Wie süchtig machen Tütensuppen, Chips und Tiefkühlpizza?
"Das wissenschaftliche Verständnis von Sucht entwickelt sich weiter“, schreiben Prof. Ashley Gearhardt und Kollegen Anfang Oktober im British Medical Journal [Gearhardt et al., 2023]. Obwohl die Sucht nach bestimmten Lebensmitteln nicht in diagnostischen Rahmenbedingungen wie dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) enthalten ist, sei die Zahl der Forschungsarbeiten zu diesem Thema in den vergangenen Jahren schnell angewachsen.
Was sind „hochverarbeitete Lebensmittel“?
2009 verwendete Carlos Augusto Monteiro von der Universität São Paulo erstmals in der Wissenschaft den Begriff Hochverarbeitete Lebensmittel (Ultra-processed foods, kurz: UPFs). In den Folgejahren änderten Monteiro und seine Co-Autoren die Definition mehrfach, bis sie 2017 die NOVA-Klassifikation (portugiesisch: „Neu") publizierten. Tatsächlich unterscheidet sich NOVA von bestehenden Lebensmittel-Klassifizierungen. Statt Nahrungsmittel nach ihrem Gehalt an Energie, Salz, Fett oder Zucker einzugruppieren, orientiert sich das vierstufige System am Verarbeitungsgrad. Es löst damit das Problem, dass sich bei herkömmlichen Lebensmittelgruppierungen in der Rubrik „Getreideprodukte“ zum Beispiel sowohl Vollkornbrot wie auch gezuckerte Cornflakes unterbringen lassen, obwohl beide sehr unterschiedlich gesund sind.
Nach der NOVA-Klassifikation gibt es vier Stufen:
Stufe 1: „unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel“, zum Beispiel Obst und Gemüse, Fleisch, Fisch, Eier oder Milch
Stufe 2: „verarbeitete Zutaten“, die aus natürlichen Lebensmitteln gewonnen und für die Zubereitung von Speisen verwendet werden, zum Beispiel Öl, Mehl, Salz oder Zucker
Stufe 3: „verarbeitete Lebensmittel“, konservierte, eingelegte oder fermentierte Lebensmittel, die nur wenige Zutaten enthalten, zum Beispiel geräucherter Fisch, saure Gurken oder Dosentomaten
Stufe 4: „hochverarbeitete Lebensmittel“, die viele Verarbeitungsschritte durchlaufen haben und viele Zutaten und Zusatzstoffe enthalten, zum Beispiel Kartoffelchips, Tiefkühlpizza, Softdrinks oder Tütensuppen
Schon 2007 wiesen Tierversuche auf das mögliche Suchtpotenzial von UPFs hin – vor die Wahl gestellte Ratten bevorzugten Zucker gegenüber Kokain. Die Wissenschaftler schlussfolgerten daraus, dass die supranormale Stimulation durch zuckerreiche Ernährung ein supranormales Belohnungssignal im Gehirn erzeugt, das das Potenzial hat, „Selbstkontrollmechanismen zu überschreiben und so zu Sucht zu führen“ [Lenoir et al., 2007]. Spätere Arbeiten bestätigten diese These, weil Versuchstiere sogar bereit waren, wiederholt Elektroschocks in Kauf zu nehmen, um zuckerreichere Nahrung zu erhalten [Oswald KD et al., 2011]. Doch es ist nicht der Zucker allein.
Der hohe Verarbeitungsgrad wird zum Problem
2009 entwickelte das Team um Gearhardt die Yale Food Addiction Scale (YFAS), um Anzeichen von süchtig machendem Essverhalten bei Menschen zu bewerten. Die YFAS analysiert systematisch, ob hochverarbeitete Lebensmittel wie Pommes oder Milchshakes bei bestimmten Menschen einen Suchtprozess auslösen können.
Die YFAS übersetzt dazu die diagnostischen Kriterien für Substanzabhängigkeit, wie sie in der DSM-IV der American Psychiatric Association angegeben sind, auf den Konsum von kalorienreichen Lebensmitteln, dazu gehören Symptome wie eine verminderte Kontrolle über die Aufnahme, großes Verlangen, Entzugserscheinungen und fortgesetzte Nutzung trotz negativer Folgen. Eine Substanzkonsumstörung wird dabei als Vorhandensein von zwei oder mehr Symptomen im vergangenen Jahr und von klinisch signifikanten Beeinträchtigungen oder Notlagen definiert.
