IW-Studie kommt für 2023 auf Rekordsumme

Lohnfortzahlung kostete Arbeitgeber über 76 Milliarden Euro

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Politik
Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben Arbeitgeber vergangenes Jahr 76,7 Milliarden Euro an Lohnfortzahlung ihre erkrankten Beschäftigten gezahlt. Damit haben sich die Kosten innerhalb von 14 Jahren verdoppelt.

Wie IW-Autor Dr. Jochen Pimpertz betont, ließen der hohe Beschäftigungsstand, Lohnerhöhungen und nicht zuletzt der unverändert hohe Krankenstand auch für das laufende Jahr keine Trendumkehr erwarten.

Lohnfortzahlung und Krankengeld

Legen kranke Mitarbeiter ein ärztliches Attest vor, wird das Gehalt für bis zu sechs Wochen vom Arbeitgeber weitergezahlt. Diese Verpflichtung gilt auch dann, wenn Unternehmen erst ab dem dritten Krankheitstag eine Bescheinigung einfordern. Der „gelbe Schein“ kann bei  Atemwegserkrankungen auch nach telefonischem Kontakt durch den Arzt ausgestellt werden. Die Sechs-Wochen-Frist bezieht sich auf ein und dieselbe Diagnose. Wer zum Beispiel aufgrund eines Rückenleidens krankgeschrieben ist, danach wieder seiner Arbeit nachgeht, aber nach kurzer Zeit deswegen erneut krankheitsbedingt ausfällt, für den summieren sich die attestierten Abwesenheiten im laufenden Kalenderjahr auf. Die Frist beginnt dagegen von Neuem, wenn man an einem anderen Leiden erkrankt. Dauert die Genesung länger als sechs Wochen, dann zahlen die gesetzlichen Krankenkassen im Anschluss ein Krankengeld in Höhe von 70 Prozent des Bruttogehalts, längstens bis zum Ende der 72. Woche.

2023 mussten die Arbeitgeber 64,9 Milliarden Euro an Bruttolohn für ihre erkrankten Mitarbeiter aufbringen, dazu kamen weitere 11,9 Milliarden Euro für ihren Anteil am Sozialversicherungsbeitrag. „Mit insgesamt 76,7 Milliarden Euro haben sich die Arbeitgeberaufwendungen für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall damit binnen 14 Jahren nominal mehr als verdoppelt“, resümiert Ökonom Pimpertz.

Diese Entwicklung hat Pimpertz zufolge viele Ursachen: Zunächst erhöhen sich die Aufwendungen schon deshalb, weil die Bruttogehälter mit den jährlichen Tariflohnerhöhungen wachsen. Unterm Strich sind die durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter im gleichen Zeitraum laut Statistischem Bundesamt jedoch nur um 47 Prozent gestiegen. Ein weiterer Faktor ist demnach der Beschäftigungsaufbau: Seit 2010 ist nämlich auch die Zahl derjenigen Personen gestiegen, die ein Anrecht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben. Bliebe die Krankenstandsquote konstant, dann würde allein die höhere Beschäftigtenzahl für steigende Krankenzahlen und zusätzliche Aufwendungen für die Entgeltfortzahlung sorgen. Pimpertz: „Der Beschäftigtenaufbau schlägt mit 24 Prozent zu Buche.“

Weshalb ist der Krankenstand überhaupt gestiegen?

Beide Faktoren erklären aber nur einen Teil der Entwicklung. Wie Pimpertz ausführt, ist auch der Krankenstand gestiegen: Verzeichnete der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) 2010 noch durchschnittlich 13,2 Krankentage für seine Mitglieder, waren es 2022 bereits 22,6 Tage. Die Daten einer monatlichen Stichprobe der teilnehmenden Betriebskrankenkassen legen für Pimpertz daher nahe, dass der Krankenstand auch 2023 kaum gesunken ist.

Warum aber sind die Deutschen heute länger und öfter krank? Die IW-Studie stellt die verschiedenen Erklärungen auf den Prüfstand.

