Rudolf Glass (1890–1966) – „Staatsfeind“ im „Dritten Reich“ und in der DDR
Albert Rudolf Glass (Rufname: Rudi) wurde am 5. Dezember 1890 im preußischen Königsberg (heute: Kaliningrad in Russland) geboren [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914]. Er war ein unehelicher Sohn der Plätterin (heutige Bezeichnung: Putz- und Waschfrau) Herta Glass. Rudi wurde evangelisch getauft, wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf und erlernte zunächst den Beruf des Stuckateurs und Bildhauers. Er wurde in Schönfließ im Kreis Königsberg wohnhaft und heiratete am 23. Oktober 1914 in Königsberg die Protestantin Luise Johanna Luise Johanna Frida Bernhardt (geb. 1895). Diese war die Tochter eines Baders und Barbiers und stammte aus Berlin. Zum Zeitpunkt der Heirat war die Mutter von Glass bereits verstorben. Das Ehepaar Glass bekam eine gemeinsame Tochter namens Irma Glass, von der lediglich bekannt ist, dass sie 1938 in Königsberg in der Fleischbänken Straße lebte [Arolsen Archives R. Glass, 1890]. In einer späteren Häftlings-Personalkarte ist die Zahl von Glass’ Kindern mit „2“ angegeben (Abbildung 1) – hierzu liegen jedoch keine weiteren Informationen vor. Die Ehe von Rudolf und Luise Glass hielt knapp neun Jahre – sie wurde am 27. Juli 1923 rechtskräftig geschieden und Rudolf Glass ging nachfolgend keine eheliche Bindung mehr ein [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914].
Bereits 1912 trat Glass der SPD bei. Von 1914 bis 1918 diente er als Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde schlussendlich nach mehrmaliger Verwundung als dienstuntauglich entlassen. Aus dieser Zeit resultierte eine Schussnarbe an der rechten Schulter (Abbildung 1). Offenbar sammelte Glass in der Folgezeit einzelne fachliche Erfahrungen im Bereich der Zahntechnik oder Zahnheilkunde – womöglich bei seinem Schwiegervater –, ohne sich jedoch für die Tätigkeit als Zahnbehandler förmlich zu qualifizieren.
Frühzeitig positionierte er sich gegen die NS-Ideologie
Glass zog – wohl in den frühen 1920er-Jahren – nach Braunschweig und wurde im Stadtteil Querum ansässig. Dort wurde er noch in den 1930er-Jahren mit dem Beruf Stuckateur (gelegentlich auch Bildhauer) geführt. Dokumentiert ist zudem, dass er in der Weimarer Republik in der Zeit von 1927 bis 1933 als Leiter der Geschäftsstelle Braunschweig des „Deutschen Freidenkerverbandes“ fungierte und zeitweilig zudem Stadtverordneter der SPD war [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914]. Mit den Mitgliedschaften in den besagten Organisationen positionierte er sich demokratisch und humanistisch klar gegen den Nationalsozialismus und die NS-Ideologie.
Mit dem Machtwechsel Ende Januar 1933 galt Glass dann aufgrund seiner politischen Orientierung als unliebsam. Die Nationalsozialisten gingen sowohl gegen die Sozialdemokraten als auch gegen die Freidenker vor. Die SPD ereilte am 22. Juni 1933 ein endgültiges Verbot. Aufgrund der Einordnung als „staats- und volksfeindliche“ Partei wurden ihren Mitgliedern sämtliche politischen Aktivitäten untersagt. Im selben Jahr wurden auch alle Freidenker-Vereinigungen in Deutschland aufgelöst und deren Vermögensbestände enteignet, womit Glass zugleich seine Anstellung als Geschäftsführer einbüßte.
Zudem wurde Glass im Jahr 1933 erstmals kurzzeitig in „Schutzhaft“ genommen, dann jedoch wieder entlassen. Anschließend hielt er sich mit fachfremden Hilfstätigkeiten über Wasser. Doch am 11. August 1934 wurde er erneut inhaftiert. Nun folgte eine insgesamt vierjährige Gefängnisstrafe, die er in Dresden, Berlin-Moabit und ab dem 28. Februar 1935 in Bremen absaß; am 12. Dezember 1935 wurde zudem seine Wohnung in Braunschweig-Querum abgemeldet, das heißt, er war fortan wohnungslos.
