Untersuchung der TU Berlin

Wie leistungsfähig ist das deutsche ­Gesundheitswesen?

Erstmals haben Forschende aus Berlin systematisch gemessen, wie leistungsfähig das deutsche Gesundheitswesen ist. Ergebnis: Die Deutschen haben einen guten Zugang zum System. Lücken gibt es hinsichtlich der Leistungsqualität. „Bei uns wäre weniger oft besser“, schlussfolgert Studienleiter Prof. Dr. Reinhard Busse. Das europäische Ausland sei da besser aufgestellt.

Die Bilanz des Wissenschaftsteams der Technischen Universität (TU) Berlin: Insgesamt existiert eine fast vollständige Versicherungs-
abdeckung der Bevölkerung. Leistungserbringer wie Ärztinnen und Ärzte sind demnach gut verfügbar und für Patienten gut erreichbar. Die Deutschen zahlen außerdem international gesehen wenig für Gesundheitsleistungen.

Was die Qualität der Leistungen betrifft, ergibt sich laut dieser Untersuchung aber ein gemischtes Bild. So ergab die Analyse, dass die Krankenhausfallrate bei Erkrankungen, die eigentlich ambulant behandelt werden könnten (wie Bluthochdruck oder Diabetes) im internationalen Vergleich recht hoch ist. Das hat negative Auswirkungen auf die stationäre Versorgung, weil dann dort Ressourcen für schlimmere Krankheitsfälle fehlen.

Auch das übergeordnetes Ziel des
Gesundheitssystems, die Bevölkerung gesund zu halten, fällt im Ergebnis insgesamt eher durchwachsen aus. Bei der Krankenhaussterblichkeit, einem wichtigen Indikator der stationären Versorgung, schneidet Deutschland dem Bericht zufolge teilweise viel besser, aber teilweise auch viel schlechter ab als das europäische Ausland. Die acht Vergleichsländer Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Österreich, Schweden, Schweiz und das Vereinigte Königreich wurden in die Untersuchung einbezogen.

Zu viele OPs und stationäre Behandlungen

Sowohl die durch Prävention als auch die durch Behandlung vermeidbare Sterblichkeit ist in Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern hoch. Trotz weiterer Verbesserungen in den letzten Jahren hat sich der Abstand zum Durchschnitt der acht Vergleichsländer vergrößert. Das wirkt sich den Wissenschaftlern zufolge wiederum negativ auf die Effizienz des Gesundheitswesens aus, weil gleichzeitig die kaufkraftbereinigten Gesundheitsausgaben pro Kopf im Ländervergleich überdurchschnittlich gestiegen sind.

Deutschland im Vergleich

Lebenserwartung: Die Lebenserwartung stieg in Deutschland von 78,3 Jahren im Jahr 2000 auf 81,3 Jahre 2019 (+ 2,7 Jahre). Mit der Pandemie ging sie auf 80,8 Jahre im Jahr 2021 zurück. Auch in allen acht Vergleichsländern ist die Lebenserwartung ausgehend vom Jahr 2000 kontinuierlich gestiegen. Während Deutschland zu Beginn des Betrachtungszeitraums noch nah am Durchschnitt der Vergleichsländer lag, hat sich der Abstand bis zum Jahr 2021 stetig vergrößert. Das verweist laut der Analyse auf einen hohen Handlungsbedarf, vor allem weil die zusätzlich gewonnenen Lebensjahre überwiegend in Krankheit verbracht werden.

Krankheitslast: Mit Blick auf die „verlorenen gesunden Lebensjahre (DALY)" ist der Bedarf an Prävention und Versorgung in Deutschland in Relation zu den Vergleichsländern am größten. Mit 89,2 Prozent machen dort die nicht-übertragbaren Krankheiten im Jahr 2019 den größten Anteil aus. Die ischämische Herzkrankheit dominiert mit 9,1 Prozent, gefolgt von Rückenschmerzen (4,9 Prozent) und Lungenkrebs (4,1 Prozent). Auf Verletzungen entfallen 7,3 Prozent der DALYs. Die Anzahl der DALYs pro 100.000 Personen ist in den meisten Vergleichsländern seit 2000 weitestgehend rückläufig – nur in Deutschland stoppte dieser Trend um 2006. Seitdem ist wieder ein Anstieg zu beobachten. Das führt möglicherweise zu mehr Lebensjahren, die mit gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden.

Wartezeit auf elektive Eingriffe: Im Jahr 2020 lag die durchschnittliche Wartezeit auf einen elektiven Eingriff in Deutschland bei 20,6 Tagen und ist somit halb so lang wie im Durchschnitt in den Vergleichsländern (49,9 Tage). Deutschland hat insgesamt die kürzesten Wartezeiten auf elektive Eingriffe und lag nur im Jahr 2016 hinter Frankreich und den Niederlanden.

