Diese Ängste hatten Zahnärzte im Lockdown
Bisherige Studien konzentrierten sich eher auf die wirtschaftlichen Folgen von COVID-19 auf Zahnarztpraxen in Deutschland, warum in dieser Zeit Behandlungstermine abgesagt wurden, spielte keine Rolle. Die Autorinnen und Autoren dieser Arbeit stellten genau diese Frage, mit dem Ziel, Zahnärztinnen und Zahnärzte besser auf zukünftige Pandemien vorzubereiten.
Für ihre Studie erhoben die Wissenschaftler Daten auf Basis einer anonymen Querschnitts-Onlinebefragung, die von März bis April 2020 durchgeführt worden war. Die Stichprobe umfasste 269 niedergelassene Zahnärztinnen und Zahnärzten in Deutschland. Angestellte Zahnärzte wurden ausgeschlossen, da sie möglicherweise nicht befugt waren, Temine abzusagen. Eingeschlossen waren 97 Probanden weiblich (36 Prozent), 169 männlich (63 Prozent) und eine Person divers (1 Prozent). Die meisten Befragten waren zwischen 41 und 50 Jahre (27 Prozent) beziehungsweise 51 und 60 Jahre (38 Prozent) alt. Die Mehrheit (71 Prozent) betrieb eine Einzelpraxis und die durchschnittliche Berufserfahrung betrug 25 Jahre.
Die Angst vor Corona führte zu Terminabsagen
Für die Umfrage wurden die zahnärztlichen Behandlungen in drei Kategorien eingeteilt: „planbar“ (Vorsorgeuntersuchungen, Prophylaxe und Prothetiktermine), „Akutbehandlungen ohne COVID-Symptome“ und „Akutbehandlungen mit COVID-Symptomen“. Die Fragen bezogen sich auf 7 Behandlungsarten, dabei konnte für jedes Item angegeben werden, ob die Behandlung „abgesagt“, „weiterhin angeboten“ oder „grundsätzlich nicht angeboten“ wurde. Die eigene Sorge der Zahnärzte, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren (CAI), wurde mittels einer 4-stufigen Likert-Skala erfasst (1 = „sehr niedrig“; 4 = „sehr hoch“).
Was damals geschah
Das SARS-CoV-2-Virus wurde erstmals im Dezember 2019 in Wuhan, China, entdeckt. Da sich das Virus weltweit rasant verbreitete, erklärte die Weltgesundheitsorganisation am 11. März 2020 den globalen Notstand und bezeichnete den Ausbruch als Pandemie. Ende Januar 2020 wurde in Deutschland der erste COVID-19-Fall bestätigt, von da an stiegen die Fallzahlen rasant an. Infolgedessen wurden Mitte März 2020 bundesweit alle Restaurants, Geschäfte, Schulen und Kindergärten geschlossen. Darüber hinaus wurden Kontaktbeschränkungen verhängt. Im Gesundheitswesen wurden geplante Operationen und Behandlungen verschoben, um Kapazitäten für die Behandlung von Patienten mit COVID-19 zu schaffen.
Auch die Zahnmedizin war stark von der Pandemie und den Corona-Maßnahmen betroffen. Weltweit schlossen Zahnärzte zu Beginn der Pandemie ihre Praxen oder reduzierten ihre Aktivitäten aus Angst, sich selbst oder ihre Familien und Freunde anzustecken. Allerdings sind Zahnärzte in Deutschland nach dem Sozialgesetzbuch (§ 95 Abs. 3 Satz 1 SGB V) zur Erfüllung ihres Versorgungsauftrags verpflichtet und können ihre Praxis nicht einfach zumachen. Insgesamt kam es während des ersten Lockdowns in Deutschland von Mitte März bis April 2020 aber zu einem deutlichen Rückgang des Angebots und der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen.
In dieser Zeit legten die deutschen zahnärztlichen Standesorganisationen – die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und die Bundeszahnärztekammer – einen Plan zur Aufrechterhaltung der zahnärztlichen Versorgung vor: Patienten mit COVID-19 oder in Quarantäne sollten bei zahnärztlichen Notfällen in Zahnkliniken behandelt werden. Dadurch wollte man die Ausbreitung von SARS-CoV-2 verhindern und das Ansteckungsrisiko für Patienten und Praxispersonal minimieren. Diese Maßnahmen waren im Dentalbereich besonders wichtig, da Zahnärzte und ihre Assistenzen aufgrund ihrer Arbeit in der Mundhöhle im Vergleich zu anderen Medizinern viel stärker Speichel und Aerosolen und damit auch einem höheren Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 ausgesetzt waren.
Von der deutschen Regierung wurde den Zahnärztinnen und Zahnärzten im ersten Lockdown geraten, nur Akut- und Schmerzbehandlungen durchzuführen. Sie sollten selbst entscheiden, welche Behandlungen notwendig waren und welche verschoben oder abgesagt werden sollten. Die Einschränkung der zahnärztlichen Versorgung führte zu einer drastischen Verkürzung der Arbeitszeit und damit zu einem Einkommensrückgang: Der Einnahmeverlust betrug 1,5 Milliarden Euro.
