Der Europäische Rechnungshof rügt

Einfach irreführend: Lebensmittel-Kennzeichnung in der EU

Ob Nutri-Score, Keyhole oder NutrInform Battery – die Lebensmittel-Kennzeichnung in der Europäischen Union ist so bunt und vielfältig wie unverständlich. Der Europäische Rechnungshof kritisiert in seinem jüngsten Prüfbericht, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher allzu leicht den Überblick verlieren. Dringende Empfehlung: mehr Klarheit schaffen.

Lebensmittel-Kennzeichnungen sollen helfen, beim Einkauf fundierte Entscheidungen treffen zu können. Tatsächlich würden die Verbraucherinnen und Verbraucher jedoch mit immer mehr Versprechen, Logos, Slogans, Gütesiegeln und Bewertungen konfrontiert, die nicht nur verwirrend, sondern oft sogar irreführend seien. Zu diesem Ergebnis kommt der Europäische Rechnungshof in seinem Sonderbericht 2024 („Lebensmittel-Kennzeichnung in der EU“). Die EU-Vorschriften stellen nach Einschätzung des Prüfungsteams zwar grundsätzlich sicher, dass die Etiketten grundlegende Informationen enthalten – das sei jedoch nicht mehr als „ein guter Ausgangspunkt“. Denn es gebe eine ganze Reihe besorgniserregender Lücken in den Rechtsvorschriften sowie Probleme bei Kontrollen und Sanktionen.

Es gibt Hunderte verschiedene Kennzeichnungssysteme

Etiketten enthalten Informationen über den Inhalt und die Eigenschaften von Lebensmitteln. Oft wollten Hersteller aber durch die Betonung angeblicher Vorteile wie „gesund“, „Bio“ oder „glutenfrei“ Produkte attraktiver machen, erklärte der Rechnungshof. Doch anstatt Klarheit zu schaffen, führten Lebensmitteletiketten oft zu Verwirrung, erläuterte Keit Pentus-Rosimannus, für die Prüfung zuständiges Mitglied des Europäischen Rechnungshofs gegenüber der Presse. „Es gibt Hunderte verschiedene Kennzeichnungssysteme, Logos und Werbeversprechen, die die Käufer entschlüsseln müssen“, sagte er. Die Unternehmen zeigten bei den Angaben auf den Verpackungen „eine große Kreativität“. Jedoch hielten die EU-Vorschriften mit dem sich ständig entwickelnden Markt nicht Schritt, sodass rund 450 Millionen Verbraucher – vorsätzlich oder unbeabsichtigt – irreführenden Botschaften ausgesetzt seien.

Die EU-Vorschriften machten es möglich, selbst auf Produkten mit einem hohen Fett-, Zucker- oder Salzgehalt nährwert- und gesundheitsbezogene Vorteile hervorzuheben, heißt es im Bericht weiter. Beispielsweise könnten zuckerhaltige Produkte wie Energieriegel als High-Protein-Produkte beworben werden. Auch würden Verbraucher zunehmend mit von keinerlei Vorschriften regulierten Angaben zu angeblich gesundheitsfördernden Eigenschaften pflanzlicher Stoffe konfrontiert. Dazu gehörten Aussagen der Art „setzt neue Energien frei“ oder „verbessert die körperliche Leistung“, auch wenn diese wissenschaftlich nicht belegt seien.

Verwirrung statt Orientierung

Einige Verbraucher könnten sich durch die Kennzeichnung gar benachteiligt fühlen, so der Rechnungshof in seinem Bericht. So müssten sich Lebensmittelallergiker mitunter mit übervorsichtigen Allergenwarnungen und vagen Aussagen wie „kann … enthalten“ auseinandersetzen – in der Praxis schränke dies ihre Auswahlmöglichkeiten ein. Vegetarier und Veganer seien besonders betroffen: Die Nutzung der Aufschrift „vegan“ oder „vegetarisch“ sei nicht reglementiert, da es keine EU-weite Definition für solche Erzeugnisse gibt.

