Sportzahnarzt Dr. Siegfried Marquardt im Gespräch

„Eine entzündete Mundhöhle ist schlecht für die Performance“

Susanne Theisen
Seit vorgestern rollt der Ball bei der Euro 2024. Wie Mundgesundheit und Leistungsfähigkeit im Profisport zusammenhängen, ist das Spezialthema von Dr. Siegfried Marquardt. Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sportzahn­medizin (DGSZM) setzt er sich dafür ein, Athletinnen und Athleten sowie Vereine und Verbände darüber aufzuklären und zu beraten. Er hat schon Profis aus vielen Sportarten auf den Zahn gefühlt – auch der deutschen Fußballnationalelf der Männer.

Dr. Marquardt, wie gewissenhaft wird die Mundhygiene im deutschen Profisport betrieben?

Dr. Siegfried Marquardt: Anscheinend nicht immer vorbildlich. Studien zeigen, dass die Mundgesundheit im Profisport in den vergangenen Jahren zu wünschen übrig ließ. Aber auch aufgrund der Arbeit der DGSZM etwa in Verbänden und Vereinen ist das Zahngesundheitsbewusstsein deutlich gestiegen.

Wo sind Sie überall aktiv?

Wir betreuen unter anderem den Deutschen Eishockeybund (DEB), den Deutschen Skiverband (DSV) und kooperieren eng mit der deutschen Sporthilfe. Auch mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) stehen wir in Kontakt. Ich kann daher sagen, dass die Themen Mundgesundheit und Zahnpflege im deutschen Profifußball angekommen sind und sich durch Aufklärung und gezielte Behandlung sehr gut entwickeln.

Wir sind spät dran, oder?

Durchaus. In den USA gibt es im Fußball kein Profiteam ohne zahnärztliche Betreuung, in Japan findet man keine Zahn-Uni ohne eine Abteilung Sportzahnmedizin. In Europa haben wir dieses Thema lange stiefmütterlich behandelt. Aber das Interesse steigt.

Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?

Weil sich zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, dass eine entzündete Mundhöhle erhebliche Einflüsse auf den Stoffwechsel hat und so die sportliche Performance mindern kann. Studien zeigen, dass Sportlerinnen und Sportler eine überdurchschnittliche Affinität zu Gingivitiden, Parodontitis und Karies haben. Die Entzündungsbakterien breiten sich im gesamten Organismus aus. Dadurch wird nicht nur die Leistung grundsätzlich beeinflusst, es kommt auch konkret zu einer erhöhten Verletzungsgefahr in der Muskulatur. Das will man natürlich nach Möglichkeit vermeiden.

Spielen die Optimierung der Okklusion und die Behandlung von Bruxismus eine Rolle, um Muskelverspannungen zu vermeiden und die Regeneration zu verbessern?

Ja. Ein Fehlbiss oder okklusale Frühkontakte haben erheblichen Einfluss auf die absteigenden Muskelketten. Vom Scheitel bis zur Sohle hängen der Band- und der Muskelapparat in unserem Körper miteinander zusammen und beeinflussen die skelettalen Strukturen. Wenn Sportprofis bruxen oder Fehlfunktionen durch Störkontakte entwickeln, führt dies zumeist zu Fehlbelastungen, Kompensationsmechanismen und sodann zu Verspannungen und Muskelverletzungen. Daher ist es wichtig, die richtige, nicht manipu­lierte und entspannte Lage des Unterkiefers zum Oberkiefer – ohne den Einfluss von Störfaktoren – zu analysieren und zu diagnostizieren.

In Europa haben wir das Thema Sportzahnmedizin lange stiefmütterlich behandelt.

Dr. Siegfried Marquardt, Sportzahnarzt

Kann das die Zahnmedizin allein richten?

Nein, entscheidend für den Erfolg ist die Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten wie Orthopädie, Physiotherapie und Osteopathie – und zwar schon im Vorfeld. Ohne einen regelmäßigen und vertrauensvollen Austausch würde die optimale zahnmedizinische Betreuung nicht funktionieren. Es ist essenziell, alle Beteiligten einzubinden, aufzuklären und sich untereinander abzustimmen.

Worauf achten Sie noch bei der Mundgesundheit von Sportlerinnen und Sportlern?

Ich bemühe mich intensiv, bei ihnen das Bewusstsein für eine gesunde Mundhöhle zu schärfen und Mundhygienetechniken zu vermitteln. Dabei weise ich explizit auf die negativen Auswirkungen von Entzündungen im Mundraum auf die Leistung hin und erläutere, welche Anzeichen von Pathogenen es gibt. Aufgrund der teils fehlenden Sensibilität rate ich vermehrt von der Handzahnbürste ab, da diese speziell bei Sportlerinnen und Sportlern oftmals mehr Schaden als Nutzen bringt. Beispielsweise kann es zu keilförmigen Defekten, Zahnhalssensibilitäten oder Zahnfleischirrita­tionen kommen. Natürlich demonstriere ich dann auch, wie man elektrische Zahnbürsten richtig anwendet.