In Buchenwald wurde er auf der Zahnstation eingesetzt
Glass kam bis zum Ende des „Dritten Reiches“ nicht wieder frei. Vielmehr wurde er am 13. September 1938 von Bremen aus in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar überstellt. Dort erhielt er die Häftlingsnummer 2.788. In Buchenwald wurde er unter anderem als Schreiber der Zahnstation (1939–1941) und späterhin als zahnärztlicher Gehilfe (1941–1945) abgestellt – wohl aufgrund seiner handwerklichen Fähigkeiten als Stuckateur beziehungsweise aufgrund möglicher Vorerfahrungen im Bereich der Zahnheilkunde [Arolsen Archives R. Glass, 1890; Hackett, 2010].
Er überlebte das Konzentrationslager und kam mit dem Ende des Krieges frei. Seine Tätigkeit in der Zahnstation des KZ Buchenwald machte ihn in der Nachkriegszeit zumindest unter den Fachhistorikern bekannt, denn er fungierte nun als Zeitzeuge und gab den Alliierten detaillierte Informationen über die Verhältnisse auf besagter Zahnstation [Hackett, 2010; Riaud, 2015]. So führte er 1945 zu den KZ-Zahnbehandlern und zur Versorgung der Inhaftierten im KZ Buchenwald aus:
„Eine geordnete zahnärztliche Versorgung der Häftlinge bestand bis Mitte 1939 nicht. Instrumente und Medikamente dafür fehlten. Das ärztliche und Pflegepersonal, dem jede zahnärztliche Kenntnis fehlte, behandelte die Häftlinge nach Gutdünken. In der Regel wurde jeder schmerzende Zahn gezogen, soweit ihn der betreffende SS-Angehörige überhaupt fand. Es kam sehr oft vor, daß gesunde Zähne gezogen wurden. Kranke Zähne hätten bei geeigneter Behandlung meist erhalten werden können. […] Da dem SS-Personal jede fachliche Fertigkeit fehlte, wurden die meisten Zähne nicht gezogen, sondern abgebrochen. Der Zahnrest blieb im Kiefer, und die Pfuscharbeit wurde erst später entfernt. Im Juni 1939 wurde dann eine komplette Zahnstation für Häftlinge im Block 7 des Lagers eingerichtet, zwar völlig modern, aber es fehlte an fachlich geschultem Personal. Der erste SS-Zahnarzt war der SS-Oberscharführer Coldewey. Er hatte praktisch überhaupt noch nicht gearbeitet und machte demnach seine ersten zahnärztlichen Gehversuche auf Kosten der Häftlingspatienten. Zu seiner Unfähigkeit kam noch seine sadistische Veranlagung. Jeder Behandlung ging ein Exerzieren mit den Häftlingspatienten voraus. Es wurden öfter Ohrfeigen und Fußtritte als zahnärztliche Behandlung verabfolgt. Dieser Mann liebte auch das Extrahieren ohne Injektion. Den Häftlingspatienten sagte er vorher, daß es nicht weh täte. Fast keiner seiner Extraktionsversuche gelang ihm, so daß später Komplikationen eintraten und größere Operationen notwendig waren [...]“ [Hackett, 2010].
Er wurde Zeuge dilettantischer, sadistischer Behandlungen
Glass nannte in seinen Ausführungen mehrere Zahnärzte, von denen ein Fachvertreter hier kurz näher vorgestellt werden soll: Georg Coldewey (1910–1994). Coldewey, zuletzt Sturmbannführer der Waffen-SS, trat im KZ Buchenwald tatsächlich durch besonders brutale Aktionen und fachlich dilettantisch ausgeführte Behandlungsmaßnahmen hervor [Kogon, 1974, 140; ähnlich: Pukrop, 2015]. Dennoch entging er nach 1945 einer Verurteilung und konnte seine zahnärztliche Laufbahn in der Bundesrepublik fortsetzen: Mitte der 1950er-Jahre ließ er sich in eigener Praxis in Wilhelmshaven (Rheinstraße) nieder. Ebenda praktizierte er mindestens bis zum Jahr 1978 [Groß, 2024].
