, habe jeder diese Situation im vergangenen Winter etwa drei- bis viermal erlebt. „Wir haben dann mit den Patientinnen und Patienten Rücksprache gehalten, ob bei ihnen uns nicht bekannte Medikamentenunverträglichkeiten vorliegen und entsprechend eine Alternative verschrieben.“ Das habe glücklicherweise immer funktioniert, so Hünecke, aber der Prozess sei mit administrativem Zusatzaufwand verbunden gewesen – sowohl für die Praxis als auch für die Patienten.
Die Apotheke rief mehrmals pro Woche an
„Man musste noch einmal telefonieren, die Patientinnen und Patienten zusätzlich beraten und informieren, sie brauchten ein neues Rezept, mussten noch einmal zur Apotheke – und so weiter. Hinzu kamen unter Umständen körperliche Unannehmlichkeiten, denn die Patientinnen und Patienten hatten ja Beschwerden oder konnten nach einem zahnmedizinischen Eingriff nicht sofort optimal versorgt werden.“
Viele Kolleginnen und Kollegen hätten diese Erfahrungen gemacht, berichtet Hünecke. Dazu gehört auch Dr. Till Oppermann aus Markkleeberg bei Leipzig. Als Oralchirurg verschreibt er häufig Antibiotika und Analgetika. „Im Laufe des Winters gab es Amoxicillin erst nicht mehr in den üblichen Größen und dann irgendwann gar nicht mehr. Das wiederholte sich anschließend mit Amoxiclav und später mit Clindamycin. Teilweise war auch Ibuprofen-Saft vergriffen“, sagt Oppermann. „Im Schnitt rief uns die Apotheke vier- bis fünfmal pro Woche an, um uns mitzuteilen, dass das verschriebene Medikament nicht lieferbar sei.“
Während solche Engpässe bei Antibiotika und Analgetika für Zahnarztpraxen aufwendig und vor allen Dingen für die Patienten belastend seien, habe aber niemand die Situation als Notstand beschrieben, so Hünecke: „An die zahnärztliche Arzneimittelkommission wurden keine Hilferufe gerichtet. Es gab unseres Wissens keine massiven, dauerhaften Engpässe – aber natürlich Unmut“, fasst er die Stimmung zusammen. „Für viele Kolleginnen und Kollegen ist der Eindruck entstanden, dass es einen weiteren Bereich in der Versorgung gibt, der Schwierigkeiten bereitet und wo die Politik gefordert wäre. Das drückt auf die Stimmung.“
Keine Hilferufe an die Arzneimittelkommission Zahnärzte
Oppermann führt die Anfälligkeit des Arzneimittelmarkts vor allen Dingen auf diesen Grund zurück: „Deutschland war früher die Apotheke der Welt mit vielen hier angesiedelten Pharmaunternehmen. Aber irgendwann war die Produktion von Antibiotika und Analgetika nicht mehr lukrativ, der Markt wurde auf andere Kontinente ausgelagert. Auch die Forschung im Bereich Antieffektiva lohnt sich aus diesem Grund nicht mehr. Hier sollte die Politik dringend gegensteuern.“
Das im Januar 2023 veröffentlichte Gutachten „Resilienz im Gesundheitswesen – Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“ des Sachverständigenrats (SVR) Gesundheit und Pflege bestätigt diese Einschätzung. Es sieht eine deutliche Abhängigkeit des deutschen Gesundheitssystems von Zulieferern aus dem nichteuropäischen Ausland, insbesondere aus China und Indien. So habe Deutschland im Jahr 2019 zwar 72 Prozent seiner Arzneimittel aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und nur 0,8 Prozent aus China und Indien bezogen, betrachte man hingegen die Importe pharmazeutischer Grundstoffe – also die zur Herstellung von Fertigarzneimitteln erforderlichen Substanzen –, ergebe sich ein anderes Bild: Deren Menge lag nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2019 bei 38,8 Prozent, davon kamen circa drei Viertel aus China.
Vor diesem Hintergrund empfehlen die Gutachterinnen und Gutachter des SVR, in den kommenden Jahren ein System des „Multiple Sourcing“ aufzubauen. Das heißt: Gleiche Produkte sollten von mehreren Herstellern bezogen werden, die möglichst an unterschiedlichen Orten auf der Welt produzieren und es sollte auch mehr Wert auf kurze Lieferketten gelegt werden.
