Interview mit Dr. David Shaye

„Wir operieren die Glücklichen, die überlebt haben“

Dr. David Shaye arbeitet jedes Jahr fünf Monate in Afrika, jeweils einen Monat davon operiert er für Ärzte ohne Grenzen in Nigeria Noma-Überlebende. Er berichtet darüber, was die Behandlung so besonders macht, mit welchen chirurgischen Herausforderungen er konfrontiert wird und was wir von den Menschen dort lernen können.

Sie operieren jedes Jahr für einen Monat Noma-Überlebende in Sokoto, Nigeria. Warum tritt die Erkrankung gerade dort so häufig auf?

Dr. David Shaye: Noma ist eine opportunistische Erkrankung, die von der Mundschleimhaut ausgeht und sich sehr schnell auf das umliegende Weich- und Hartgewebe des Gesichts ausbreitet. In der Regel befällt sie immunschwache und mangelernährte Menschen. Die Stadt Sokoto beziehungs­weise der gleichnamige Bundesstaat liegen im Norden Nigerias. Dort tritt Unterernährung, wie in vielen Teilen der Sub-Sahara-Region, endemisch auf. Deshalb gibt es viele Noma-Fälle. Leider erkranken vorwiegend Kinder daran.

Technisch gesehen handelt es sich jedoch nicht um eine Tropenkrankheit. Noma wurde auch in Europa jahrhundertelang beobachtet. Die Erkrankung verschwand mit allgemeinen Verbesserungen der medizinischen Versorgung und sanitären Einrichtungen, erlebte aber ein Wiederaufleben in den Konzentrationslagern der Nazis im Zweiten Weltkrieg.

Warum ist die Sterberate bei Noma so hoch?

Das liegt vor allem daran, dass die Krankheit meist nicht behandelt wird. 90 Prozent der Menschen, die nicht behandelt werden, sterben. Nur rund zehn Prozent der Erkrankten überleben. Bekämen die Menschen frühzeitig eine Basisbehandlung, wäre es genau andersherum: Zehn Prozent der Menschen würden sterben und 90 Prozent würden überleben. Die Patienten, die wir in Sokoto operieren, sind also die Glücklichen, die überlebt haben. Nach dem Überleben der akuten Infektion laufen diese Menschen häufig für mehrere Jahre mit einer schweren Gesichtsdeformation herum.

Was genau umfasst die Basisbehandlung bei Noma?

Die ersten Maßnahmen sind einfach: Antibiotika, intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Ernährung und Wundversorgung. Und das kann in jedem Gesundheitszentrum geschehen. Es geht eigentlich nur um die Erkennung und schnelle Behandlung.

Warum werden nur so wenige Erkrankte behandelt?

Das Problem ist, dass in den frühesten Noma-Stadien die sichtbaren Symptome oder Anzeichen mild sind. Die Bevölkerung steht unter erheblichem finanziellem Stress, so dass viele mit einfachen Leiden keinen Arzt aufsuchen. Das gilt nicht nur für Noma. In afrikanischen Gegenden mit endemischer Unterernährung suchen Menschen ärztliche Hilfe nur auf, wenn es ein wirklich schweres Problem gibt. Nicht wenige laufen mit riesigen Tumoren herum, weil es nicht in ihren finanziellen Möglichkeiten liegt, für eine Behandlung mehrere Tage zu reisen. Wenn jemand sieben Kinder hat und bei einem der Kinder eine kleine Schwellung auftritt, dann ist das noch kein Grund, zum Arzt zu gehen. Deshalb sehen wir Noma-Patienten erst, wenn bereits ein Teil des Gesichts fehlt.

Die wichtigste Frage ist: Können die lokalen Gesundheitszentren, Krankenschwestern oder Gemeindegesundheitsarbeiter so geschult werden, dass sie Noma frühzeitig erkennen, um schnell eine Basisbehandlung mit Antibiotika einzuleiten? Sobald die Erkrankung zu weit fortgeschritten ist, wird die Behandlung schwieriger und es geht schnell um Leben oder Tod.

Zu Ihnen kommen die Patienten erst, wenn eine plastische Deckung des Defekts vorgenommen werden soll. Wie gehen Sie bei der Operationsplanung vor, welche Techniken verwenden Sie?

Wir versuchen zunächst, das verlorene Gewebe zu ersetzen, um einerseits aus sozialen Gründen die Form des Patienten und andererseits die Funktion so weit wiederherzustellen, dass eine Nahrungsaufnahme möglich ist. Egal, ob man in Nigeria oder hier in Harvard ist, große Defekte im Gesicht zu rekonstruieren, ist wirklich anspruchsvoll. Keiner der Patienten wird jemals wieder so aussehen wie vor der Operation.

Wenn man allerdings einen Noma-Fall in den Vereinigten Staaten oder in Europa operieren würde, würde man große Mengen an Knochen und Weichgewebe als freie Transplantate in den Defekt bewegen. Wir versuchen aber, keinen freien Gewebetransfer durchzuführen, weil dafür mikrovaskuläre Chirurgie notwendig wäre. Was wir hier brauchen, sind dagegen einfache, sichere und nicht so zeit- und arbeitsintensive Operationsmethoden. Daher bevorzuge ich Techniken, die teilweise Jahrhunderte alt sind, und auf gestielten Lappen beruhen, beispielsweise den Deltopectoral-Lappen.