Einige, in der EU eingesetzte Systeme zur Nährwertkennzeichnung werden vom Rechnungshof genau untersucht: das „Healthy Living“-Symbol in Kroatien, das Herzsymbol in Finnland, das „Keyhole“-Symbol in Dänemark, Litauen und Schweden, die „NutrInform Battery“ in Italien, der „Nutri-Score“ in Belgien, Frankreich Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden und das „ProtectiveFood“-Symbol in Slowenien (Abbildung 1). Keines der Systeme habe sich durchgesetzt, resümiert der Bericht. Er mahnt an, dass standardisierte Vorschriften den Verbrauchern jedoch dabei helfen könnten, gesündere Lebensmittel zu erkennen und möglicherweise ernährungsbedingten Krankheiten vorzubeugen. Stattdessen habe in den EU-Ländern das Nebeneinander verschiedener Systeme mit jeweils unterschiedlicher Aussage und Zielsetzung genau den gegenteiligen Effekt: die Verbraucher zu verwirren, anstatt ihnen als Orientierung zu dienen.

Zwar hatte die EU-Kommission angekündigt, auf EU-Ebene eine harmonisierte und verbindliche FOP(front-of-pack – auf der Packungsvorderseite)-Nährwertkennzeichnung einzuführen. In der Strategie „Vom Hof auf den Tisch" aus dem Jahr 2020 hatte die Kommission avisiert, bis Ende 2022 einen Legislativvorschlag dazu vorzulegen. Dies sei allerdings bisher nicht erfolgt, wie der Rechnungshof herausstellt. Und: Obwohl viele Verbraucher- und Erzeugerorganisationen eine Harmonisierung befürworten, gibt es unter den Interessenvertretern keinen Konsens darüber, welches bestehende Kennzeichnungssystem das richtige ist und ob es verpflichtend sein sollte.

Nutri-Score, Keyhole und NutrInform Battery

Seit 2020 wird der Nutri-Score in Deutschland verwendet. Er wird für 100 Gramm oder 100 Milliliter eines Lebensmittels berechnet und bewertet günstige sowie ungünstige Inhaltsstoffe. Der Nutri-Score wird als fünfstufige Farbskala von A bis E dargestellt. Das dunkelgrüne A zeigt die beste Bewertung an, das rote E die schlechteste. Hersteller entscheiden freiwillig, ob ihre Lebensmittel den Nutri-Score tragen sollen. Entscheidet sich ein Hersteller dafür, muss er das zunächst bei der französischen Gesundheitsbehörde „Santé publique France“ anmelden. Seit Ende 2023 gibt es Anpassungen, wie der Nutri-Score berechnet werden muss. Die registrierten Unternehmen haben bis Ende 2025 Zeit, die veränderte Berechnungsgrundlage umzusetzen. Die zuständigen Behörden Belgiens, Frankreichs, Deutschlands, Luxemburgs, der Niederlande, Spaniens und der Schweiz haben sich auf eine koordinierte Umsetzung des neuen Algorithmus geeinigt.

Das Keyhole-Label, grafisch ein weißes Schlüsselloch auf grünem Grund, wurde 1989 von der schwedischen Lebensmittelbehörde „Livsmedelsverket“ entwickelt und wird derzeit in mehreren nordeuropäischen Ländern (Norwegen, Dänemark, Schweden und Island) auf freiwilliger Basis genutzt. Das Keyhole stellt eine Positivkennzeichnung dar. Damit werden diejenigen Produkte markiert, die innerhalb einer bestimmten Produktgruppe anhand von verschiedenen ausgewählten Nährstoffen zusammenfassend als positiv bewertet wurden.

Die NutrInform-Battery Italiens wurde 2020 eingeführt. Angaben über die tägliche Einnahme sind einer der Hauptunterschiede zum Nutri-Score-System. Während sich der Nutri-Score auf das zum Verkauf stehende Einzelprodukt konzentriert und ein Etikett seine Eigenschaften zusammenfasst, betrachtet NutrInform das Produkt im Rahmen einer komplexen täglichen Ernährung. NutrInform zeigt den Kalorien-, Fett-, gesättigten Fett-, Zucker- und Natriumgehalt in einer einzelnen Lebensmittelportion an und vergleicht den Prozentsatz dieses Inhalts mit dem, was bei einer gesunden täglichen Nahrungsaufnahme erwartet wird.