Krankenhausfallrate bei ambulant behandelbaren
Erkrankungen, Beispiel Herzinsuffizienz:
Deutschland steht an erster Stelle bei den stationären Herzinsuffizienzraten, sie sind mehr als doppelt so hoch wie im Vergleichsländerdurchschnitt, der auch bereits vor 2019 zurückging. Die Spanne der anderen Länder lag zuvor bei 100 bis zuletzt unter 200 pro 100.000, gegenüber 350 in Deutschland. Für einige Diagnosegruppen, wie beispielsweise Herzinsuffizienz, Bluthochdruck und Diabetes wurden in Deutschland vergleichsweise hohe Krankenhausfallraten beobachtet, die nicht allein durch die Altersstruktur der Bevölkerung bedingt sind. Eine gezielte Optimierung der ambulanten Versorgung bei diesen Erkrankungen könnte dazu beitragen, die Rate ambulant-sensitiver Krankenhausbehandlungen zu verringern, so die Untersuchung.

Vermeidbare Sterblichkeit: Im internationalen Vergleich wies Deutschland 2020 die dritthöchste durch Prävention vermeidbare Sterblichkeit und die höchste durch Behandlung vermeidbare Sterblichkeit auf. Die Schweiz hat hier die niedrigsten Werte. In allen Vergleichsländern (außer Dänemarki) stieg im ersten Corona-Jahr 2020 die durch Prävention vermeidbare Sterblichkeit, am meisten in Belgien.

Gesundheitsausgaben: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte Deutschland im Jahr 2020 mit 12,8 Prozent die höchsten laufenden Gesundheitsausgaben der Vergleichsländer (Durchschnitt: 11,5 Prozent). Bei den Kaufkraftparitäten (KKP) waren es mit 4.831 KKP die zweithöchsten nach der Schweiz (4.997 KKP; Durchschnitt: 4.134 KKP). Im zeitlichen Verlauf seit 2010 sind in Deutschland neben der Schweiz ist der Teil der laufenden Gesundheitsausgaben am BIP am stärksten angestiegen. Im Unterschied dazu war die Entwicklung zwischen 2012 und 2019 in den Niederlanden und
dem Vereinigten Königreich negativ, im Durchschnitt der Vergleichsländer stagnierte der Gesundheitskostenanteil am BIP.

Arztkontakte: Deutschland weist deutlich mehr Arztkontakte (mit einem Arzt in einer Praxis oder Krankenhausambulanz) pro Kopf und Jahr auf als die Vergleichsländer. Während bei uns rund zehn Arztkontakte pro Kopf im Jahr 2020 stattfanden, hatten die Schweden nur rund zwei. Der Durchschnitt der Vergleichsländer liegt bei rund fünf Arztkontakten.

Krankenhausfälle: Im Vergleich mit den Nachbarländern hatte Deutschland im Jahr 2020 die meisten Krankenhausfälle (21.860) pro 100.000 Einwohner. Über die Jahre hatte nur Österreich eine höhere Fallzahl. Der Durchschnitt der Vergleichsländer betrug 14.668 Krankenhausfälle pro 100.000 Einwohner. Deutschland liegt damit fast 50 Prozent darüber.

Die Erklärung dafür: Deutschland stellt vergleichsweise, gemessen an der Bevölkerungszahl, für viel Geld ein sehr großes Angebot an personeller und technischer Ausstattung zur Verfügung. Dazu gehören pflegerisches und ärztliches Personal oder auch Krankenhausbetten. Durch Überkapazitäten und finanzielle Anreize werden damit auch überdurchschnittlich viele Leistungen – etwa Operationen oder stationäre Behandlungen – erbracht.

„Wir konnten zeigten – manches stimmt, vieles auch nicht!“

Welche Bedeutung hat diese Forschungsarbeit?

Noch vor Kurzem galt für viele: „Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.“ Doch welche Belege gab es dafür? Guter Zugang, hohe Qualität, überdurchschnittlicher Beitrag zur Bevölkerungsgesundheit, System erfüllt auch die nicht-medizinischen Erwartungen der Bevölkerung, ist besonders effizient? Wir konnten zeigten – manches stimmt, vieles auch nicht, alles im allem eine gute Basis, um das System Evidenz-basiert zu verbessern.

Welche Empfehlungen ergeben sich daraus an die Politik?

Realistischerweise gibt es nur zwei Lösungen: 1. Wir verbessern bei gleichbleibenden Ressourcen das Ergebnis, senken also unnötige Krankenhausfälle bei Indikationen wie Bluthochdruck oder Diabetes – und verringern die Krankenhaussterblichkeit etwa bei Herzinfarkt durch weniger Krankenhausstandorte, die aber alle über einen Linksherzkatheter verfügen. 2. Wir verringern die dem System zur Verfügung gestellten Ressourcen, insbesondere die finanziellen. Derzeit setzt die Politik – zu Recht – zunächst auf den ersten Weg.

