Studie aus England

Neonatallinie als Indikator für psychischen Stress

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ZahnmedizinKinderzahnheilkunde
Die Breite der Neonatallinie von Milchzähnen kann Hinweise darauf geben, ob Kinder im Mutterleib, während und kurz nach der Geburt besonderem psychischem Stress ausgesetzt waren.

Schmelz und Dentin von Milchzähnen weisen Wachstumslinien auf, die Spuren der Entwicklung reflektieren können. "Die Neonatallinie (NNL) ist eine besondere Inkrementmarkierung im Zahnschmelz, vornehmlich der Milchzähne. Sie ist im Ablauf der Zahnentwicklung als eine akzentuierte, irreguläre Markierung der Lage der Schmelzbildungsfront bei der Geburt an den Zähnen, die zu diesem Zeitpunkt bereits Hartsubstanz bilden, aufzufassen." [Witzel, 2014]

Wie kann man Kinder mit psychischem Stress früh identifizieren?

Vor dem Hintergrund, dass Auswirkungen widriger Umstände in der Kindheit für bis zu ein Drittel aller psychischen Störungen verantwortlich sein können, versuchten Forschende der Universität Bristol einen Biomarker zu bestimmen, mit dem diese Kinder möglichst früh identifiziert werden können. Sie stellten die Hypothese auf, dass die Breite der Neonatallinie der Milchzähne als Stress-Indikator dienen könnte. Diese ließe sowohl Rückschlüsse auf den psychischen Stress der Mutter während der Schwangerschaft (während der sich die Zahnkeime ausbilden) als auch des Kindes in der ersten Zeit nach der Geburt zu.

Um diese Hypothese zu prüfen, analysierten die Forschenden insgesamt 70 Milchzähne von 70 Kindern aus dem Raum Bristol (England). Nach der Exfoliation spendeten die Eltern jeweils einen Milcheckzahn ihrer Kinder. Das Team maß dann die Breite der NNL der einzelnen Milchzähne unter einem Mikroskop. Die Mütter füllten während und kurz nach der Schwangerschaft Fragebögen zu Faktoren aus, von denen bekannt ist, dass sie sich auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Dazu gehören belastende Ereignisse in der vorgeburtlichen Zeit, psychische Probleme in der Vorgeschichte der Mutter, die Qualität der Umgebung sowie das Ausmaß der sozialen Unterstützung.

Eine dünne Neonatallinie ist besser als eine dickere

In den Studienergebnissen zeigten sich mehrere klare Muster: Kinder, deren Mütter lebenslang unter schweren Depressionen oder anderen psychischen Problemen litten, sowie Mütter, die in der 32. Schwangerschaftswoche unter Depressionen oder Angstzuständen litten, wiesen mit größerer Wahrscheinlichkeit dickere NNLs auf. Kinder von Müttern, die kurz nach der Schwangerschaft viel soziale Unterstützung erhielten, hatten dagegen eher dünnere NNLs. Diese Tendenzen blieben auch dann bestehen, wenn andere Faktoren berücksichtigt wurden, von denen bekannt ist, dass sie die Breite der NNL beeinflussen, darunter die Eisenversorgung während der Schwangerschaft, das Gestationsalter sowie eine mögliche mütterliche Fettleibigkeit.

Cortisol beeinträchtigt die Amelogenese

Die Autorinnen und Autoren mutmaßen, dass eine Mutter, die unter Angst oder Depressionen leidet, mehr Cortisol produziert. Daraus resultiert eine geringere Produktion von Wachstumsfaktoren (IGF). "Sowohl IGF-1 als auch IGF-2 sind an der Amelogenese beteiligt und stehen in positivem Zusammenhang mit der Schmelzproduktion. Eine erhöhte mütterliche Cortisolproduktion als Folge von psychosozialem Stress kann die IGF-Produktion bei den Nachkommen verringern" und so die Schmelzbildung des Kindes pränatal beeinträchtigen [Mountain et al., 2021]. Bemerkenswert ist, dass die größten NNL-Breiten im Bereich der Schmelz-Dentin-Grenze gemessen wurden. Die Forschenden vermuten zudem, dass durch die Lokalisation der breitesten Stelle der NNL, unter Berücksichtigung der Zahnentwicklung, Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des psychischen Stresses gezogen werden könnten.

Die Ergebnisse dieser Studie könnten eines Tages zur Entwicklung eines Instruments für die Identifizierung von Kindern führen, die in ihrer frühen Kindheit Widrigkeiten ausgesetzt waren, die ein Risikofaktor für psychische Probleme sind, so dass sie überwacht und gegebenenfalls präventiv behandelt werden können.

Mountain, Rebecca V., et al.: "Association of Maternal Stress and Social Support During Pregnancy With Growth Marks in Children’s Primary Tooth Enamel." JAMA Network Open 4.11 (2021): e2129129-e2129129.

Weitere Quellen: Witzel, C. "Inkrementelle Strukturen im Schmelz der Milchzähne." Rechtsmedizin 24.3 (2014): 165-171.

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