  • So würden immer wieder Zusammenhänge zwischen konjunktureller Entwicklung und Krankenstand als mögliche Erklärung angeführt: Beispielsweise hieße es oft, aus Sorge vor einem Jobverlust würden Beschäftigte eher auf eine  Krankschreibung verzichten, wenn die Arbeitsmarktlage angespannt ist. „Der seit fast 20 Jahren beobachtbare Trend zu höheren Krankenständen nährt allerdings Zweifel an dieser Erklärung“, urteilt Pimpertz.

  • Auch  die demografische Entwicklung werde demnach zur Erklärung herangezogen: In alternden Belegschaften sei damit zu rechnen, dass Krankheitsbilder gehäuft auftreten, die im Alter öfter vorkommen und wie im Fall der Muskel- und Skeletterkrankungen längere Abwesenheiten zur Folge haben.

  • Zudem veränderten sich die Krankheitsursachen. Schließlich habe der Anteil der psychischen Erkrankungen an  allen Arbeitsunfähigkeitstagen kontinuierlich zugenommen. Gleichzeitig führten diese zu besonders langwierigen Ausfallzeiten von durchschnittlich 40,4 Kalendertagen.

  • Am Ende sei bis heute nicht abschließend geklärt, welchen Einfluss die Pandemie auf die Krankenstandentwicklung hat. Von medizinischer Seite werde argumentiert, dass die Bevölkerungsimmunität aufgrund der lang anhaltenden Maskenpflicht gesunken ist. Wie lange es dauert, bis sie wieder das ursprüngliche Niveau erreicht, sei aber unklar. „Die Daten der monatlichen BKK-Stichprobe zeigen zwar einen kontinuierlichen Abwärtstrend bei der durch Atemwegserkrankungen verursachten Krankenstandsquote“, stellt Pimpertz fest. Der Rückgang vollziehe sich aber sehr langsam und das Niveau liege immer noch deutlich über dem von 2019.

Zur Methodik

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) erfasst jedes Jahr das Sozialbudget und listet in dem Zusammenhang sämtliche Sozialleistungen auf. Darunter fallen auch die fortgezahlten Bruttolöhne, nicht aber die darauf fälligen Arbeitgeberanteile an den Sozialversicherungsbeiträgen. Diese zusätzlichen Aufwendungen würden überschätzt, wollte man den Arbeitgeberanteil mit dem hälftigen Beitragssatz hochrechnen. Denn während Gehaltsbestandteile oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen im Krankheitsfall weiter gezahlt werden, fallen darauf keine Sozialbeiträge an. Der beitragsfreie Anteil lässt sich jedoch mittels einer Heuristik näherungsweise schätzen, um sich den tatsächlichen Belastungen der Unternehmen anzunähern.

„Die komplexen Zusammenhänge eröffnen einen weiten Interpretationsspielraum“, bilanziert der Wissenschaftler. Das möge dazu beitragen, dass die telefonische Krankschreibung bei Atemwegserkrankungen umstritten ist, ebenso Berichte über digitale Angebote, die erkrankten Mitarbeitern eine elektronische AU versprechen, ohne dafür einen Arzt telefonisch kontaktieren zu müssen.

Laden einige Angebote förmlich zu Missbrauch ein?

„Derartige Angebote sind missbrauchsanfällig und bergen die Gefahr, nicht nur erkrankte Arbeitnehmer in Misskredit zu bringen, sondern auch Ärzte, die sich um eine seriöse Einschätzung des Gesundheitszustands ihrer Patienten bemühen“ schlussfolgert Pimpertz.

Gegen diese potenziellen Missbrauchsgefahren könnten einfache Vorkehrungen helfen: „Grundsätzlich ließe sich die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung auf den Hausarzt oder einen in Deutschland ansässigen Arzt beschränken. Treten Atemwegserkrankungen dagegen während eines Auslandsurlaubs auf, sollte Beschäftigten der persönliche Kontakt mit einem ortsansässigen Arzt zugemutet werden können. Beides würde sowohl dem berechtigten Interesse der Arbeitgeber Rechnung tragen als auch dem Interesse all jener Arbeitnehmer, die sich erst dann krankmelden, wenn es wirklich nicht mehr geht.“

Pimpertz, Jochen, 2024, Kosten der Entgeltfortzahlung – binnen 14 Jahren verdoppelt, IW-Kurzbericht, Nr. 70, Köln

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