Gesetzliche Krankenversicherung

Tickt die noch richtig?

Da sind sich eigentlich alle einig: nicht mehr wirklich. Damit die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht länger „nachgeht“, braucht es dringend Reformen. Doch setzt die Politik dabei an den entscheidenden Stellen an? Hat sie die richtigen Ideen? Fünf Experten für das Gesundheitswesen haben ihre Einschätzung mit uns geteilt.

Nach fast einem Jahrzehnt mit Überschüssen bei der Gesetzlichen Krankenversicherung zeichnet sich bereits heute ab, dass spätestens ab Mitte der Zwanzigerjahre die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben sich wieder in Richtung Defizit öffnen wird“, heißt es in einer Studie des IGES-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019. Fünf Jahre später hat sich diese Prognose bewahrheitet: Das erste Halbjahr 2024 schlossen die 95 gesetzlichen Krankenkassen mit einem Defizit von 2,2 Milliarden Euro ab, teilte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) im September mit. Den Einnahmen der Kassen in Höhe von 159,1 Milliarden Euro standen Ausgaben in Höhe von 161,3 Milliarden Euro gegenüber. Als Kostentreiber identifizierte das BMG unter anderem die um 7,9 Prozent (3,6 Milliarden Euro) gestiegenen Ausgaben für Krankenhausbehandlungen und die um zehn Prozent (2,5 Milliarden Euro) höheren Aufwendungen für die Versorgung mit Arzneimitteln.

Gesundheitsökonom Dr. Richard Ochmann vom IGES-Institut fasst die Gesamtentwicklung so zusammen: „In den Jahren 2019 bis 2023 sind die beitragspflichtigen Einnahmen durchschnittlich um 3,8 Prozent pro Jahr gewachsen, die Leistungsausgaben hingegen um 4,8 Prozent. Der dadurch entstandene zusätzliche Finanzbedarf der GKV konnte von 2020 bis 2023 zu einem Teil durch ergänzende Steuerzuschüsse des Bundes und durch einen gesetzlich vorgesehenen Abbau der Finanzreserven der Krankenkassen in den Jahren 2021 und 2023 gedeckt werden.“ Die Differenz sei durch Beitragssteigerungen finanziert worden. Der gesetzlich festgelegte Zusatzbeitrag kletterte so von 0,9 Prozent im Jahr 2019 auf 1,6 Prozent im Jahr 2023 (Abb. 1).

Seit 2024 muss die GKV nun ohne zusätzliche Bundesmittel und Zuschüsse aus Krankenkassenreserven auskommen. Auch deshalb ist aus Sicht des IGES-Experten nicht davon auszugehen, dass sich die Finanzlage der GKV im zweiten Halbjahr entspannt. Für nächstes Jahr erwartet Ochmann weitere, deutliche Anstiege der Zusatzbeiträge, aktuell rechneten die Krankenkassen mit einem Plus von 0,5 bis 0,9 Prozentpunkten.

Das Problem: Keiner will es bezahlen

Vor Kurzem veröffentlichte das IGES-Institut im Auftrag der DAK-Gesundheit erneut eine Prognose zur GKV-Finanzlage. Aus der Berechnung geht hervor, dass der Gesamtbeitrag der Sozialversicherung bis zum Jahr 2035 um 7,5 Beitragspunkte auf 48,6 Prozent steigen könnte. Auf die 73 Millionen Versicherten in der GKV kämen demzufolge in den nächsten zehn Jahren mögliche Beitragssprünge von 16,3 auf 19,3 Prozent zu. Der Bundesrechnungshof sprach kürzlich von einem Anstieg des durchschnitt­lichen GKV-Beitragssatzes um mehr als fünf Prozentpunkte auf 21,8 Prozent bis zum Jahr 2060.

„Der Systemwechsel steht und fällt mit der Prävention“ 

Herr Hermes, wie würden Sie den Status quo der GKV beschreiben? 

Ralf Hermes: Grundsätzlich werden wir in unserem Gesundheitssystem gut versorgt. Aber: Die GKV befindet sich in einer massiven finanziellen Schieflage. Dieses Jahr rechnen wir mit einem Defizit von vier Milliarden Euro. Es läuft schon seit Langem schlecht im System, weil die Grundstrukturen der GKV seit Jahrzehnten unverändert geblieben sind.

