Arbeitsmarkttrend „Rage applying“

Bewerbungen im Minutentakt

mg
Praxis
Dank Jobnetzwerken wie Xing oder LinkedIn können verärgerte Mitarbeiter noch im Affekt zahllose Bewerbungen versenden. Das Phänomen wird „Rage applying“ genannt und krempelt in den USA den Arbeitsmarkt um.

Ende 2022 beobachteten Fachleute noch das sogenannte „Quiet Quitting“, ein Trend bei dem unzufriedene Arbeitnehmer nur noch das Nötigste tun und jegliche Mehrarbeit oder besonderen Aufwand verweigern (zm berichtete). Jetzt wird das Phänomenoffenbar von einem neuen Trend am Arbeitsmarkt abgelöst. Beim „Rage Applying“ bewerben sich Mitarbeiter bei neuen Unternehmen, sobald sie anhaltend verärgert über Arbeitsbedingungen, Kollegen oder Chefs in ihrem aktuellen Job sind. Im sozialen Netzwerk TikTok erzählen Nutzer seit Monaten Erfolgsgeschichten und verbreiten die Idee so weiter.

Ein paar schlechte Tage im Job genügen als Motivation

So berichtete TikTokerin @redweez Ende 2022 davon, wie sie innerhalb einer Stunde 15 Bewerbungen rausschickte und als Belohnung für diesen Minimalaufwand eine neue, befriedigendere Anstellung inklusive einem saftigem Aufschlag von 25.000 US-Dollar auf ihr letztes Jahresgehalt erzielte.

Neben der Chance auf ein besseres Einkommen suchen viele Bewerber auch einen Ausweg aus frustrierenden Arbeitsbedingungen: TikTokerin @chelseastokes_ berichtet von Überforderung und ein anderer schreibt, er habe sich beworben, nachdem er fünfmal einen schlechten Tag mit seinem Boss hatte.

Die Loyalität gegenüber Unternehmen sinkt konstant

US-Coachin Maureen Falvey sieht die Ursache für „Rage applying“ auch in der Pandemie. In dieser Zeit hätten Arbeitnehmer einen Eindruck von Freiheit und Flexibilität bekommen, erklärt sie dem amerikanischen TIME-Magazin. Noch dazu hätten viele Arbeitsuchende mittlerweile überhaupt keine Probleme mehr, Jobangebote zu bekommen.

Längst scheint das Phänomen auch in Deutschland angekommen. Arbeitgeber können aus all dem mehrere Lehren ziehen, schreibt die Frankfurter Personalmarketing Agentur HR monkeys. „Zum Beispiel, dass die Loyalität der jüngeren Generationen gegenüber Unternehmen konstant sinkt." Diese Beobachtung wird auch von Ergebnissen einer Studie der internationalen Unternehmensberatung Gallup unterstützt (zm berichtete). Ein spezieller Job bei einem bestimmten Unternehmen sei nicht mehr essenziell für ein erfülltes Leben, so die Experten weiter. Wenn es bei einem Arbeitgeber nicht mehr passt, erfolge relativ schmerzbefreit der Wechsel zu einem anderen. Das Angebot an Stellen sei schließlich groß genug und steige wegen des Fachkräftemangels weiter.

Wutbewerbungen richtig zu lesen ist eine Herausforderung

Bleiben die Bewerber ihrer Branche treu, hat das Phänomen einen weiteren Effekt für Arbeitgeber: Es gehen auf offene Stellen auch Wutbewerbungen ein. Entsprechend dem geringen Aufwand ist deren Qualität unterdurchschnittlich bis dürftig. Trotzdem raten die Personaler von HR monkey, diese Bewerbungen nicht automatisch zu ignorieren. Ihr Tipp: Über Formfehler großzügig hinwegzusehen und zwischen den Zeilen zu lesen. Vielleicht verbirgt sich hinter einer schludrigen Zusammenstellung aus Lebenslauf und Zeugnissen ein ungeschliffener Diamant.

Was Arbeitgeber beim Umgang mit Bewerbern und Mitarbeitern unter 30 Jahren bedenken sollten, ist: Anders als man denkt, geht es jungen Arbeitnehmern weniger um eine sinnhafte Tätigkeit denn ums Geld. Das zeigt die aktuelle Trendstudie „Jugend in Deutschland“, die von Simon Schnetzer und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zum fünften Mal im Halbjahresabstand jüngst vorgelegt wurde. Unter dem Eindruck der Krisenlage verschieben sich die Erwartungen an Beruf und Arbeit, schreiben die Wissenschaftler, so dass „Geld“ (60 Prozent) das Motivations-Ranking mit deutlichem Abstand vor „Spaß“ (43 Prozent) und dem „Erreichen von Zielen“ (33 Prozent) anführt.

Warum es nicht um Spaß, sondern vor allem ums Geld geht

„Genug Geld ist für sich kein guter Motivator, doch es steht in Zeiten der Krisen für Sicherheit und stellt für viele die Grundvoraussetzung für Leistungsmotivation dar“, erklärt Schnetzer den Befund. Deutlich weniger wichtig werden der repräsentativen Befragung von 1.024 Menschen zwischen 14 und 29 Jahren zufolge Aspekte wie „Sinnhaftigkeit der Tätigkeit“ (22 Prozent) und „Anerkennung“ (21 Prozent), beispielsweise in Form von positivem oder konstruktivem Feedback erachtet.

Die Studienautoren fassen diese Entwicklung so zusammen: „Was wir hier beobachten, ist kein neuer Materialismus, sondern eine Form von Existenzialismus. Junge Menschen sehen ihrer finanziellen Zukunft mit großer Sorge entgegen, und um sich für die Zukunft abzusichern, benötigen sie Geld.“

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