In seine von der Roten Armee besetzte preußische Heimat konnte Glass nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht zurückkehren. Er verblieb vielmehr in der Region um Weimar in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) (Abbildung 2) und engagierte sich wieder im politischen Bereich – ähnlich wie Hermann Ley (1911–1990), der ebenfalls in dieser Reihe besprochen wurde [Groß/Wellens, 2023]. Bereits am 13. April 1945 trat er als Mitunterzeichner des „Buchenwalder Manifests der demokratischen Sozialisten“ hervor. Dort hieß es:
„Wir haben Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager ertragen, weil wir glaubten, auch unter der Diktatur für die Gedanken und Ziele des Sozialismus und für die Erhaltung des Friedens arbeiten zu müssen. Im Zuchthaus und Konzentrationslager setzten wir trotz täglicher Bedrohung mit einem elenden Tode unsere konspirative Tätigkeit fort. Durch diesen Kampf ist es uns vergönnt gewesen, menschliche, moralische und geistige Erfahrungen zu sammeln, wie sie in normalen Lebensformen unmöglich sind. Vor dem Schattengesicht der Blutzeugen unserer Weltanschauung, die durch die hitleristischen Henker gestorben sind, wie auch in der besonderen Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder halten wir uns deshalb für berechtigt und verpflichtet, dem deutschen Volke zu sagen, welche Maßnahmen notwendig sind, um Deutschland aus diesem geschichtlich beispiellosen Zusammenbruch zu retten und ihm wieder Achtung und Vertrauen im Rate der Nationen zu verschaffen. 1. Vernichtung des Faschismus […], 2. Aufbau der Volksrepublik […], 3. Befreiung der Arbeit […], 4. Sozialisierung der Wirtschaft […], 5. Friede und Recht […], 6. Neue Humanität […], 7. Sozialistische Einheit“ [Stiftung Gedenkstätten, 2024].
1949 – im Alter von 59 Jahren – erlangte er die Approbation
Glass trat nun dem „Bund demokratischer Sozialisten in Thüringen“ (der in der SPD aufging) bei und wurde 1946 Mitglied der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED). Letztere war im April 1946 aus der Zwangsvereinigung von (Ost-)SPD und KPD entstanden. Auch beruflich orientierte er sich neu: Offenbar war durch seine Tätigkeit auf der Zahnstation in Buchenwald sein Interesse an der Zahnheilkunde geweckt worden. Jedenfalls bemühte er sich in diesen Jahren um eine (in ihrem Umfang nicht genau bekannte) Nachqualifikation in der Zahnmedizin und erlangte 1949 die zahnärztliche Approbation. Dabei kam ihm zugute, dass die SBZ beziehungsweise die DDR im Rahmen einer Übergangsregelung just 1949 die Aufnahme der nicht-approbierten Zahnbehandler – der sogenannten Dentisten – in den zahnärztlichen „Einheitsstand“ ermöglichte; dementsprechend waren die Hürden zur Aufnahme in die Zahnärzteschaft in jener Zeitphase für Nicht-Approbierte besonders niedrig [Groß, 2019 und 2023].
Von 1949 bis 1960 war Glass dann als Betriebszahnarzt im Mähdrescherwerk in Weimar tätig. Glass wohnte in jener Zeit in Weimar in der Kühnstraße [DZA, 1957]. Neben seiner zahnärztlichen Tätigkeit engagierte er sich in der Öffentlichkeits- und Erinnerungsarbeit: Er führte Besuchergruppen durch das ehemalige KZ Buchenwald, das in der DDR sukzessive zu einer Mahn- und Gedenkstätte umgestaltet wurde, und erzählte dort von seinen Erlebnissen und Erfahrungen. Zudem verfasste er Beurteilungen zu Nationalsozialisten, mit denen er im KZ zu tun hatte. So stellte er dem Zahnarzt Hanns Fischer (1901–1977) ein entlastendes Zeugnis aus. Fischer war im „Dritten Reich“ in der Waffen-SS aktiv und auch im KZ Buchenwald tätig gewesen und befand sich nach 1945 in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft; in dieser Situation bescheinigte ihm Glass einen menschenfreundlichen Umgang mit den Gefangenen [StadtA Gotha, 1.2./85].