Wo sehen Sie Reformbedarf?

Wir müssen wegkommen vom Reparaturbetrieb und die Strukturen grundlegend in Richtung Wettbewerb und Freiheitlichkeit verändern. Dazu gehört für mich, dass der Gesundheitsfonds massiv zurückgebaut werden sollte. Meiner Meinung nach hätte man ihn nie einführen dürfen, weil er politisch motiviert ist und die Politik entscheidet, wie das Geld verteilt wird – zum Nachteil der Selbstverwaltung.

Wie meinen Sie das?

Alles ist starr festgelegt. Der Gesundheitsfonds, genauer die Verteilung des Geldes über den Morbi-RSA, verhindert, dass wirklicher Wettbewerb entstehen kann. Wettbewerb findet zurzeit nur über den Zusatzbeitrag der Kassen statt, der wiederum vom Morbi-RSA abhängt. Da kann eine Kasse Glück oder Pech haben. Ich finde, das ist der falsche Ansatz. Das System sollte dadurch gelenkt werden, dass die Kassen sich unterscheiden und aufgrund innovativer Services und Produkte Erfolg haben.

Wie lässt sich die GKV denn dahingehend umbauen?

Für mich steht und fällt der Systemwechsel mit der Stärkung der Prävention. Menschen müssen gesund alt werden, damit wir nicht unendlich viel Geld fürs Gesundwerden ausgeben. Aktuell wird das nicht gefördert. Welche Kasse hat denn Lust, ihren Zusatzbeitrag zu erhöhen, um den Bereich Prävention massiv auszubauen? Die gesunden Kundinnen und Kunden würden dann zu einem billigeren Anbieter wechseln.

Was würde die Prävention stattdessen voranbringen?

Ich bin bekanntlich ein großer Verfechter von Wahltarifen und Selbstbehalten, die die Versicherten mit ihrer Krankenkasse vereinbaren. Das wäre ein Anreiz, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Und ich lege noch einen drauf: Wie wäre es, wenn wir – um die GKV in diese Richtung umzubauen – nur noch den Arbeitgeberbeitrag in den Gesundheitsfonds einzahlen und den der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den jeweiligen Krankenkassen zur Verfügung stellen?

Würde so ein System kranke Menschen nicht massiv benachteiligen?

Ich will nicht den Kahlschlag organisieren. Ich denke, man kann die Menschen mehr in die Verantwortung nehmen und gleichzeitig diejenigen versorgen, die krank sind. Wichtig ist, dass beides parallel passiert.

Sie haben in der Vergangenheit vorgeschlagen, die Zahnmedizin aus der GKV zu streichen. Dabei ist gerade sie stark beim Thema Prävention.

Ich gebe zu, dass ich mit diesem Vorschlag provozieren wollte. Gerade, weil die Zahnmedizin ein gutes Beispiel dafür ist, wie viel man für die GKV durch Prävention erreichen kann. Die Zahnmedizin eignet sich aus meiner Sicht auch, um den wettbewerblichen Ansatz zu veranschaulichen. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass die bewährten zahnmedizinischen Präventivleistungen in der GKV-Welt bleiben sollten. Aber es lohnt sich, die Frage durchzuspielen, welche Leistungen man gegebenenfalls herausnehmen kann und zu welchen Bedingungen.

Unsere Gesellschaft altert, die Zahl der Kranken wird steigen und mit ihnen die Versorgungskosten. Wie geht das mit Ihrem Vorschlag zusammen?

Im Alter sind die Morbiditäten in der Zahnmedizin und in der Humanmedizin nicht direkt vergleichbar. Zwar steigt mit zunehmendem Alter auch der Behandlungsbedarf an den Zähnen, dem kann aber auch in dieser Lebensphase durch professionelle Vorsorge entgegengewirkt werden. Unsere Wahltarife entfalten eine Steuerungswirkung in Richtung einer intensivierten zahnmedizinischen Prävention, indem sie diese in den Fokus rücken und auch gesundheitspolitisch dazu beitragen, Eigeninitiative zu fördern und letztlich ein bezahlbares Gesundheitswesen in Deutschland zu erhalten.