Die Fragen stellte Gabriele Prchala.

„Die Indikatoren zeigen, dass das deutsche Gesundheitssystem viele Leistungen erbringt, die in sich gemischte Ergebnisse erzielen, aber insgesamt nicht das leisten, was für die hohen Kosten zu erwarten wäre“, resümiert Studienleiter Prof. Dr. Reinhard Busse. "Das lässt darauf schließen, dass bei uns weniger oft besser wäre – also weniger diagnostische Verfahren, weniger Behandlungen beziehungsweise ressourcenschonendere ambulante statt stationärer Erbringung.“

Die Untersuchung benennt auch die Herausforderungen für das deutsche Gesundheitssystem: Eine große Hürde stellt demnach die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung dar. Viele Akteurinnen und Akteure erbringen in unterschiedlichen Settings zu unterschiedlichen Kosten gleichartige Leistungen wie Mandeloperationen oder Graue-Star-Operationen. Reformansätze wie etwa, Akteure in beiden Sektoren tätig werden zu lassen, oder die Vereinheitlichung der Vergütung unabhängig von Art und Ort der Leistungserbringung, erweisen sich laut Untersuchung als sehr schwierig in der Umsetzung.

Was andere sagen:

Eine bevölkerungsrepräsentative Untersuchung von Allensbach ergab, dass jeder zweite Deutsche davon überzeugt ist, dass die Leistungsfähigkeit des
Gesundheitssystems erodiert. Zwischen 2012 und 2022 bewerteten durchgängig rund 80 Prozent die Gesundheitsversorgung und das Gesundheitssystem positiv. Auch jetzt hält zwar die große Mehrheit den Status quo für (noch) zufriedenstellend, aber mittlerweile glaubt jeder Zweite, dass das System verfällt. Das Vertrauen, bei Bedarf gut versorgt zu werden, ist seit 2022 steil zurückgegangen. Die Gründe dafür sind sind Erfahrungen mit Engpässen, längeren Wartezeiten auf einen Arzttermin und eine verschärfte Situation rund um Ärztemangel und Pflege.

Der Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung bilanzierte in seiner aktuellen Stellungnahme: In das deutsche Gesundheitssystem werde zwar sehr viel Geld gesteckt, es sei aber nicht gut auf die Zukunft vorbereitet und im internationalen Vergleich sehr teuer. Mit 12,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind die Gesundheitskosten in Deutschland nach den USA im OECD-Vergleich am höchsten. Und auch EU-weit steht Deutschland bei den Ausgaben mit deutlichem Abstand an der Spitze. Das liege vor allem daran, dass überdurchschnittlich viele Krankenhausbetten vorgehalten und stark überdurchschnittlich viele Leistungen wie etwa Arzt-Patienten-Kontakte und stationäre Behandlungen erbracht werden.

Bei der Lebenserwartung gehört Deutschland in Westeuropa zu den Schlusslichtern und verliert weiter den Anschluss. Das ergab eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung. Untersucht wurden Sterblichkeitstrends über mehrere Jahrzehnte hinweg. Der Rückstand Deutschlands auf die durchschnittliche
Lebenserwartung bei Geburt im restlichen Westeuropa betrug demnach im Jahr 2000 rund 0,7 Jahre. Dieser Abstand hat sich bis 2022 auf 1,7 Jahre vergrößert, heißt es dort. Der Beginn der 2000er-Jahre sei dabei einen Wendepunkt durch die Sterblichkeit an nichtübertragbaren Krankheiten. Deutschland wurde mit 14 weiteren europäischen Ländern verglichen.

Zur Methodik: Health System Performance Assessment (HSPA) ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützte Methode, die eine kontinuierliche und systematische Messung der Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen ermöglicht. Der jetzt vorliegende HSPA-Bericht ist das zweite von insgesamt drei Modulen. Ziel ist auch, die Stärken und Schwächen des deutschen Gesundheitswesens zu benennen. Gemessen wurden: 1. der Zugang zum Gesundheitssystem und zur Versorgung, 2. die Qualität der Versorgung, 3. der Beitrag zur Bevölkerungsgesundheit und die Responsivität, das heißt, wie auf die Erwartungen der Bevölkerung eingegangen wird, 5. die Effizienz, also das Verhältnis der Zielerreichung und der eingesetzten Ressourcen. Je nach Datenverfügbarkeit umfasste die Zeitspanne die Jahre 2000 bis 2023.

Das Projekt „Pilotierung einer systematischen Messung der Leistungsfähigkeit und Effizienz des deutschen Gesundheitssystems (Health System Performance Assessment – HSPA)“ wurde im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums an der TU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Reinhard Busse durchgeführt. Die knapp 500 Seiten umfassende Analyse richtet sich an ein Fachpublikum.

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