Über dadurch entstehende Mehrkosten heißt es im Gutachten: „Die Gewährleistung der zuverlässigen Verfügbarkeit bestimmter Arzneimittel ist auch deshalb herausfordernd, weil die Kostenstruktur und die Regulierung hohe Konzentrationen beziehungsweise Monopole auf Arzneimittelmärkten begünstigen, weshalb Multiple Sourcing erschwert und zumindest kurzfristig teilweise kostspieliger ist. Diese Kosten sind nicht in Gänze vermeidbar und müssen im Sinne der Investition in die Resilienzentwicklung getragen werden.“
Die Bundesregierung versucht, mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) Engpässe zu vermeiden. Es trat im Juli 2023 in Kraft und sieht unter anderem gelockerte Preisregeln für Kinderarzneimittel vor. So wurden Festbeträge und Rabattverträge für diese Produkte abgeschafft und Pharmafirmen können ihre Abgabepreise einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrags oder Preismoratoriums anheben. Um die Anbietervielfalt im Bereich Antibiotika zu erhöhen, müssen bei Ausschreibungen von Kassenverträgen für diese Arzneimittelgruppe künftig Anbieter mit Wirkstoffproduktion in der Europäischen Union oder im europäischen Wirtschaftsraum zusätzlich berücksichtigt werden.
Ein weiterer Punkt, der die Verfügbarkeit stärken soll: Apothekerinnen und Apotheker können nicht verfügbare Arzneimittel nun leichter gegen eine wirkstoffgleiche Alternative austauschen und erhalten für den Zusatzaufwand einen Zuschlag von 50 Cent. Zudem müssen Pharmaunternehmen für rabattierte Arzneimittel einen Sechs-Monate-Vorrat anlegen. Apotheken, die ein Krankenhaus versorgen, wurden ebenfalls zu einer erweiterten Vorratshaltung verpflichtet. Für den Großhandel gilt bei Kinderarzneimitteln eine Bevorratungspflicht von vier Wochen. Um die Maßnahmen zu überprüfen, wurde das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit zusätzlichen Informationsrechten gegenüber Herstellern und Krankenhausapotheken ausgestattet.
Am ALBVVG gibt es viel Kritik. Die gesetzlichen Krankenkassen lehnen an dem Gesetz vor allen Dingen ab, dass es das System der Rabatt- und Festverträge als Instrument der Kostenregulierung aufweicht. In seiner Stellungnahme zum ALBVVG betonte der GKV-Spitzenverband, dass durch das Gesetz jährliche Mehrkosten im hohen dreistelligen Millionenbereich entstehen würden. Ganz praktische Bedenken meldeten die Krankenhausapotheken an, die durch die größere Bevorratung logistische Probleme auf sich zukommen sehen. Apothekerverbände lehnen zudem die 50-Cent-Pauschale bei einem Engpass-Management als zu niedrig ab und fordern stattdessen 21 Euro.
Proaktiv informieren, welche Medikamente knapp sind
Als Vorsitzender der Arzneimittelkommission Zahnärzte, aber auch als Praxisinhaber begrüßt Hünecke strukturelle Reformen, um die Arzneimittelversorgung in Deutschland weniger anfällig für Krisen zu machen. Für den kommenden Winter kann man seiner Einschätzung nach jedoch nicht ausschließen, dass es stellenweise wieder zu Engpässen kommt.
Sein Tipp für die Kolleginnen und Kollegen: „Nehmen Sie Kontakt mit den Apotheken in Ihrer Nachbarschaft auf und bitten Sie diese, proaktiv darüber zu informieren, welche Medikamente knapp sind.“ Dabei könnte das Erstellen eines E-Mail-Verteilers hilfreich sein, über den Apothekerinnen und Apotheker umliegenden Praxen regelmäßig Updates über Verfügbarkeiten schicken. „So kann man sich gegebenenfalls Schleifen sparen und direkt auf eine Alternative zugreifen. Das erspart das eine oder andere Telefonat und viel Frust bei allen Beteiligten.“