Bundeskabinett beschließt Ernährungsstrategie

„Zu unkonkret und vage formuliert“

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pr
Schmackhaftes, gesundes und nachhaltiges Essen für alle – mit dieser Absicht hat das Bundeskabinett Mitte Januar die Ernährungsstrategie der Bundesregierung beschlossen. Ziel ist es, in Kitas, Schulen, Kantinen und Supermärkten ein reichhaltigeres Angebot an gesunden Lebensmitteln anzubieten. Dazu werden 90 Maßnahmen vorgeschlagen. Doch Kritikern – auch der Bundeszahnärztekammer – sind die Pläne zu unkonkret.

Gutes Essen soll in Deutschland leichter zugänglich werden – so das Ziel der Bundesregierung. Sie will sich für vielseitiges Essen in Kitas, Schulen und Kantinen und ein reichhaltigeres Angebot an gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln in Supermärkten einsetzen. Gestärkt werden soll eine vielseitige Ernährung mit viel Gemüse und Obst. Es soll weniger Zucker, Fett und Salz im Essen und mehr Bio und regionale Lebensmittel in Kantinen verwendet werden, zudem mehr pflanzenbasierte Lebensmittel und weniger Fleisch angeboten werden. Auch die Verschwendung von Lebensmitteln soll deutlich und nachhaltig gesenkt werden. Die Strategie will gutes Essen für alle ermöglichen. Dabei liege die Entscheidung bei jedem Einzelnen, niemandem solle etwas vorgeschrieben werden, heißt es ausdrücklich in dem über 70 Seiten umfassenden Strategiepapier.

„Essen und Trinken sind Grundbedürfnisse und gleichzeitig so viel mehr“, kommentierte Bundesernährungsminister Cem Özdemir bei der Präsentation der Strategie. „Ich will, dass jeder eine echte Wahl für gutes Essen bekommt. Leckeres, gesundes und nachhaltiges Essen darf nicht vom Geldbeutel abhängen oder davon, aus welcher Familie man kommt.“

Skepsis kommt bei der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) auf. Für sie ist gesunde Ernährung – mit Bezug auf die Zahngesundheit – ein wichtiges Anliegen. Den Zahnärzten geht es dabei vor allem um die Reduzierung von Zucker. Vizepräsident Konstantin von Laffert weist darauf hin, dass Mitglieder der BZÄK als Sachverständige an den Diskussionsrunden des Ernährungsministeriums teilgenommen haben, bei denen auch der Minister dabei war. Von Laffert: „Wir wissen besser als viele andere, wie Zucker der Mundgesundheit und auch der Allgemeingesundheit schaden kann, insbesondere bei Kindern. Und diese Expertise bringen wir zu Gehör.“ Deshalb, so der Vizepräsident, sehe er die Ernährungsstrategie der Bundesregierung kritisch. Von Laffert: „Die meisten Aspekte in der Ernährungsstrategie sind an zahlreichen Stellen zu unkonkret und vage formuliert oder fehlen ganz. So sind die Einführung schärferer, verpflichtender Kennzeichnungsregelungen oder die Besteuerung stark zuckerhaltiger Süßgetränke – trotz wissenschaftlich nachgewiesener Wirksamkeit – nicht aufgenommen worden.“

BZÄK fordert Hinweise auf Zuckergehalt

Im Hinblick auf zahnmedizinische Erkrankungen fordert die BZÄK die Einführung einer verständlichen, verpflichtenden Lebensmittelkennzeichnung – vor allem die Kennzeichnung des Zuckergehalts. Folgerichtig spricht sich die BZÄK auch für eine Sonderabgabe auf stark zuckerhaltige Softdrinks aus. Besonders wichtig sind ihr eine deutliche Reduktion des Zuckergehalts in Nahrungsmitteln für (Klein-)Kinder sowie Werbebeschränkungen für stark gezuckerte Lebensmittel für (Klein-)Kinder. Deren Kennzeichnung müsse sehr deutlich sein – zur Prävention von Early Childhood Caries.

