Von der Kunst des Zuhörens
Ein Schmerzpatient kommt in die Sprechstunde, holt tief Luft und berichtet in epischer Breite von seinen Beschwerden. Nach den ersten Sekunden schalten Sie ab („Downloaden“, siehe unten), denn Sie wissen ja bereits die Lösung für sein Problem und Zeit haben Sie auch nicht. Noch bevor der Patient fertig ist, steht die Diagnose fest. Pochende Schmerzen, ältere Prothetik, keine Vitalität: ein endodontisches Problem. Der Zahn wird trepaniert.
Wenn Sie hier allerdings überhört haben, dass der Patient am Tage zuvor zwei Stunden Holz gehackt hat, sind Sie möglicherweise falsch abgebogen.
Warum uns das Zuhören so schwerfällt
Zum einen kann das menschliche Gehirn schneller denken, als jemand anderes reden kann. Wir können bis zu 180 Wörter pro Minute sprechen, unser Gehirn kann aber bis zu 1.000 Wörter pro Minute verarbeiten. Es ist beim Zuhören schnell unterfordert – und wir nutzen die verbleibende Hirnkapazität im besten Fall, um uns Lösungen zu überlegen. Und während wir abschweifen, über Alltägliches nachdenken oder uns eine Antwort zurechtlegen, sind wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht mehr beim Sprecher. Genau da liegt die Gefahr, wichtige Information zu verpassen.
Zum anderen möchten wir gerne die Zuneigung unseres Gegenübers erfahren: Der Wunsch nach positiver Rückmeldung treibt uns voran, möglichst schnell eine Lösung für andere zu finden. Mediziner sind genau dafür ausgebildet. Es ist ihre Profession, zu helfen und Lösungen für medizinische Probleme zu generieren. Doch gerade diese edle Absicht steht ihnen beim Zuhören häufig im Weg.
Natürlich haben sich behandlungsspezifische Anamnesebögen bewährt, nicht nur bei CMD- und/oder Schmerzpatienten, und selbstverständlich nicht nur, um Zeit zu sparen. Je genauer Sie die Patientengeschichte vorab kennen, desto gezielter können Sie nachfragen. So können Sie das Gespräch lenken und erhalten in kurzer Zeit die wirklich relevanten Informationen.
Gezielte Fragen können sein:
Was genau wurde bereits unternommen, um das Problem oder die Schmerzen zu behandeln?
Was hat zur Beseitigung beziehungsweise Linderung Ihrer Beschwerden beigetragen?
Welche Erwartungen haben Sie an die bevorstehende Beratung/Behandlung?
Wie stellen Sie sich Ihre neuen Zähne vor?
Was genau soll nach der Korrektur anders sein?
Zu welcher Behandlungsmethode tendieren Sie?
Wären Sie bereit eine … zu tragen, eine … durchführen zu lassen?
Wenn Sie Fragen stellen und zusammenfassen, was der Patient im (Erst-)Gespräch erzählt hat, verhindern Sie, dass Sie aneinander vorbeireden. Das spart im weiteren Behandlungsverlauf zeit- und nervenaufreibende Nachkorrekturen. Denn wer sich nicht wahrgenommen und verstanden fühlt, wird versuchen, durch noch mehr Aktion die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu erlangen. Durch aktives, empathisches Zuhören wird sich die Redezeit ihrer Patienten also von selbst verkürzen, denn sie fühlen sich schneller „erhört“.
Zuhören ist nicht gleich Zuhören
Der deutsche Ökonom und Wissenschaftler Dr. Claus Otto Scharmer, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge zum Thema Zuhören forscht, teilt das Zuhören in vier Ebenen ein [Scharmer, 2020]:
Das Downloading: Beim sogenannten Downloaden gleichen wir das, was wir hören, mit dem, was wir schon kennen, ab. Auf der Basis unseres vorhandenen Wissens bestätigen wir unsere eigenen Erwartungen durch das Gehörte. Es kommen keine neuen Informationen dazu. Dieses Downloaden wenden wir unbewusst in Alltags- und Routinesituationen an, um uns vor einer Informationsüberflutung zu schützen. Dabei sind wir ganz auf unsere eigene Welt konzentriert. Zum Beispiel haben Sie in der Frühbesprechung festgelegt, welcher Patient in welches Behandlungszimmer gesetzt wird. Nun kommt Ihre Mitarbeiterin und sagt: „Patient XY sitzt in Zimmer 1!“ Sie laden die Information herunter, die Sie auch erwartet haben.
Das faktische Zuhören: Dabei gleichen wir unser Wissen mit neuen Informationen ab. Wir filtern die Unterschiede heraus zwischen dem, was wir hören, und dem, was wir bereits über das Thema wissen. Der Fokus liegt ganz auf den neuen Informationen. Faktisches Zuhören wenden wir etwa bei Fortbildungen an. Es ist Voraussetzung für jeglichen Wissenszuwachs. Die innere Bereitschaft dazulernen zu wollen, ein „open mind“, bildet die Basis für faktisches Zuhören.