Uneinigkeit herrscht jedoch in der Frage, wer für die Kosten der notwendigen Reformen aufkommen soll. Die angestrebte Krankenhausreform ist dafür das beste Beispiel: Die Krankenkassen wehren sich strikt dagegen, sich an den Kosten für die Umstrukturierung der Kliniklandschaft zu beteiligen und pochen darauf, dass dies Aufgabe von Bund und Ländern sei. Ein weiterer, zurzeit heftig diskutierter Streitpunkt: die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen, allen voran die Kosten für die Gesundheitsversorgung im Bereich Bürgergeld. Die GKV gab für diesen Posten im Jahr 2022 über neun Milliarden Euro aus und weist darauf hin, dass die monatliche Pauschale, die der Bund für Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld überweist, nur ein Drittel dieser Kosten decke. „Hier spart der Bund zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung“, kritisierte im Mai Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes.

Die Krankenkassen – und die Pflegekassen, die mit der Sozialen Pflegeversicherung ebenfalls vor drastischen Finanzierungsproblemen stehen – haben daher im September an die Bundesregierung appelliert, ihr Reformvorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen und beide Sozialversicherungszweige durch mehr Steuermittel von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten.

Über die Frage, ob diese Gelder im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt werden sollen, besteht in der Bundesregierung jedoch kein Konsens. Auch bei der ersten Lesung des BMG-Etats im Bundestag im September zeigte sich, dass die Meinungen innerhalb der Bundesregierung auseinandergehen. Während sich niemand aus der FDP positiv dahingehend äußerte, kündigten sowohl Abgeordnete der Grünen als auch der SPD an, sich im Rahmen der Haushaltsverhandlung für eine Erhöhung der Steuermittel für den Gesundheitsfonds einzusetzen. Obwohl dies die Beitragszahlerinnen und -zahler kurzfristig entlasten würde, reicht dieser Schritt allein für eine nachhaltige Reformierung der GKV nicht aus.

An Ideen mangelt es nicht

Immerhin: Es gibt Vorschläge, wie die GKV in Schuss gebracht werden kann. Eine im Mai 2023 veröffentlichte „Inventur der Reformvorschläge zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ des gesundheitsökomischen Beratungsunternehmens „Vandage“ zählt 413 in den vergangenen 20 Jahren publizierte Vorschläge zur Stabilisierung der GKV. Nach Bereinigung von Mehrfachnennungen blieben 93 Ideen übrig. Zu einem Drittel nehmen sie einnahmenseitige und zu zwei Dritteln ausgabenseitige Stabilisierungsmaßnahmen in den Fokus.

Auf Einnahmenseite reichen die Ideen von umfassenden Systemreformen wie der Einführung einer Bürgerversicherung bis hin zu konkreten Einzelmaßnahmen wie der Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze oder der Berücksichtigung weiterer Einkommensarten bei der Beitragsbemessung. Ausgabenseitige Reformvorschläge zielen hingegen vor allem auf eine effizientere Steuerung von Gesundheitsleistungen ab, gefolgt von Leistungseinschränkungen und einer stärkeren Regulierung von Preisen und Rabatten.

„Wir brauchen bessere Daten und mehr Wettbewerb“

Herr Ullrich, wo besteht Ihrer Ansicht nach Reformbedarf in der GKV? 

Hannes Ullrich: Die Krankenversorgung in Deutschland gilt im internationalen Vergleich als ausgezeichnet, sie ist aber teuer und stößt an ihre Leistungsgrenzen. Zu den Gründen dafür gehört, dass das deutsche Gesundheitssystem an Ineffizienz und mangelndem Wettbewerb leidet. Wirtschaftsdenken wird im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung eher als Gefahr für die Versorgungsqualität abgelehnt. Ich meine damit aber schlicht das Setzen ökonomischer Anreize, von denen die Gemeinschaft der Versicherten profitiert.

Können Sie ein Beispiel geben?