Außerdem verweisen die Prüfenden in ihrem Bericht auf eine Flut freiwilliger Labels, Logos und Angaben, die die Verbraucher zum Kauf verleiten sollen und die Verwirrung noch verstärken. Dazu gehören sogenannte „Clean Labels“ über das Fehlen bestimmter Inhaltsstoffe (zum Beispiel „antibiotikafrei“) und nicht zertifizierte Eigenschaften wie „frisch“ oder „natürlich“, aber auch eine breite Palette umweltbezogener Aussagen, die laut Rechnungshof einem Greenwashing gleichkommen. Mit den aktuellen EU-Vorschriften könnten solche Praktiken nicht unterbunden werden, heißt es.

Auch die Debatte über die Nährwertkennzeichnung auf der Packungsvorderseite polarisiert, sagt der Rechnungshof weiter. Während einige Mitgliedstaaten der EU vom Nutri-Score abraten, wird er in anderen Ländern empfohlen. In Italien beispielsweise ist als einziges Kennzeichen die „NutrInform Battery“ zugelassen. Dort wird argumentiert, dass Lebensmittelunternehmen, die das Nutri-Score-Label ohne weitere Erläuterung der Bewertung verwendeten, die Verbrauchter in die Irre führen könnten.

Die Kommission scheint keine Dringlichkeit zu sehen

Seitens der EU-Kommission scheint die Aufklärung der Verbraucher laut Rechnungshofbericht keine Dringlichkeit zu besitzen. Zwischen 2021 und 2025 habe die EU nur rund 5,5 Millionen Euro für Sensibilisierungskampagnen zur Lebensmittelkennzeichnung zur Verfügung gestellt. Auch die EU-Mitgliedsstaaten hätten solche Kampagnen nur sporadisch durchgeführt. Zum Beispiel werde die auf Produkten vorgeschriebene Datumsangabe von den Verbrauchern oft nicht richtig verstanden, da der Unterschied zwischen dem Verfalls- und dem Mindesthaltbarkeitsdatum nicht klar ist.

Ein weiterer Schwachpunkt sind unzureichende Kontrollen und Sanktionen. Freiwillige Angaben wie nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben oder der Online-Verkauf von Lebensmitteln (der seit der Pandemie erheblich zugelegt hat) würden jedoch – wenn überhaupt – nur selten überprüft, und Websites außerhalb der EU entzögen sich fast jeglicher Kontrolle, so die Prüfenden. Zudem seien die bei Verstößen verhängten Bußgelder nach Ansicht der Prüfer häufig nicht abschreckend, wirksam oder verhältnismäßig. Hinzu komme die Komplexität der Kontrollsysteme in den Ländern. In manchen Ländern (etwa Belgien oder Italien) seien mehrere Behörden involviert – mit unklaren Zuständigkeiten und Lücken im Kontrollsystem. Was die Sanktionen betrifft, handelt es sich meist um Geldbußen. Der Bericht nennt einige Beispielländer: So lagen die Geldbußen und -strafen bei Verstößen gegen die Kennzeichnungsvorschriften für Lebensmittel in Litauen zwischen 16 und 600 Euro. In Belgien lag das durchschnittliche Bußgeld zwischen 2020 und 2023 im Vertriebssektor bei 651 Euro und in der verarbeitenden Industrie bei 1.197 Euro. In Italien lag der Durchschnittswert der von einer der zuständigen Behörden verhängten Bußgelder zwischen 2020 und 2022 bei 1.717 Euro.

„Die EU-Kommission muss endlich handeln!“

<image seo-title="" alt-text="" xlink:href="https://hcms-cms.medtrix.group/zm/hcms/v3.1/entity/picture/465064" xlink:role="censhare:///service/masterdata/asset_rel_typedef;key=actual."/>

Carolin Krieger, Referentin Ernährungspolitik vom Team Lebensmittel beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)

Wie schätzen Sie die Bilanz des EU-Rechnungshofs in Bezug auf den in Deutschland verwendeten Nutri-Score ein?