Lebensmittel- und Alkoholsucht sind gleich stark verbreitet
2021 werteten zwei Analysen insgesamt 281 Studien aus 36 Ländern zum Thema Sucht nach hochverarbeiteten Lebensmitteln aus. Ergebnis: Die gepoolte Prävalenz für Lebensmittelabhängigkeit lag für Erwachsene bei 14 Prozent und für Kinder bei 12 Prozent [Praxedes et al., 2021; Yekaninejad et al., 2021]. Damit ähnelt die Prävalenz dem Niveau der Abhängigkeit, die für andere legale Substanzen bei Erwachsenen beobachtet wird (14 Prozent für Alkohol und 18 Prozent für Tabak), schreiben Gearhardt et al.
In Probandengruppen mit definierten klinischen Diagnosen erreicht die Prävalenz der Sucht nach UPFs deutlich höhere Werte: 32 Prozent bei Menschen mit Adipositas, bei denen eine bariatrische Operation durchgeführt wurde, und mehr als 50 Prozent bei Menschen mit Binge-Eating-Störung. Weitere Studien zeigten, dass Probanden mit einer nach YFAS definierten Abhängigkeit Kernmechanismen von Sucht zeigten, etwa neuronale Funktionsstörungen, Impulsivität und Emotionsdysregulation sowie eine schlechtere körperliche und psychische Gesundheit und eine geringere Lebensqualität [Minas et al., 2021; Horsager et al., 2021].
Die Sucht beruht auf einer Wirkstoffkombination
Die Forscher räumen ein, dass es trotz der bemerkenswerten Parallelen zwischen bekannten Suchtstoffen und hochverarbeiteten Lebensmitteln auch Gegenargumente gibt. So geben Kritiker zu bedenken, dass für hochverarbeitete Lebensmittel ein klarer Substanz-Wirkungs-Zusammenhang fehlt, wie er bei Tabak- (Nikotin) oder Alkoholabusus (Ethanol) nachgewiesen ist. Tatsächlich identifizierte eine systematische Untersuchung von 2.066 Studien, die mit der YFAS arbeiteten, nur in 16 Arbeiten Hinweise auf Beziehungen zwischen UPF-Sucht und Hormonen und anderen Blutbiomarkern [Römer et al., 2023].
Diese zeigten zwar deutliche Befunde für Leptin, Ghrelin, Cortisol, Insulin und Glukose, Oxytocin, Cholesterin und Plasma-Dopamin, aufgrund kleiner Stichprobengrößen und von Variationen der untersuchten Populationen zum Adipositasstatus, Geschlecht und psychischen Gesundheitskomorbiditäten konnten jedoch keine definitiven Zusammenhänge bestimmt werden. Fazit: Während hinlängliche Beweise für süchtig machende Prozesse durch hochverarbeitete Lebensmittel in Tierexperimenten vorliegen, werden weitere Untersuchungen benötigt, um Vergleichbares für den Menschen nachzuweisen.
Die Folgen des Konsums reichen bis hin zu Krebs
Denn selbst bei gut untersuchten abhängig-machenden Substanzen wie Nikotin seien die genaue Dosis und das Aufnahmeniveau, ab dem die Sucht auftritt, unbekannt. Gearhardt zufolge ist das Suchtpotenzial hochverarbeiteter Lebensmittel nicht im Vorhandensein eines einzigen Inhaltsstoffs, sondern vielmehr im Zusammenspiel der Inhaltsstoffe zu suchen. Man müsse daher weiter forschen, um zu verstehen, wie Inhaltsstoffe hochverarbeiteter Lebensmittel so interagieren, dass sie das Suchtpotenzial erhöhen.
Inzwischen verdichten sich die Beweise, dass eine Vielzahl negativer Gesundheitseffekte mit dem Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln assoziiert ist – vom metabolischen Syndrom, Typ-2-Diabetes, Herzinfarkt oder Angina [Menichetti et al., 2023], über Adipositas und Zerebrovaskuläre Erkrankungen [Pagliai et al., 2021] und Morbus Crohn [Chen et al., 2023] bis hin zur Reduktion der kognitiven Leistungsfähigkeit [Gomes Gonçalves et al., 2022] und Depressionen [Samuthpongtorn C. et al., 2023]. Zahlreiche Studien assoziieren den Konsum zudem mit einem gesteigerten allgemeinen Krebsrisiko, etwa Eierstock- und Lungenkrebs [Chnag et al., 2023] sowie Brust-, Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs [Isaksen/Dankel, 2023] – und infolge dieser Befunde mit einer allgemein niedrigeren Lebenserwartung [Nilson et al., 2023].