Schauen wir uns die Krankenhausreform an. Der ihr zugrundeliegende Gedanke ist grundsätzlich sinnvoll: Kliniken, die miteinander konkurrieren, bieten bessere Versorgungsqualität. Gäbe es hingegen bloß ein Krankenhaus für eine bestimmte Behandlung, wäre es ausschließlich ethisch verpflichtet, exzellent zu arbeiten. Es ist also gut, in Richtung Spezialisierung größerer Krankenhäuser zu denken, aber eben auch Konkurrenz zu fördern, indem Patient*innen Wahlmöglichkeiten behalten. Ein weiterer Weg, die Versorgungsqualität durch den Wettbewerbsgedanken zu fördern, wäre beispielsweise, Arztpraxen, die über längere Zeit gute Behandlungsergebnisse erzielen, mit einer Sondervergütung zu prämieren.

Gesundheit ist aber nicht wie andere Dienstleistungen.

Da stimme ich absolut zu. Es geht auf Gesundheitssystemebene um das Gemeinwohl und nicht um Profitmaximierung. Aber mehr sinnvoll geleitete Wettbewerbsmechanismen im System täten der Effizienz und damit der Versorgungsqualität gut. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist diese Frage: Wie können wir erkennen, welche Anreize dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit ohne größere finanzielle Mehrbelastungen erhöht wird? Allgemein sehe ich hier aber für Deutschland ein weiteres Manko, an dem die GKV – und eigentlich noch mehr die PKV – krankt: Es fehlt schlicht an Daten und empirischer Evidenz, um diese wichtige Frage in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung zu beantworten.

Wie ließe sich das ändern?

Das geplante Forschungsdatengesetz könnte solche Analysen in Deutschland ermöglichen. Hierbei ist die Verknüpfbarkeit von Informationen aus verschiedenen Quellen, zum Beispiel aus dem Gesundheitsbereich, dem Arbeitsmarkt oder dem Bildungsbereich, auf der Ebene von Einzelpersonen wichtig. Denn viele, auch nicht rein medizinische Faktoren spielen für die optimale Ausgestaltung, Organisation und Regulierung des Gesundheitssystem eine Rolle. Diese Möglichkeit ist für die Forschung in anderen EU-Ländern bereits Standard, jedoch in Deutschland bisher nicht gegeben.

Welche Reformschritte sind also aus Ihrer Sicht nötig?

Effizienz heißt: Wie können wir mit einem gegebenen Budget die beste Leistung erreichen? Die Berufstätigen im Gesundheitswesen leisten bereits jetzt extrem viel, aber es gibt in vielen Bereichen Anreize, die explizit oder implizit dazu führen, dass Ressourcen nicht optimal eingesetzt werden. So gibt es Fälle, in welchen die Existenz der PKV neben der GKV zu deutlicher Überversorgung führt, zum Beispiel bei der Verwendung von teuren MRT-Bildern für Diagnosezwecke. Diese sind in der Orthopädie häufig nicht notwendig, wo günstigere Röntgenaufnahmen ausreichen, werden aber überflüssigerweise angefertigt, weil sie lukrativ sind. Die Folge: Die Maschine ist besetzt, Personal ist gebunden, andere warten mit einer höheren Dringlichkeit länger auf einen Termin. Oder Hautärzte bieten Verfahren für das Hautkrebs-Screening für Selbstzahler an, die noch Gegenstand der Forschung sind, wenn auch vielversprechend, während für das von der GKV bezahlte Screening keine Termine bleiben. Diese Anreize müssen berücksichtigt werden, um eine Balance zwischen dem Zugang zur Grundversorgung und der Förderung von Innovationen zu finden.

Und wie sieht es in der GKV aus?