Für diese chirurgischen Techniken habe ich sehr alte Lehrbücher herangezogen, sogar welche aus Zeiten des Ersten oder des Zweiten Weltkriegs – Techniken, die nur alte Chirurgen jemals gesehen haben. Der Vorteil an diesen Methoden ist, dass sie sicher und schnell erlernbar sind, denn wir versuchen, sie auch den lokalen Ärzten beizubringen.

Ein wichtiger Aspekt bei der Operation von Noma-Patienten ist die Vernarbung. Die Patienten vernarben nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – und bekommen dann einen schweren Trismus. Dieser kann auch knöchern, durch eine Fusion des Processus coronoideus mit dem Jochbein entstehen. Diese Patienten können kaum Nahrung aufnehmen. Die chirurgische Entlastung eines knöchernen Trismus ist allerdings nicht unbedenklich, da sie Probleme mit den Atemwegen mit sich bringen kann. Für die Rekonstruktion gilt es zu beachten, dass die Kontraktion einen Großteil der Weichteildefekte verbirgt. Um den gesamten Defekt wiederherzustellen, braucht man in der Regel die drei- oder vierfache Gewebemenge.

Welche Materialien werden in der Noma-Chirurgie verwendet und warum?

Wir verwenden ausschließlich autologes Gewebe und keine fremden Implantate, weil das ein großes Infektionsrisiko darstellt. Unser Team ist nur drei- oder viermal im Jahr vor Ort. Wenn in der Zwischenzeit Komplikationen auftreten, ist niemand dort, um diese zu behandeln.

Wie sieht es mit der dentalen Rehabilitation aus?

Wenn die Patienten für eine rekonstruktive Chirurgie zu uns kommen, haben die Patienten auch Zahnprobleme. In der Regel ist es aber so, dass ihnen eine Wange, eine Nase oder etwas Ähnliches fehlt. Wenn wir also eine Rekonstruktion in Erwägung ziehen und Gewebe transplantieren, dann ist das eine große Investition für alle. Wenn es Zähne gibt, die keine Funktion mehr haben oder kariös sind, entfernen wir sie im Laufe der Behandlung. Wir müssen aber oft auch gesunde Zähne entfernen, wenn diese im Bereich des Defekts stehen. Es gibt keine Möglichkeit, Zahnersatz, Implantate oder Kieferorthopädie in die Behandlung zu integrieren. Deshalb ist das Hauptziel die Weichgewebeabdeckung.

Ein interessantes Thema aus zahnmedizinischer Sicht ist, dass der Musculus orbicularis oris durch den Druck die Zähne an Ort und Stelle hält. Wenn ein Teil der Wange fehlt, wandern die Zähne im Laufe der Zeit in verschiedene Richtungen, häufig auch nach extraoral. Wir nennen das dentale Anarchie. Man sieht dieses Phänomen nicht nur bei Noma, sondern zum Beispiel auch bei Erwachsenen mit nicht operierten Lippenspalten.

Wie sieht die postoperative Pflege aus und wie lange dauert sie? Wie gehen Sie mit Komplikationen um?

Die Patienten in Afrika sind sehr leidensfähig und bleiben freiwillig auch über längere Zeiträume im Krankenhaus. Sie machen eine weite Reise für die Behandlung und bleiben oft ein bis zwei Monate, bevor sie zurück nach Hause gehen. Es ist nicht wie in Europa, wo die Patienten so schnell wie möglich nach Hause wollen.

Ärzte ohne Grenzen investieren viel Arbeit in die postoperative Nachsorge. Dabei handelt es sich um Routinen wie nach jedem operativen Eingriff. Dazu gehören grundlegende Dinge wie Monitoring der Vitalzeichen, Schmerzstillung, Wundpflege und – wenn nötig – Antibiotika. Die beste Prävention für postoperative Komplikationen ist eine gute Patientenselektion und OP-Planung sowie eine technisch saubere Operationstechnik.

Die riskantesten Operationen werden in der Regel am Anfang unseres Aufenthalts in Sokoto durchgeführt, sodass wir noch vor Ort sind, wenn Schwierigkeiten auftreten. Als zweites Back-up ziehen wir immer Chirurgen hinzu, die mit der großen nigerianischen Lehr­universität an diesem Ort verbunden sind (Usmanu Danfodiyo University Teaching Hospital). Wenn es nach unserer Abreise zu Komplikationen kommt, können die nigerianischen Chirurgen übernehmen. Ich bin für gewöhnlich der einzige internationale Chirurg im Team.

Meinen Sie, eine Zusammenarbeit zwischen Zahnärzten und Chirurgen bei der Behandlung von Noma-Patienten wäre in Zukunft denkbar?