Vor diesem Hintergrund schreiben Gearhardt und DiFeliceantonio in der Zeitschrift Addiction, UPFs könnten leicht anhand jener Kriterien als süchtig machend eingestuft werden, die 1988 vom Sanitätsinspekteur der USA zur Bewertung von Tabakprodukten eingesetzt wurden, um die damalige wissenschaftliche Kontroverse aufzulösen [Gearhardt/ DiFeliceantonio, 2022]. Dieser identifizierte die Suchtcharakterhaftigkeit damals anhand von drei Kriterien. Es ging um deren Fähigkeit,
eine stark kontrollierte oder zwanghafte Verwendung zu verursachen,
psychoaktive Auswirkungen auf das Gehirn und
verstärkendes Verhalten auszulösen.
Ähnliche Beweise, argumentieren die Wissenschaftler, gebe es bereits für hochverarbeitete Lebensmittel, und verweisen auf die Fülle an Zusätzen, mit denen UPFs und deren spezifische somatosensorische Eigenschaften (zum Beispiel Geschmack, Geruch, Textur und Mundgefühl) optimiert werden. Gleichzeitig werden häufig hohe Dosen verarbeiteter Kohlenhydrate und zugesetzter Fette kombiniert, was womöglich eine Schlüsselrolle bei der Verstärkung der süchtig machenden Natur von UPFs spielt. Industrielle Zusatzstoffe wie Emulgatoren, Geschmacksverstärker und künstliche Aromen erinnerten an die zum Teil hunderte Zusatzstoffe, mit denen die Industrie das Suchtpotenzial von Zigarettentabak erhöhe.
Gearhardt und DiFeliceantonio warnen davor, dass nun eine Phase der gezielten Desinformation bevorsteht, in der die Lebensmittelindustrie sich der damals von der Tabakindustrie verwendeten Strategien bedient. Es seien bereits erste Forschungen gefördert worden, die gegen die Existenz der Zuckersucht anschreiben. Schließlich handele es sich zum Teil um dieselben Akteure.
Tabakkonzerne verkaufen jetzt Chips, Kekse und Ketchup
Denn in den 1980er- bis 2000er-Jahren kauften sich die US-amerikanischen Tabakkonzerne R.J. Reynolds Tobacco Holdings und Philip Morris in die Lebensmittelindustrie ein und wurden so mit zu den größten Produzenten von UPFs. Für Aufsehen sorgte 2000 vor allem die Übernahme der Nabisco Holding durch Philip Morris für fast 19 Milliarden US-Dollar. Damit baute der Tabakkonzern, zu dem bereits The Kraft Heinz Company gehörte, seine Position als zweitgrößter Lebensmittelkonzern der Welt nach Nestlé aus. Neben Zigaretten der Marken Marlboro und Chesterfield hat das Unternehmen seitdem zahlreiche in den USA beliebte Chipssorten, Marshmellow- und Erdnussbuttersnacks sowie „Frühstückskekse“ im Produktportfolio. Dank der Kraft Foods Group (heute Mondelez) gehören Philip Morris auch Marken wie Cadbury, Côte d'Or, Milka, Toblerone, Oreo, Philadelphia und Jacobs.
Durch Zukäufe stellte sich Philip Morris im Laufe der Jahre aber noch breiter auf: Neben dem Stammgeschäft mit Tabakprodukten und Süßwaren übernahm oder beteiligte sich der Mutterkonzern an Bier-, Wein- sowie E-Zigaretten-Herstellern sowie an dem kanadischen Cannabisproduzenten Chronos Group. Kritik erntete er 2021 für die milliardenschwere Übernahme von Vectura. Der Grund: Der britische Medizinproduktehersteller hat sich auf Inhalatoren zur COPD-Behandlung spezialisiert. Schätzungen zufolge sind in der westlichen Welt 80 bis 90 Prozent der COPD-Fälle durch Rauchen verursacht.
Literaturliste
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Chang K. et al., Ultra-processed food consumption, cancer risk and cancer mortality: a large-scale prospective analysis within the UK Biobank, The Lancet, Volume 56, 101840, February 2023, DOI: doi.org/10.1016/j.eclinm.2023.101840
Chen J. et al., Intake of Ultra-processed Foods Is Associated with an Increased Risk of Crohn’s Disease: A Cross-sectional and Prospective Analysis of 187 154 Participants in the UK Biobank, Journal of Crohn's and Colitis, Volume 17, Issue 4, April 2023, Pages 535–552, doi.org/10.1093/ecco-jcc/jjac167
Gearhardt, A. N. et al., Social, clinical, and policy implications of ultra-processed food addiction, BMJ 2023; 383, doi: doi.org/10.1136/bmj-2023-075354
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