Zweiter Weltkongress zum Thema Kreidezähne in Berlin

„Jeder, der Kinder behandelt, muss damit rechnen, dass er MIH-Fälle hat!“

Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) ist immer noch nicht vollständig verstanden. Dem Krankheitsbild wurde zum zweiten Mal ein gesamter Kongress gewidmet: Vom 13. bis zum 16. November trafen sich Spezialistinnen und Spezialisten aus über 40 Ländern in Berlin. 2022 hatte der erste Kongress der AMIT in München stattgefunden – jetzt wurden die Ergebnisse aufgearbeitet und neue Impulse für gemeinsame Forschungsvorhaben gesetzt.

Das Hauptprogramm, das die Kongress-Präsidenten Prof. Norbert Krämer und Prof. Roland Frankenberger vorbereitet hatten, unterteilte sich in diese Themenbereiche: aktueller Forschungsstand, ein Update zur MIH-Therapie, Zusammenhänge zwischen Behandlung und Lebensqualität der betroffenen Kinder sowie Relevanz neuer Trends in der Zahnmedizin für MIH. Die Expertinnen und Experten referierten auf der viertägigen Tagung über Grundlagenforschung, laufende Studien, Therapiekonzepte und gaben praktische Tipps für die akute, die mittel- und die langfristige Versorgung dieser Zähne. Posterpräsentationen ermöglichten zudem Einblicke in die Forschungsbereiche.

„Wir haben offene Fragen und wir brauchen Antworten, die wir während des Kongresses gemeinsam erarbeiten wollen", sagte Krämer in seiner Begrüßungsrede. MIH werde immer stärker als allgegenwärtiges Problem in der zahnärztlichen Praxis wahrgenommen. Er stellte eine in Bayern durchgeführte Erhebung vor, wonach über 17 Prozent der dort lebenden Kinder von MIH betroffen sind [Fresen et al., 2024]. „Etwa die Hälfte der Fälle sind schwer, weisen Schmelzeinbrüche und Hypersensitivität auf – und müssen zügig versorgt werden“, betonte Krämer.

Gibt es mehr Fälle oder ist das Bewusstsein gestiegen?

Die Opening-Session widmete sich ausführlich dem aktuellen Stand der MIH-Forschung. Prof. Nick A. Lygidakis aus Athen spannte einen Bogen von den Anfängen der Erforschung über den heutigen Stand zu künftigen Vorhaben. Er thematisierte die steigenden Zahlen von MIH und stellte die Frage: „Gibt es wirklich mehr Fälle oder sehen wir einfach mehr, weil das Bewusstsein für die Erkrankung gewachsen ist?“

Denn die Aufmerksamkeit für MIH habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Schließlich wurde das erste Paper über das Krankheitsbild MIH ihm zufolge erst im Jahr 2001 publiziert. Mittlerweile gelte eine multifaktorielle Ätiologie aus genetischen sowie epigenetischen Faktoren, systemischen und medizinischen Konditionen als gesichert, erklärte Lygidakis. Zu den perinatalen Konditionen gehörten Hypoxie, Kaiserschnitt und Frühgeburten. Statistisch signifikant seien auch hohes Fieber (auch Drei-Tage-Fieber), Masern, eine Mittelohrentzündung, Harnwegsinfektionen, Asthma, Bronchitis, Lungenentzündungen, Erkrankungen des Magens und der Nieren. Allerdings scheine nur das Vorhandensein einer Krankheit und nicht – wie bislang angenommen – die zur Behandlung verschriebenen Antibiotika oder Medikamente mit MIH assoziiert zu sein.

Hypersensibilitäten sind eine der Herausforderungen, vor denen Zahnärztinnen und Zahnärzte bei der Behandlung von MIH-Zähnen stehen. Die Behandlungsmethoden, die die Hypersensibilität am wirksamsten reduzieren, sind laut Lygidakis Versiegelungen mit Komposit oder Glasionomerzement bei leichten Fällen, während die Kronentherapie bei schweren Fällen von MIH effektiver ist. Die Versiegelung hypersensibler betroffener Molaren mit adhäsiven Materialien habe eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität sofort und während der zwölfwöchigen Nachbeobachtungszeit gezeigt.