Im Ergebnis gab ein Großteil der Zahnärztinnen und Zahnärzten an, dass sie in ihrer Praxis im März und April 2020 planbare Behandlungen wie Vorsorgeuntersuchungen (51 Prozent). Prophylaxetermine (82 Prozent) und Prothetiktermine (56 Prozent) gecancelt hatten. Bei „Akutbehandlungen ohne COVID-Symptome“ setzten 8 von 10 Therapien wie Wurzelkanalbehandlungen fort und 92 Prozent boten auch weiterhin solche Leistungen an. Bei „Akutbehandlungen mit COVID-Symptomen“ berichtete fast die Hälfte (49 Prozent), dass sie die Termine abgesagt und 37 Prozent, dass man Corona-Patienten generell nicht mehr einbestellt hatte.
Was die Sorge vor einer Selbstansteckung betraf, hatten von 259 Zahnärzten, die dazu Angaben machten, 58 Prozent Angst, sich bei der Behandlung mit COVID zu infizieren (34 Prozent hatten eher große und 24 Prozent sehr große Angst). Dagegen sorgten sich 31 Prozent eher wenig und zwölf Prozent sehr wenig wegen einer Ansteckung.
Die Behandlung von Patienten ohne Symptome fand unverändert statt
Von 261 selbstständigen Zahnärzten gaben 81 Prozent an, dass sie sich durch die wirtschaftlichen Auswirkungen während des ersten Lockdowns belastet gefühlt hätten, bei den restlichen 19 Prozent war das nicht der Fall. Die Autoren verweisen in dem Zusammenhang auf eine Umfrage des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte von Juni 2020, wonach im Lockdown mehr als zwei Drittel der Zahnärzte 50 Prozent weniger arbeiteten im Vergleich zu vor der Pandemie. Eine weitere Studie ergab demzufolge einen Rückgang der Leistungserbringung im März und April 2020 um etwa 45 bis 50 Prozent mit einem geschätzten Umsatzverlust von 1,5 Milliarden Euro in deutschen Zahnarztpraxen. Mehr als zwei Drittel von ihnen meldeten Kurzarbeit an, viele passten daher ihre Öffnungszeiten an und reduzierten dadurch ihre Sprechstundenzeiten, einige mussten aus finanziellen Gründen Mitarbeiter entlassen.
Mit der Sorge der Zahnärzte, sich selbst zu infizieren, stieg die Wahrscheinlichkeit stark, bei Patienten mit akuten Beschwerden und COVID-Symptomen Termine und planbare Behandlungen abzusagen. Zugleich gab es einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen Zahnärzten, sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage gestresst fühlten, und der Wahrscheinlichkeit, Termine für solche Behandlungen anzubieten.
Bemerkenswert sei allerdings, dass es bei der Akutbehandlung von Patienten ohne COVID-19-Symptome zu keiner signifikanten Verhaltensänderung kam, stellen die Forschenden fest. Dies deute darauf hin, dass Zahnärzte ihre persönlichen Bedenken und Ängste zurückstellten, um ihren ärztlichen Verpflichtungen gegenüber ihren Patienten nachzukommen. Eine bessere Bevorratung und Verteilung der persönlichen Schutzausrüstung könnte die Angst vor Ansteckung künftig möglicherweise reduzieren, mutmaßen die Autoren.
Wobei aus ihrer Sicht eine wichtige Frage unbeantwortet bleibt: „Fühlten sich die Zahnärzte in ihrer wirtschaftlichen Situation durch die Umstände der Pandemie und die Corona-Maßnahmen emotional belastet, oder waren die Terminabsagen vielmehr die selbstverschuldete Ursache der emotionalen Belastung?“
Ihr Fazit: Bei den praxisbedingten Terminabsagen war die Angst der Zahnärzte, sich mit COVID-19 anzustecken, entscheidend. Die Zahnärzte differenzierten dabei allerdings nach der Kategorie und der Dringlichkeit der Behandlung. „Wenn die zahnärztliche Versorgung in Zeiten einer Pandemie aufrechterhalten werden soll, müssen persönliche Umstände des Zahnarztes wie Bedenken hinsichtlich einer Infektion und die Praxisfolgen berücksichtigt werden“, resümieren die Autoren.
Santamaria M, Stöcker A, Hoffmann J, Mause L, Ohnhäuser T, Scholten N: Infection Concerns and Economic Burden: Dentists' Cancellations During COVID-19. Int Dent J. 2024 Apr;74(2):276-283. doi: 10.1016/j.identj.2023.09.004. Epub 2023 Nov 14. PMID: 37973523; PMCID: PMC10988247.