Mehr Europa wagen
Wenn dieses Heft erscheint, befinden wir uns unmittelbar vor der Europawahl. Grund genug, uns in diesem Heft damit in der Titelgeschichte zu befassen. Denn spätestens seit der Corona-Pandemie wissen wir, dass Krankheiten nicht an nationalen Grenzen haltmachen, sondern darüber hinaus bekämpft werden müssen. Damit hat auch das Thema Gesundheit auf europäischer Ebene einen ganz neuen Stellenwert bekommen. Aber es gibt auch kritische Entwicklungen zu beobachten. Das bevorstehende Amalgam-Aus ließ sich unter anderem deshalb nicht verhindern, weil sich auf europäischer Ebene keine Mehrheit dagegen finden konnte. Und auch beim geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EDHS) heißt es, wachsam zu sein. So wünschenswert an vielen Stellen eine vereinheitlichte Datenbasis ist, so sollte doch genau darauf geachtet werden, welche Daten für wen gesammelt werden. Denn im Fokus sollte immer der Nutzen für die europäische Bevölkerung und nicht die Interessen irgendwelcher Konzerne stehen.
Aber eins darf man nie vergessen: Dem europäischen Gedanken, aus dem die EU entstanden ist, haben wir es zu verdanken, dass wir seit knapp 80 Jahren Frieden in Zentraleuropa haben. Etwas, was es in der blutgetränkten Geschichte des europäischen Kontinents zuvor nicht gegeben hat. Mir kommt es allerdings manchmal so vor, als ob durch diesen langen Zeitraum das friedliche Zusammenleben der europäischen Nationen für viele von uns als Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Dass dies ganz und gar nicht so ist, wissen wir spätestens seit dem Ukraine-Krieg. Frieden kann ganz schnell brüchig werden, wenn sich nationalistischer Egoismus und Narzissmus Bahn brechen. Dies sollte man bei aller berechtigten Kritik an der EU und ihren Institutionen nie vergessen. Es ist zweifelhaft, ob wir ohne die EU so friedlich und wirtschaftlich erfolgreich leben könnten, wie wir es heute tun.
Nach einer Talsohle in den Jahren 1999 bis 2009 ging die Wahlbeteiligung an der Europawahl in Deutschland bei den vergangenen beiden Wahlen wieder deutlich nach oben. Zuletzt lag sie 2019 bei 61,4 Prozent. Es wäre aber wünschenswert, dass sie diesen Wert bei der diesjährigen Wahl deutlich übersteigt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Extremisten und Europa-Feinde noch mehr Einfluss gewinnen. Aber wir brauchen nicht weniger Europa, sondern eher ein noch besseres, das es zu gestalten gilt. Und das geht nur, wenn möglichst viele Menschen dahinterstehen.
Apropos gestalten: Der Bundesverband der Freien Berufe (BFB) hat kürzlich sein 75-jähriges Bestehen gefeiert. Auch hier gilt ähnlich wie beim europäischen Gedanken, dass der Wert der Freiberuflichkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und gleichermaßen keine Selbstverständlichkeit ist. Denn dass die Freiberuflichkeit – ebenso wie die Selbstverwaltung – zunehmend unter Beschuss steht, diagnostiziert auch BFB-Hauptgeschäftsführer Peter Klotzki bei uns im Interview. Umso schöner, dass die Protagonisten zweier Ampel- und einer Oppositionspartei bei der Jubiläumsveranstaltung ein Loblied auf die Freiberuflichkeit sangen. Man wird vielleicht bei Gelegenheit daran erinnern müssen.
Vor der Frage der Praxisübernahme und -abgabe stehen viele von Ihnen. Wir wollten es genauer wissen und haben mehrere Interviews geführt. Diese zeigen, dass es keine allgemeingültige Formel gibt. Die persönliche Situation und die Rahmenbedingungen sind teilweise sehr unterschiedlich. Aber nach ihren Erfahrungen gefragt, antworteten alle, dass eine gute Planung und ausreichend Zeit die Grundlage sind – egal, ob bei der Übernahme einer bestehenden Praxis oder bei deren Übergabe an eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger.
Und da wir gerade beim Thema Interviews sind: In dieser Ausgabe finden Sie außerdem ein Gespräch mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Prof. Dr. Andrew Ullmann. Er erklärt unter anderem die Sichtweise seiner Partei auf das Reizthema investorengetragene MVZ.
Viel Spaß bei der Lektüre
Sascha Rudat
Chefredakteur