Debatte des Ethikrats

Was steckt hinter dieser „Einsamkeitsepidemie“?

pr
Politik
Etwa ein Viertel aller Deutschen fühlt sich sehr einsam. Wird Einsamkeit zu einer Volkskrankheit? Diese Frage stellte sich der Deutsche Ethikrat auf seiner Jahrestagung Mitte Juni in Berlin.

„Einsamkeit ist schon lange keine Randerscheinung mehr“, stellte Ethikratmitglied Mark Schwedaauf der Tagung fest. „Seit der Coronapandemie ist das Phänomen viel stärker in unser Bewusstsein gerückt.“ Einsamkeit sei eine existenzielle Erfahrung, der sich die wenigsten entziehen können. Oft höre man: „Ich habe das Gefühl, dass Menschen um mich, aber nicht mit mir sind“. Einsamkeit sei nicht Alleinsein, sondern „das schmerzvolle Erleben eines Mangels an wertvollen, bedeutsamen Beziehungen“.

Ob jemand einsam ist, sieht man ihm nicht immer an

Einsamkeit gehöre zur menschlichen Grundverfassung und sei eine Erfahrung, der Menschen sich nie ganz entziehen könnten. Da Beziehungen aber auch davon abhingen, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen sind, und sei Einsamkeit auch politisch beeinflussbar, sagte Schweda und nannte Partnerschafts- und Familienformen sowie Bildungschancen und Arbeitsweltstrukturen. Aber auch Faktoren wie öffentliche Verkehrsmöglichkeiten, Städtebau, Migration oder gesellschaftliche Teilhabe hätten einen Einfluss auf die Art und Qualität des sozialen Miteinanders.

„Een tegen eenzaamheid!“

Länder wie beispielsweise Großbritannien und die Niederlande tun bereits viel, gesellschaftliche Einsamkeit zu lindern und vorzubeugen. Im Jahr 2018 veröffentlichte die britische Regierung die weltweit erste Strategie gegen Einsamkeit und arbeitet seither an deren Umsetzung. Dabei stehen die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, die Förderung des nachhaltigen Wandels und die Verbesserung der Wissenslage im Fokus.

In den Niederlanden startete 2018 das Programm „Een tegen eenzaamheid“ („Vereint gegen Einsamkeit“). Die Kampagne hat das Ziel, die Bevölkerung zu sensibilisieren. Zudem werden Niederländer und Niederländerinnen in Kommunen dazu ermutigt, „Lokale Koalitionen“ zu gründen.

Wer einsam ist, wird auch schneller alt

Einsamkeit ist eine wachsende gesellschaftliche Herausforderung, wie eine neue Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ergab. Demnach fühlt sich heute jeder Dritte zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam, zuletzt mit deutlich steigender Tendenz. Vor allem in den letzten fünf Jahren hat das Gefühl der Einsamkeit in Deutschland stark zugenommen: Während von 2005 bis 2017 der Anteil der Einsamen im jungen und mittleren Erwachsenenalter recht stabil zwischen 14 und 17 Prozent lag, stieg er mit Beginn der Pandemie 2020 sprunghaft auf knapp 41 Prozent, ein Jahr später sogar auf fast 47 Prozent, heißt es weiter. Nach aktuellen Messungen aus dem Winter 2022/2023 sank das Gefühl der Einsamkeit wieder auf 36 Prozent ab, liegt aber immer noch deutlich über dem Niveau vor der Pandemie, bilanziert das BiB.

Soziale Einsamkeit kommt mit 39 Prozent häufiger vor als emotionale Einsamkeit mit 29 Prozent. Vor allem Frauen beklagen eher eine emotionale Einsamkeit, während Männer demnach häufiger sozial einsam sind. Außerdem sind Erwachsene unter 30 Jahren mit ihrem Sozialleben generell unzufriedener und fühlen sich häufiger einsam als Erwachsene  von 30 bis 53 Jahren. Auch Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit verspürten häufiger ein Gefühl von Einsamkeit.

Die Forschenden kommen zu dem Schluss, dass Einsamkeit eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sein kann und mit vielen Gesundheitsrisiken verbunden ist. So haben einsame Menschen zum Beispiel häufiger Schlafprobleme, ein höheres Risiko für koronare Herzerkrankungen oder Schlaganfälle und eine reduzierte Immunabwehr. Sie sind demzufolge suchtanfälliger und zeigen vorzeitig physiologische Alterungsprozesse.

Die Untersuchung basiert auf den repräsentativen demografischen und sozioökonomischen Datensätzen am BiB und analysiert für die Zeitspanne von 2005 bis 2022 die Entwicklung von Einsamkeit.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beschloss im letzten Dezember eine Strategie gegen Einsamkeit mit Maßnahmen, um Einsamkeit vorzubeugen und zu lindern. Einsamkeit wird darin als gesamtgesellschaftliche Herausforderung verstanden, wobei die Vorbeugung und Bekämpfung sektoren- und bereichsübergreifend über ein Netz aus kommunalen Akteurinnen und Akteuren erfolgen soll – zum Beispiel via Arztpraxen, Gemeinschaftseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, kommunale Verwaltungen, Mehrgenerationenhäuser oder Vereine.

Institutionen des Gesundheitswesens sollen für die Auswirkungen und Risiken von Einsamkeit sensibilisiert werden, heißt es. Dazu gehören zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, Aktive in der Selbsthilfe, ambulante Pflegedienste, Apothekerinnen und Apotheker, Fachkräfte in der Behindertenhilfe, Fachkräfte der Sozialen Arbeit, Gesetzliche Krankenkassen, Gesundheitsämter, Geriaterinnen und Geriater, Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte und weitere Fachärztinnen und -ärzte, Pflegefachkräfte, Pflegestützpunkte, soziale Dienste in Krankenhäusern und stationäre Einrichtungen der Pflege).

Die längste Kaffeetafel der Nachbarschaft

Im Rahmen der Strategie gegen Einsamkeit lief zudem vom 17. bis 23. Juni zum zweiten Mal die Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“. In diesem Jahr hieß die Aktion „Die längste Kaffeetafel der Nachbarschaft“. Es wurde dazu aufgerufen, dass Projekte in der Nachbarschaft auf eine Tasse Kaffee einladen und damit auf ihre Angebote aufmerksam machen. Zu den weiteren Ideen gehörten ein Plauderspaziergang, neue Telefonfreundschaften und ein „Coffee to stay“ mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus.

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