Auch hier gibt es Fehlanreize, zum Beispiel, wenn Versicherte zu oft wegen Kleinigkeiten zu verschiedenen Ärztinnen und Ärzten oder in die Notaufnahme gehen. Hier zeigt sich, dass der Zugang zur Versorgung in Deutschland sehr ungesteuert ist. Das könnte man durch ein Pre-Screening, zum Beispiel in Form einer telefonischen Beratung, ändern. Sie könnte die Patientinnen und Patienten an die richtige Stelle lotsen. Die GKV geht mit Telemedizin-Angeboten auch bereits in diese Richtung. Zur Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems muss aber auch ein stärkerer Fokus auf Früherkennung und Prävention schwerwiegender Krankheiten beitragen. Denn das rettet Leben und spart Ressourcen. Insbesondere für die Früherkennung gibt es einige neue Erkenntnisse, die man durch eine bessere Gesundheitsdatennutzung in die Praxis umsetzen könnte. Hier besteht in Deutschland einige Luft nach oben.

Dr. Daniel Gensorowsky von Vandage hat maßgeblich an der Inventur mitgearbeitet. Angesichts der Ergebnisse zieht er dieses Fazit: „Viele Reformvorschläge werden schon seit 20 Jahren auf breiter Front diskutiert und ihre Sinnhaftigkeit scheint auch Konsens zu sein. Im Team stellten wir uns deshalb am Ende die Frage: Worauf wartet die Politik eigentlich noch?!“

Die Antwort liefert der Gesundheitsökonom gleich nach. Zurzeit stünden einer GKV-Reform neben der angespannten Haushaltslage auch die schwächelnde Konjunktur und internationale Konflikte im Wege. Dabei werde die Finanzierungskrise der GKV durch die aktuell vom BMG angestoßenen Initiativen mitunter sogar noch verschärft: „Bei der Förderung der Digitalisierung oder der Krankenhausreform handelt es sich zumindest in der kurzen Frist nicht, wie vom BMG bisweilen suggeriert, um Maßnahmen zur Finanzstabilisierung, sondern um langfristige Investitionen in effizientere Versorgungsstrukturen. Kurzfristig ist von diesen Maßnahmen eher eine zusätzliche Belastung der GKV-Finanzen zu erwarten.“

Aus Sicht des Vandage-Experten hätte man eine tiefgreifende GKV-Reform in wirtschaftlich guten Zeiten angehen müssen: „Jetzt widmen wir uns teuren Megaprojekten bei schlechten Rahmenbedingungen. Das ist ungünstig, aber ohne Frage notwendig. Sonst laufen wir weiter in eine Beitragssteigerungsspirale hinein, die ihresgleichen sucht.“

Aber kaum ein Vorschlag basiert auf Daten

Im Zuge der Inventur wies Vandage auf ein weiteres gravierendes Problem hin: Die erfassten Reformvorschläge seien äußerst selten „mit einer belast­baren Abschätzung ihrer erwartbaren fiskalischen und versorgungspolitischen Implikationen verbunden“. Das heißt: Kaum ein Vorschlag argumentiert auf Basis einer ausreichenden Datenlage. Ein entscheidendes Manko, wie Gensorowsky betont: „Eine nachhaltige Generalüberholung des Gesundheitswesens kann nur gelingen, wenn sie daten- und evidenzbasiert erfolgt.“ Vandage griff daher im Nachgang zur Inventur selbst einige Reformvorschläge heraus, um deren Einsparpotenzial zu überprüfen. Gensorowsky: „Damit wollten wir den Diskurs objektivieren.“

Unter anderem simulierte das Unternehmen verschiedene Szenarien rund um versicherungsfremde Leis­tungen. Das Ergebnis: Eine konsequente Auslagerung könnte den Beitragssatz im Zeitraum von 2024 bis 2028 um bis zu 4,6 Beitragssatzpunkte entlasten. Dies würde jedoch solche Ausgabenpositionen umfassen, deren Klassifizierung als „versicherungsfremd“ durchaus umstritten ist. „Dazu gehören etwa die weitreichenden Regelungen zur beitragsfreien Familienmitversicherung“, hält Gensorowsky fest. Angesichts der Unschärfen in der Definition versicherungsfremder Leistungen und der angespannten Haushaltslage erscheine es naheliegender, dass man sich auf einzelne, konsensfähige Bereiche wie etwa die Beiträge im Bereich Bürgergeld beschränke.