Die Strategie der Regierung setzt auf Aufklärung. Oft seien die Bürgerinnen und Bürger mit vielfältigen, teils widersprüchlichen Informationen zur Ernährung konfrontiert, heißt es in dem Strategiepapier. Das führe zu gravierenden gesundheitlichen Folgen. Deshalb sei die Ernährungsstrategie auch vor dem Hintergrund zunehmender ernährungsmitbedingter Krankheiten entwickelt worden, schließlich seien in Deutschland mindestens 8,5 Millionen Menschen an Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt. Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Adipositas in Deutschland belaufen sich laut einer Studie aus 2015 auf etwa 63 Milliarden Euro pro Jahr, heißt es in dem Papier weiter. Die direkten Gesundheitskosten einer zu hohen Aufnahme von Zucker, Salz und gesättigten Fettsäuren seien für das Jahr 2008 auf 16,8 Milliarden Euro geschätzt worden. Das entspreche sieben Prozent der gesamten Behandlungskosten in Deutschland.

Bürgerrat „Ernährung im Wandel“

Mitte Januar hat der vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ seine Empfehlungen vorgelegt. Neun Ratschläge wurden Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übermittelt. Der Rat empfiehlt an erster Stelle, dass es täglich für alle Kinder bundesweit ein kostenfreies und gesundes Mittagessen an Kitas und Schulen geben soll, an zweiter Stelle ein staatliches Label für bewusstes Einkaufen und an dritter Stelle die verpflichtende Weitergabe von genießbaren Lebensmitteln durch den Lebensmitteleinzelhandel. Der Bürgerrat rät außerdem zu einer gesunden, ausgewogenen und angepassten Gemeinschaftsverpflegung in Krankenhäusern und Einrichtungen. Beim Thema Zuckersteuer konnte man sich Medienberichten zufolge nicht auf eine Position einigen.

Die Ampelparteien hatten im Koalitionsvertrag angekündigt, neue Formen des Bürgerdialogs wie Bürgerräte einzusetzen. Die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden – als repräsentativer Querschnitt der Gesellschaft – ausgelost. Das Gutachten wird im Plenum und in den Fachausschüssen des Bundestags diskutiert, nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen entscheidet der Bundestag, wie er mit den Ergebnissen umgeht. Das BMEL begrüßte die Ergebnisse des Bürgerrats, denn es gebe „eine große Überschneidung zu den Maßnahmen der Ernährungsstrategie“.

Unter anderem sind folgende Maßnahmen in der Ernährungsstrategie geplant:

  • Ein vielseitigeres Schul- und Kitaessen: Hier will die Regierung verbindliche Qualitätsstandards einführen. Es soll eine Beratung und Förderung von Schulküchen geben, Trinkwasserspender sollen zur Verfügung stehen und es soll eine Ernährungsbildung für Kinder und Erziehende geben, so der Plan.

  • Ein reicheres Angebot an gesunden und nachhaltigen Produkten: Es soll weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten geben, heißt es in dem Papier. Ferner sollen innovative pflanzliche Produkte gefördert werden, bio-regionale Wertschöpfungsketten ausgebaut und das Lebensmittelhandwerk in der Bio-Verarbeitung unterstützt werden.

  • Ein gesünderes und nachhaltigeres Angebot in Kantinen will man durch aktualisierte Qualitätsstandards, eine Erhöhung des Bio-Anteils in der Außer-Haus-Verpflegung, und durch den Aufbau von regionalen Wertschöpfungsketten für die Außer-Haus-Verpflegung umsetzen.

  • Weniger Lebensmittelverschwendung soll durch verbindliche Ziele entlang der Lebensmittelkette und durch Information und Unterstützung von Verbraucherinnen und Verbrauchern erfolgen.

  • Ernährungsarmut bekämpfen: Dies soll durch die Verbesserung der Wissensbasis zu Ernährungsarmut, durch eine enge interministerielle Zusammenarbeit, die Stärkung von Ernährungsinitiativen sowie die Förderung von Pilotprojekten gelingen.

Nicht nur die BZÄK, weitere Fachverbände sehen die Ernährungsstrategie der Bundesregierung kritisch. So sprach etwa Foodwatch von hehren Zielen und kaum wirkungsvollen Maßnahmen. Anstatt nur abstrakte Zukunftsvisionen zu entwerfen, solle die Bundesregierung jetzt konkrete Maßnahmen ergreifen, die sie selbst zügig umsetzen kann und die eine gesündere Ernährung effektiv befördern, so der Verband. Als Beispiele forderte Foodwatch, die Junkfood-Werbeschranken zum Kinderschutz endlich auf den Weg zu bringen, eine Limo-Steuer nach dem Vorbild Großbritanniens einzuführen, die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse abzuschaffen und Ernährungsarmut durch eine Erhöhung der Regelsätze zu bekämpfen.

Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Carola Reimann, hinterfragte, ob die Ernährungswende mit den beschriebenen Aktivitäten erreicht werden kann.Teilweise bleibt das Strategiepapier hinter den Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung und des wissenschaftlichen Beirats am Bundesernährungsministeriums zurück – zum Beispiel bei der Bürgerrats-Forderung nach Subventionen für Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte und der Weiterentwicklung der Kennzeichnungsregeln. Die Bundesregierung sollte diese Empfehlungen aufgreifen und die Ernährungsstrategie auf dieser Basis weiterentwickeln, forderte sie.

Wie machen es die anderen?

Frankreich: Nationales Programm für Lebensmittel und Ernährung. Darin enthalten: Neben dem Nutri-Score, der Nährwerterkennungszeichnung auf der Verpackungsvorderseite, wurde eine Zuckersteuer für Getränke eingeführt, die entsprechend dem Zuckergehalt moduliert wird und bei einigen Herstellern zu einer Verringerung des Zuckergehalts geführt hat.

Großbritannien: Es gibt eine Ernährungsstrategie auf Expertenbasis (kein politisch abgestimmtes Programm), die sukzessive umgesetzt wird. Dazu gehört ein Verbot von Junk-Food-Werbung im Fernsehen vor 21 Uhr und im Internet, ein Verbot des Verkaufs von Süßigkeiten an der Kasse und obligatorische Kalorienzählungen auf den Speisekarten von Restaurants und Cafés. Ferner gibt es Empfehlungen für Schulen. Es gibt eine Zuckersteuer auf Erfrischungsgetränke, die Fruchtsäfte trotz ihres hohen Zuckergehalts von der Steuer befreit.

Österreich: Es gibt Empfehlungen für Zielgruppen wie Schwangere, Kleinkinder, Kindergarten- und Schulkinder und Ansätze zur Verringerung von Fehl-, Über- und Mangelernährung

Schweden: Es gibt eine nationale Ernährungsstrategie 2017–2030, die auf drei Säulen beruht: 1. Der Errichtung von Regeln und Vorschriften zur Unterstützung einer wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Lebensmittelversorgungskette. 2. Der Stärkung der Wahl der Verbraucher – etwa durch Informationen über regionale und biologische Produkte. 3. Der Stärkung von Wissen und Innovation, etwa zur nachhaltigen Produktion und zum Konsum von Lebensmitteln.

Schweiz: In der Ernährungsstrategie 2017–2024 sind Ziele und Maßnahmen festgelegt. Die Ernährungskompetenz der Bevölkerung soll gestärkt werden, die Rahmenbedingungen zur Wahl geeigneter Lebensmittel sollen erleichtert und die Lebensmittelindustrie eingebunden werden. Es gibt keine gesetzlichen Regelungen, die Herstellern zuckerhaltiger Getränke vorschreiben, weniger Zucker zu verwenden. Der Bundesrat setzt auf Freiwilligkeit.

Die Frage, ob es eine nationale Ernährungsstrategie in ausgesuchten Nachbarländern gibt oder nicht, ist nicht abschließend zu beantworten. Einige EU-Länder haben eine, andere nicht. Die Systeme sind sehr unterschiedlich aufgestellt und oft nicht vergleichbar. Außerdem entsprechen nicht alle Angaben in den genutzten Quellen dem aktuellen Stand.

Mit der Ernährungsstrategie der Bundesregierung gebe es erstmals einen wichtigen Rahmen und wegweisende Handlungsoptionen, wie Barbara Bitzer, Sprecherin des Wissenschaftsbündnisses Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), kommentierte. Begrüßenswert sei, dass Qualitätsstandards nach Kriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in der Schul- und Kitaverpflegung etablieren werden. „Dennoch hält sich unsere Euphorie in Grenzen“, so Bitzer. Denn steuerliche oder fiskalische Instrumente, etwa die Streichung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse oder die Einführung einer Herstellerabgabe auf stark gesüßte Getränke, suche man in der Strategie vergeblich: „Eine Ernährungsstrategie ohne fiskalische Instrumente greift zu kurz!“

Die Ernährungsstrategie wurde nach Angaben des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) in einem partizipativen und ergebnisoffenen Prozess erarbeitet. Beteiligt waren Vertreterinnen und Vertreter aus Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft, Verbraucherschaft, dem Gesundheitssektor, dem Umweltschutz und der Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger wurden über ein Bürgerforum eingebunden. Die Ernährungsstrategie baut zudem auf strategischen und wissenschaftlichen Arbeiten auf.

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