Doch in den 1950er-Jahren geriet Glass auch zur DDR in einen zunehmenden Gegensatz [Röll, 2000; Koch/Wohlfeld, 2010]: Er äußerte – auch im Mähdrescherwerk – Kritik an der Politik der DDR-Regierung und trat 1953 aus der SED aus. 1960 spitzte sich die politische Situation zu: Glass wurde in jenem Jahr aus politischen Gründen verhaftet. Es folgten Verhöre durch die Staatssicherheit und die Beschlagnahmung sogenannter „DDR-feindlicher Schriften“ von Glass. Noch im selben Jahr wurde er wegen des Vorwurfs der Bildung einer „staatsfeindlichen Gruppe“ im Mähdrescherwerk zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ab 1960 saß Glass in der Strafanstalt Torgau ein, aus der er 1965 entlassen wurde. Doch die wiedererlangte Freiheit konnte er nur kurz genießen. Er verunglückte am 7. März 1966 bei einem Arbeitsunfall in seinem Fotolabor in Weimar im Alter von 75 Jahren.
Glass gehört aus heutiger Sicht zweifellos zu den tragischen Figuren der deutschen Zahnheilkunde des 20. Jahrhunderts. Er musste letztlich rund 16 Jahre seines Lebens in Haft zubringen und galt hierbei in zwei politisch konträren diktatorischen Systemen – dem NS-Staat und der DDR – als „Staatsfeind“.
Literaturliste
Arolsen Archives R. Glass [1890]: Arolsen Archives, Akte von Glass, Rudolf, geboren am 05.12.1890, collections.arolsen-archives.org/de/archive/1-1-5-3_01010503-001-149-151 [08.01.2024]
DZA (1957): Deutsches Zahnärztliches Adreßbuch 1957, Dortmund 1957, 842
Stiftung Gedenkstätten [2024]: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora #otd1945.04.23. Das Buchenwalder Manifest, liberation.buchenwald.de/otd1945/das-buchenwalder-manifest [08.01.2023]
Groß (2019): Dominik Groß, Die Geschichte des Zahnarztberufs in Deutschland. Einflussfaktoren – Begleitumstände – Aktuelle Entwicklungen, Berlin 2019, 10, 176
Groß (2023): Dominik Groß. Curriculum Ethik und Geschichte der Zahnheilkunde unter Einbezug der Medizin, Berlin 2023, 33
Groß (2024): Dominik Groß, Lexikon der Zahnärzte und Kieferchirurgen im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland. Band 3.1, Berlin 2024
Groß/Wellens (2023): Dominik Groß, Sarah Wellens, Hermann Ley (1911–1990) – Zahnarzt und „Volksfeind“ im NS-Staat, Zahnärztl. Mitt. 113/19 (2023), 1686-1689
Hackett (2010): David A. Hackett (Hrsg.), Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. 2. Auflage, München 2010, 89f., 253-255
Koch/Wohlfeld (2010): Heinz Koch, Udo Wohlfeld, Das deutsche Buchenwaldkomitee. Die Periode von 1945 bis 1958, Weimar 2010, 176
Kogon (1974): Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, 140
Personenstandsregister R. Glass [1890]: Sammlung Östliche preußische Provinzen, Polen, Personenstandsregister 1874-1945, Nr. 2463 (Albert Rudolf Glass), online bei Ancestry, www.ancestry.de/discoveryui-content/view/2578472:60749 [08.01.2024]
Personenstandsregister R. Glass [1914]: Sammlung Östliche preußische Provinzen, Polen, Personenstandsregister 1874-1945, Nr. 1046 (Albert Rudolf Glass), online bei Ancestry, www.ancestry.de/discoveryui-content/view/2649642:60749 [08.01.2024]
Pukrop (2015): Marco Pukrop, SS-Mediziner zwischen Lagerdienst und Fronteinsatz. Die personelle Besetzung der medizinischen Abteilung im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936-1945, Diss. Phil. Fak. Hannover 2015, 142
Riaud (2015): Xavier Riaud, Chirurgie dentaires et nazisme, Paris 2015, 157
Röll (2000): Wolfgang Röll, Sozialdemokraten im Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945, Göttingen 2000, 204, 246f., 285
Stadtarchiv Gotha, 1.2./85 („Politische Beurteilung des Zahnarztes Dr. Hanns Fischer, Gotha Erfurter Straße 19“)