„Die Beitragsfinanzierung sollte durch eine kapitalgedeckte Vorsorge ergänzt werden!“

Dr. Pimpertz, warum befindet sich die GKV in einer finanziellen Schieflage?

Dr. Jochen Pimpertz: Seit über zwanzig Jahren steigen die GKV-Ausgaben überproportional stark, während sich die beitragspflichtigen Einkommen im Gleichschritt mit der Wirtschaftsleistung entwickelt haben. Die Gründe: Die Versichertengemeinschaft altert, der medizinische Fortschritt kostet, vor allem aber werden Versicherung und Versorgung marktfern gesteuert. Ein Preiswettbewerb, der anderenorts für Effizienz sorgt, findet weder zwischen den Kassen noch in der Versorgung statt.

Welche Reformschritte sind aus Ihrer Sicht nötig, um die GKV zukunftsfest zu finanzieren?

Notwendig ist dreierlei: finanzielle Eigenverantwortung der Versicherten, Preiswettbewerb zwischen den Kassen und nicht zuletzt auch zwischen den Versorgern. Denn die rechnen bislang zu einheitlichen Entgelten ab, selbst wenn die Betriebskosten der eigenen Praxis höher sind als die der Mitbewerber. Neue Beitragsquellen lösen dieses Steuerungsproblem nicht. Denn auch wenn sich die Beitragslast damit anders verteilen ließe, am Ende steigt sie doch.

Welche Rolle würden Sie der PKV bei einer Reformierung der Finanzierung des Gesundheitssystems zukommen lassen?

In der PKV sorgen Versicherte eigenverantwortlich für höhere Ausgaben im Alter vor. In der GKV müssen dagegen alle Mitglieder zusätzliche Beiträge schultern, sobald mehr ältere Menschen zu versorgen sind. Das belastet vor allem jüngere Mitglieder und stellt das Solidaritätsprinzip auf die Probe. Deshalb hilft die Bürgerversicherung nicht weiter. Stattdessen sollte die Beitragsfinanzierung begrenzt und durch eine kapitalgedeckte Vorsorge ergänzt werden.

Ein weiterer Reformvorschlag, den Vandage betrachtete, war die Absenkung der Umsatzsteuer auf Arznei- und Hilfsmit­tel auf sieben Prozent. Diese Maßnahme könnte der GKV eine durch­schnittliche jährliche Entlastung in Höhe von etwa 6,2 Milliarden Euro bringen und den Bei­tragssatz um 0,37 Pro­zentpunkte senken. Auch die Einführung ergänzender Kapitaldeckungselemente in der GKV wurde durchgerechnet. Der Aufbau eines „Demografiefonds“ hätte nach Ansicht von Vandage das Potenzial, „den Beitragssatz über die nächsten fast 40 Jahre auf einem Niveau zu stabilisie­ren, das bis zu 2,4 Beitragssatz­punkte unter dem für das Jahr 2060 prognostizierten Wert liegt.“ Aber: Der Aufbau eines Kapitalstocks sei zunächst mit erheblichen Zusatzkosten verbunden und die politische Umsetzbarkeit daher „eher unwahrscheinlich“.

Das Timing ist schlecht, aber es naht nicht der Untergang

Ökonom Gensorowsky betrachtet die aktuelle Lage der GKV mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite ist da der Ärger, dass zu lange nicht gehandelt wurde und die nun laufenden Reformen zu einem schlechten Zeitpunkt kommen. Auf der anderen Seite steht aber auch die Überzeugung, dass die GKV nicht kurz vor dem Untergang steht.

Dennoch ist Gensorowsky überzeugt, dass eine nachhaltige Reform des Gesundheitssystems nur gelingen kann, wenn sie gleichzeitig mit kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Stabilisierung der GKV-Finanzen flankiert wird. „Nächstes Jahr könnten die Zusatzbeiträge um 0,6 Prozent steigen – das geht richtig ins Geld für die Versicherten und ihre Arbeitgeber“, gibt er zu bedenken. „In dieser Situation zu sagen: Wir machen langfristig was, aber in der akuten Notsituation nichts, fördert nicht die Akzeptanz für Reformen und die GKV im Allgemeinen.“

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