Ein weiteres Thema, auf das ich eingehe, ist die Ernährung. Insbesondere weise ich auf die Probleme von zuckerhaltigen Gels, Elektrolytgetränken oder Power-Riegeln hin, die oftmals – nicht nur für die Zähne – kontraproduktiv sind. Ich spreche aber nicht nur die Sportlerinnen und Sportler an, sondern das gesamte betreuende Team. Alle sollten über die Einflüsse beispielsweise einer Parodontitis, einer Karies oder auch eines Fehlbisses auf den Organismus Bescheid wissen.

Passend dazu bezeichnen Sie sich selbst als Teamsport-Zahnarzt. Wie kam es zu dieser Spezialisierung?

Weil ich selbst leidenschaftlicher Sportler bin, haben mich die Zusammenhänge und Einflüsse der Mundgesundheit auf die Leistungsfähigkeit im Sport schon immer interessiert. Wo ich lebe, werden einem die Skier bereits in die Wiege gelegt. So kam ich früh in Kontakt mit dem Deutschen Skiverband (DSV). Dabei konnte ich beobachten, dass Athletinnen und Athleten unterschiedliche Beschwerdebilder entwickeln, die zumeist orthopädisch und/oder osteopathisch therapiert werden, aber häufig rezidivieren. Eine Ursache sind die eben erwähnten absteigenden Ketten. Hier konnte ich als Zahnarzt gezielt eingreifen.

Wie arbeiten Sie konkret mit den Teams zusammen?

Wenn ich zu Trainingslagern eingeladen werde, halte ich zumeist einen oder mehrere Vorträge. Im Anschluss biete ich ein Mund-Screening an, mache einen Zahn-Check und bei Bedarf einen kompletten Funktionstest. Kommen dabei konkrete und/oder akute Behandlungsempfehlungen heraus, beispielsweise Herdstörungen durch Weisheitszähne oder Parodontitiden, Karies oder auch Funktionsstörungen, bitte ich die Athletinnen und Athleten zu mir in die Praxis, korrespondiere mit den jeweils behandelnden Zahnarztpraxen oder überweise an zertifizierte Mitglieder der DGSZM in der Nähe des Wohnorts. Grundsätzlich haben aber alle die freie Zahnarztwahl.

Kommen wir noch einmal zum Fußball: Gibt es im Rahmen Ihrer Kooperation mit dem DFB vor dem Start eines Turniers wie der Europameisterschaft spezielle zahnmedizinische Check-ups?

Eigentlich nicht. In der Regel sollte die zahnmedizinische Kontrolle – wie allgemein üblich – einmal jährlich und die Prophylaxe zweimal jährlich erfolgen. Bei Bedarf kommt die Adjustierung von Performance-Schienen hinzu. Sämtliche Präventivmaßnahmen sollten weit vor einem Turnier abgeschlossen sein, da immer eine entsprechende Heilungszeit beziehungsweise Adaptationsphase eingeplant werden muss. Akute Notfallbehandlungen kommen in der Regel selten vor und können im schlimmsten Fall dazu führen, dass Spielerinnen oder Spieler nicht aufgestellt werden können.

Welche zahnmedizinischen Behandlungen haben Sie im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem DFB bisher durchgeführt?

Im Prinzip ist alles dabei, was ich eben beschrieben habe: Wenn Herde wie etwa Entzündungszeichen im Mund, verlagerte Weisheitszähne oder Fehlbisse diagnostiziert werden, sind spezifische Maßnahmen notwendig. Vor allem geht es um die frühzeitige Eliminierung der Ursachen. In der präventiven Sportzahnmedizin ist deshalb die Analyse der skelettalen Haltung, des muskulären Gleichgewichts und der Einfluss des Kauorgans auf die absteigenden Ketten wichtig. Dies kann dann auch zu komplexeren, interdisziplinären und längeren Behandlungen führen.

Und mit welchen Fragen wenden sich die Spieler zum Beispiel an Sie?

Durch die inzwischen gute Aufklärung und Kommunikation beziehen sich die Fragen vor allem auf Vorsorge und Prävention. Der regelmäßige Check-up und das ganzheitliche Screening machen die Spieler natürlich auch neugierig und motivieren sie, die relevanten Aspekte zu hinterfragen: Was kann ich für eine gesunde Mundhöhle tun? Wie ernähre ich mich entsprechend? Brauche ich eine Schiene? Müssen die Weisheitszähne wirklich entfernt werden? Solche Sachen.

Sind Sie jetzt nach dem Start der EM erst einmal auf Rufbereitschaft?

Die DGSZM hat der UEFA für jeden EM-Standort Listen mit mehreren zertifizierten Kolleginnen und Kollegen übergeben, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Wir hoffen natürlich, dass nichts Schlimmeres passiert und unsere Vorbehandlungen gut wirken. Aber selbstverständlich stehen wir parat, wenn wir gebraucht werden.

Ohne Namen zu nennen: Gibt es in der Nationalelf Spieler mit Zahnarztangst?

Grundsätzlich sehe ich bei den Spielern keinen Unterschied zu allen anderen Patientinnen und Patienten. Dabei zeigt mir meine Berufserfahrung: Je stärker und kräftiger jemand ist, desto größer ist oft die Angst vor medizinischen Eingriffen – vor allem bei den Männern.

Das Gespräch führte Susanne Theisen.

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