Wir würden uns eine möglichst multidisziplinäre Versorgung wünschen. Bei der Versorgung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten in Afrika gibt es bereits diese multidisziplinären Teams. Ich halte es allerdings für wahrscheinlicher, dass zu dem Zeitpunkt, an dem all diese Verfeinerungen der Behandlung von Noma möglich sind, die Erkrankung – hoffentlich – gar nicht mehr existiert, genauso wie es vor einigen hundert Jahren in Europa geschah.

Damals führten eine Reihe von Verbesserungen im Bereich der Hygiene und der allgemeinen Gesundheit dazu, dass Noma immer seltener wurde. Auch Unterernährung war nicht so stark verbreitet. Was auch immer diese Komponenten waren, sie veränderten sich damals in Europa so, dass die Menschen in den städtischen Gebieten eine verbesserte allgemeine Gesundheit hatten, und dann ging auch Noma zurück. Wenn wir also an den Punkt kämen, an dem es in Sokoto eine verfügbare zahnärztliche Versorgung gibt, hätten sich auch andere Dinge so verbessert, so dass wir Noma in diesen Gebieten nicht mehr beobachten würden. Das ist meine Vorhersage.

Können Sie uns ein Beispiel für einen erfolgreichen Fall nennen? Welche Faktoren haben zu diesem Erfolg beigetragen?

Ich erinnere mich an ein junges Mädchen, das einem Nomadenstamm (Fulani) angehört. Sie war etwa 12 oder 13 Jahre alt, als sie zu uns kam. Man sieht viele Kinder, die von ihren Eltern erst in diesem Alter gebracht werden, weil sie bald verheiratet werden sollen. Die Heirat ist eine Art Gradmesser für die soziale Akzeptanz. Obwohl ich sagen würde, dass es grundsätzlich ein hohes Maß an sozialer Akzeptanz für Menschen mit Gesichtsfehlbildungen in der Region gibt. Aber mit einer Heirat wird es schwierig, wenn jemand keine Nase hat, was bei diesem jungen Mädchen der Fall war. Berichtet wurde, dass es Schwierigkeiten habe, in die Schule zu gehen, und die Eltern fragten sich, wie es jemanden kennenlernen soll.

Die meisten Patienten wissen nicht, dass es überhaupt die Möglichkeit einer Operation gibt. Das Mädchen ist – wie viele andere unserer Patienten auch – über sogenannte Outreach-Teams zu uns gekommen. Das sind Teams, die in die ländlichen Gebiete gehen und verschiedene Leute in den Gesundheitszentren befragen. Sie identifizieren Noma-Überlebende, machen Fotos und bieten ihnen einen Termin für eine Operationsplanung an.

Das junge Mädchen bekam bei uns eine totale Nasenrekonstruktion, bei der ihre Rippe und ein Stück ihrer Stirn zur Rekonstruktion verwendet wurden. Das ist eine Operation, die vor Hunderten von Jahren in Indien entwickelt wurde. Sie blieb etwa einen Monat, vielleicht sechs Wochen im Krankenhaus, dann ging sie nach Hause und wurde später einer kleineren zweiten Operation unterzogen.

Die Familien sind sehr glücklich, das Mädchen ist glücklich und sie wird nun verheiratet werden können. Das ist nach den Maßstäben der Kultur ein Erfolg, auch wenn das für uns schwer zu verstehen ist. Sie hat den Heilungsprozess erfolgreich durchlaufen und sich sehr gut geschlagen. Ich werde sie wahrscheinlich wiedersehen, wenn ich im Herbst zurückkehre, das ist dann ein Jahr nach der OP.

Was ich bemerkenswert finde: Wenn wir hier in Boston Patienten operieren, führen wir oft mehrere Operationen durch, aber keiner der Patienten ist jemals vollkommen glücklich. In Nigeria ist das anders. Die Patienten sind wahnsinnig dankbar und leidensfähig. Jede kleine Verbesserung ist für sie ein immenser Erfolg. Vielleicht liegt das daran, dass sie viele andere Sorgen haben, etwa Ernährung und Sicherheit ihrer Familien, um die sie sich kümmern müssen. Aber vielleicht können wir dadurch auch etwas lernen.

Was berührt Sie darüber hinaus an Ihrer Arbeit in Afrika?

Die Tapferkeit der Menschen. Um beim Beispiel des Mädchens zu bleiben: Sie gehört dem Fulani-Stamm an, der für seine Stärke bekannt ist. Die Schmerzen des Mädchens nach der Operation müssen wahnsinnig stark gewesen sein, aber sie beklagte sich kein einziges Mal. Das war einfach unglaublich, wenn man bedenkt, dass ich sowohl an der Stirn Gewebe entnommen als auch eine Rippe entfernt habe.

Der Umgang mit Schmerzen ist in Afrika ein anderer, während hier in Boston die Leute nicht die geringste Toleranz gegenüber Schmerzen haben. Wissen Sie, ich hatte noch nie einen Patienten, der nicht über Schmerzen geklagt hat, außer in Afrika. Das ist der einzige Ort, wo die Leute sagen, dass es nicht wehtut.

Das Interview führte Dr. Nikola Lippe.

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