Das aktive oder empathische Zuhören: Diese Form des Zuhörens geht auf den Psychologen und Psychotherapeuten Carl R. Rogers zurück [Rogers, 1985]. Ende der 1950er-Jahre entwickelte er in den USA sein „Klienten-zentriertes Zuhören“ mit dem Ziel, Vertrauen beim Patienten aufzubauen und ihn darin zu unterstützen, eigene Lösungen für seine Probleme zu finden. Beim aktiven Zuhören kommt dem Zuhörenden eine zentrale, aktive Rolle zu. Durch den Einsatz professioneller Gesprächstechniken – wie Reflektieren (Wiederholen des Gesagten), Paraphrasieren (Wiedergabe oder Zusammenfassen des Gesagten mit eigenen Worten), gezieltes Fragen und Senden von Aufmerksamkeitssignalen (zustimmendes Nicken und Laute wie Aha, hmm, ja etc.) – signalisieren wir unserem Gesprächspartner, dass wir mit unserer ganzen Aufmerksamkeit bei ihm sind und uns um Verständnis bemühen. Beim aktiven Zuhören bekommen wir Zugang zu den Erwartungen, Erfahrungen, Gefühlen und Meinungen unseres Gegenübers. Der Zuhörende erfährt mehr als die reine Sachinformation, er hört „zwischen den Zeilen“. Aktives Zuhören eignet sich besonders gut für Erstberatungen von Schmerzpatienten, für Patienten mit einem umfangreichen Behandlungswunsch, für Mitarbeitergespräche oder im Beschwerdemanagement. Damit aktives Zuhören gelingen kann, ist eine sehr offene und wertfreie innere Haltung, ein „open heart“ beim Zuhörer notwendig.
Das generative oder schöpferische Zuhören: Bei dieser Form des Zuhörens sollen beim Sprechenden neue Ideen und Gedanken entstehen. Damit das funktioniert, benötigt der Redner eine entspannte, offene Atmosphäre. Der Zuhörende nimmt sich vollständig zurück und gibt dem anderen möglichst viel Raum für seine Worte. Das generative Zuhören kann nur gelingen, wenn der Zuhörende seine eigenen Ideen und Lösungsansätze zurückstellt und dem Sprechenden wertfrei und aufmerksam begegnet. Scharmer beschreibt diese innere Haltung als „open will“, also als Wille, neue Ideen und Lösungsansätze zu fördern und zuzulassen. In der Praxis eignet sich diese Form des Zuhörens gut für Teambesprechungen und immer dann, wenn Lösungen und neue Ideen gefragt sind, oder auch für Fallbesprechungen unter Kollegen.
Der stille Zuhörer ist der heimliche Gewinner
Alle diese vier Kategorien des Zuhörens sind wichtig im Umgang mit Patienten und Mitarbeitenden. Um empathisch und generativ zuhören zu können, braucht man etwas Übung. Trainieren Sie diese Technik in privaten Unterhaltungen, Sie werden überrascht sein, was Sie alles zu hören bekommen.
Kleiner „Zuhör-Knigge“
Schauen Sie Ihren Gesprächspartner an.
Nehmen Sie eine wertfreie innere Haltung ein.
Passen Sie sich dem Rhythmus des Sprechenden an.
Lassen Sie Pausen zu, für beide Seiten.
Unterbrechen Sie nach Möglichkeit nicht. Wenn doch, dann durch gezieltes Fragen.
Schaffen Sie eine möglichst ruhige Atmosphäre.
Da wir hörend geboren werden, können wir „nicht nicht hören“, so wie wir auch „nicht nicht kommunizieren" können“. Zuhören dagegen ist ein aktiver Prozess, der das rein neurologische Hörvermögen voraussetzt. Es hat immer eines zum Ziel: ein Verständnis dessen zu erlangen, was gesagt wurde. Wer aufmerksam zuhört, bekommt neue Informationen und lernt von und vor allem etwas über den anderen. Zuhören hat bei uns keine Tradition und damit kein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Dabei ist der stille Zuhörer der heimliche Gewinner. Der Redner gibt sein Wissen von sich, der Zuhörer sammelt es ein!
Literaturliste
Claus O. Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2020
Carl R. Rogers: Die nicht-direktive Bratung. Counseling and Psychotherapy. Fischer, 1985
Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson. Menschliche Kommunikation. Huber Bern Stuttgart Wien 1969, 2.24 S. 53
Sarah Gierhan: „Die Anatomie der Sprache“, www.dasgehirn.info/denken/sprache/die-anatomie-der-sprache, 27.04.2015