Der Europäische Rechnungshof kritisiert die EU-weit uneinheitliche Kennzeichnungspraxis von Nährwerten auf Lebensmittelverpackungen. Dies leiste der Täuschung von Verbraucher:innen Vorschub. Aus Sicht des vzbv ist eine europaweite einheitliche Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung seit Langem ausstehend. Die EU-Kommission muss endlich handeln und einen Vorschlag machen. Weitere Verzögerungen darf es nicht mehr geben.

Da der Nutri-Score in Deutschland freiwillig ist, können Unternehmen bislang selbst entscheiden, ob sie ihn verwenden. Dadurch ist er nicht auf allen Lebensmitteln zu finden. Das muss er aber, um seine volle Wirkung entfalten zu können. Hier muss nachgebessert werden. Die Bundesregierung muss sich daher auf EU-Ebene dafür einsetzen, dass der Nutri-Score verpflichtend kommt – damit alle Verbraucher:innen davon profitieren.

Welche Vor- und Nachteile hat der Nutri-Score gegenüber anderen in Europa gebräuchlichen Kennzeichnungssystemen?

Der Nutri-Score ist das beste Nährwertkennzeichen, was wir aktuell haben. Er ist wissenschaftlich erarbeitet worden und schnitt im Vergleich zu anderen Kennzeichnungsmodellen am besten ab. Er wird laufend wissenschaftlich und unabhängig überprüft, er ist farblich unterlegt und bietet Verbraucher:innen nachweislich in ihrer Einkaufssituation Orientierung. Verbraucher:innen hilft er innerhalb einer Produktkategorie, Lebensmittel miteinander zu vergleichen und die mit einer besseren Nährstoffzusammensetzung auszuwählen: Joghurt mit Joghurt oder Pizza mit Pizza. Für Unternehmen kann er ein Anreiz sein, die Rezepturen zu verändern und die Zusammensetzung ihrer Lebensmittel zu verbessern. Der Nutri-Score ist auch schon in mehreren Ländern in Europa etabliert. Auch eine Vielzahl an Unternehmen verwendet ihn.

Was raten Sie Verbraucherinnen und Verbrauchern, um sich bestmöglich zu informieren?

Da die Kennzeichnung mit dem Nutri-Score in Deutschland freiwillig ist und noch zu selten eingesetzt wird, ist der Vergleich von Produkten einer Kategorie daher nicht immer möglich. Wer gezielt auf einzelne Nährstoffe, wie zum Beispiel auf den Energie- oder Zuckergehalt achten möchte, muss auch weiterhin auf das Zutatenverzeichnis und die Nährwertangaben auf der Verpackungsrückseite schauen.

Das Gespräch führte Gabriele Prchala.

In der EU werden die Informationen über Lebensmittel durch eine Reihe allgemeiner Vorschriften geregelt. Dazu gehören die Verordnung über das allgemeine Lebensmittelrecht von 2002, die Verordnung über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben von 2006 und die Verordnung betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel von 2011 („Lebensmittel-Informationsverordnung“, LMIV). Außerdem gibt es eine Reihe spezifischer Vorschriften, in denen Anforderungen für bestimmte Lebensmittel (Wein, Eier, Honig, Olivenöl, oder Lebensmittel für Kleinkinder) festgelegt sind.

Dringend rät der Rechnungshof dazu, den EU-Rechtsrahmen für die Lebensmittelkennzeichnung zu aktualisieren und die bestehenden Lücken zu schließen. Sieben von elf geplanten Aktualisierungen des Rechtsrahmens, die in der Lebensmittelinformations-Verordnung (LMIV) und der Verordnung über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben festgelegt sind, seien noch nicht abgeschlossen, so die Prüfer. Außerdem sollten Maßnahmen ergriffen werden, die für ein besseres Verständnis der Lebensmittelkennzeichnung bei Verbrauchern sorgen, etwa durch Kampagnen oder Leitfäden. Auch die Berichterstattung über die Kennzeichnung sollte verbessert werden.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.