Neue Ätiologie: Kaiserschnitt und Drei-Tage-Fieber

Für die Behandlung von MIH-Molaren gibt es laut Lygidakis immerhin moderate Evidenz – im Unterschied zu Inzisiven. Man müsse sich bei der Behandlung von MIH-Frontzähnen deshalb aktuell „an Expertenmeinungen orientieren“. Er gab den Zuhörenden noch eine Botschaft mit: Es gebe keine allgemeingültige Behandlung von MIH-Patienten, vielmehr gelte immer die Beurteilung des Einzelfalls, wobei der Schweregrad des Defekts für jeden einzelnen Zahn zu bestimmen sei. Der klinische Ansatz sollte aber unbedingt ganzheitlich erfolgen und zuerst auf Patientenebene evaluiert werden, dann auf oraler Ebene und schließlich Einzelzahn-spezifisch.

Einen Einblick in die Grundlagenforschung zur Ätiologie von MIH gab Prof. Christof Högg aus München. In seiner DFG-geförderten Studie untersuchte er Einflussfaktoren auf die Mineralisation bei Zebramuscheln. Diese haben einen den Zähnen ähnlichen Mineralanteil von 95 Prozent und sind deshalb ein geeignetes Biomineralisations-Modell. Es gilt als gesichert, dass bestimmte BPA-Konzentrationen Hypomineralisationsstörungen hervorrufen können. Högg und sein Team testeten an Zebramuscheln, ob Vitamin D3 als mögliche Behandlung einer BPA-assoziierten Hypomineralisationsstörung infrage kommt, da Vitamin D3 die Calcium-Homöostase reguliert. Die Versuche zeigten, dass eine bestimmte Vitamin-D3-Dosis die BPA-induzierte Hypomineralisation bei Zebramuscheln reduziert.

Prof. Sebastian Paris aus Berlin verdeutlichte in seinem Vortrag „Masking of MIH Opacities by Resin Infiltration“, dass die Methode der Kariesinfiltration auch bei entwicklungsbedingten Defekten die Ästhetik verbessern kann. Die Penetration sei allerdings schwer vorhersagbar – und somit auch die Ergebnisse. Darum gab Paris folgende Ratschläge:

  • Diagnose unbedingt korrekt stellen

  • Erwartungsmanagement bei Eltern und Patienten

  • falls notwendig zusätzlich Mikroabrasion, Bleaching und längere Infiltrationsdauer einsetzen

  • Rewetting kann zur Vorausschau angewendet, eine nachträgliche Kombination mit Komposit erwogen werden

Das Würzburger Konzept 2.0

Eine zentrale Rolle unter den Therapieansätzen für MIH spielte das im vergangenen Jahr aktualisierte Würzburger Konzept [Bekes et al., 2023]. Das international anerkannte Behandlungskonzept basiert auf dem vierstufigen Klassifikationsindex MIH-TNI (MIH-Treatment Need Index), der Schmelzeinbrüche und eine Hypersensibilität der Zähne als Hauptkriterien anlegt. Die grundsätzlichen Behandlungsansätze bestanden im ersten Konzept aus Prävention, Symptom-Kontrolle, Versiegelung, Restauration sowie Extraktion.

Prof. Katrin Bekes aus Wien stellte die Neuerungen vor. Das Konzept wurde um zusätzliche, nicht-invasive Strategien, temporäre Therapieoptionen sowie Behandlungsansätze für Schneidezähne erweitert. Der Behandlungsansatz „Versiegelung“ wurde durch „non-invasive Therapie“ ersetzt und um die Punkte Bleaching, Mikroabrasion, Infiltration sowie Etch-bleach-seal ergänzt. Die Temporären Therapien (short-term) wurden um die Anwendung von Silberdiaminfluorid (SDI) erweitert, bei long-term sind Zirkonkronen hinzugekommen. Bekes führte aus, dass die Wahl der Behandlung nicht nur von der Schwere der MIH abhänge, sondern auch vom Alter der Patienten, vom sozialen Hintergrund sowie von deren Erwartungen.

Inwieweit Künstliche Intelligenz (KI), Social Media, Telezahnmedizin und digitale Zahnmedizin relevant für die Behandlung von MIH sind, wurde ebenfalls thematisiert: Ist KI hilfreich für die MIH-Diagnostik, ist Telezahnmedizin eine Option in der MIH-Behandlung? Können wir über Social Media die breite Öffentlichkeit für die „Volkskrankheit“ MIH sensibilisieren?

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