Wo gemobbt wird, stimmt was nicht
Gespräche werden unterbrochen, wenn M. dazu kommt, wichtige Infos laufen an ihr vorbei. Oft soll sie Tätigkeiten übernehmen, die ihr nicht gut liegen, in ihrem Spezialgebiet arbeitet sie immer weniger.
Erst strengt sich M. besonders an, vielleicht hat sie es nur mit normalen Eingewöhnungsschwierigkeiten zu tun. Doch die Situation wird nicht besser. Inzwischen graut es Frau M. vor jedem neuen Tag in der Praxis. Sie bekommt Schlafstörungen und beginnt, bei der Arbeit Fehler zu machen. Die Kollegen lästern jetzt offen über sie, werden beleidigend. M. weiß nicht, wie sie reagieren soll.
Ist das Mobbing?
Solche Situationen sind nicht selten in der Arbeitswelt. Aber ist das schon Mobbing? Das vom Englischen "to mob" ("anpöbeln", "schikanieren") abgeleitete Schlagwort steht für einen komplexen Sachverhalt, der durch das Bundesarbeitsgericht so definiert ist: "das systematische Anfeinden, Schikanieren oder Diskriminieren von Arbeitnehmern untereinander oder durch Vorgesetzte".
Von Mobbing spricht man, wenn sich die feindseligen Vorgänge gegen eine Person über einen längeren Zeitraum erstrecken (mindestens sechs Monate) und wenn sie häufig auftreten (mindestens einmal pro Woche). Laut Bundesarbeitsgericht sind Arbeitgeber verpflichtet, ihre Mitarbeiter vor Mobbing zu schützen. Aber was lässt sich konkret dagegen unternehmen? Und wie betroffen sind Medizin und Zahnmedizin von ausgrenzendem Verhalten?
Zahlen fehlen
Aktuelle valide Zahlen sind rar. Der bislang einzige offizielle Mobbing-Report wurde von der damaligen rot-grünen Bundesregierung in Auftrag gegeben, er stammt von 2002. Laut der Repräsentativstudie haben in Deutschland rund 11,3 Prozent aller Erwerbstätigen schon einmal Mobbing erlebt, ungefähr 2,7 Prozent davon über eine lange Zeit. Betroffen waren alle Berufsgruppen.
Ein höheres Risiko schikaniert zu werden, gab es generell für Frauen und für bestimmte Altersgruppen: unter 25 oder über 55 Jahre alt. Aus Statistiken von Mobbinganlaufstellen ergibt sich, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen häufiger nach Hilfe suchen als andere Berufsgruppen.
Großbritannien: 22 Prozent der Ärzte und Zahnärzte werden gemobbt
Schaut man ins nahe Ausland, stößt man auf eine Studie der British Medical Association (BMA) (siehe Kasten). Ihr zugrunde liegen umfangreiche Befragungen von Mitarbeitern des National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitsdienst in Großbritannien und Nordirland.
Mobbing beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS
Mobbing beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS
Studie der British Medical Association (2016)
Fast 30.000 Ärzte und Zahnärzte haben 2016 auf die Umfrage der NHS England zu ihren Arbeitsbedingungen geantwortet.
22 Prozent der Ärzte und Zahnärzte gaben an, in den vergangenen 12 Monaten Mobbing, Belästigung oder Missbrauch am Arbeitsplatz erlebt zu haben.
13 Prozent der Ärzte und Zahnärzte berichteten, von ihrem Vorgesetzten gemobbt oder belästigt worden zu sein. Bei 16 Prozent handelte es sich um einen anderen Kollegen.
33 Prozent der von Mobbing Betroffenen haben die Vorfälle ihrem Vorgesetzten gemeldet. Auszubildende berichten am seltensten (27 Prozent) von ihren Erlebnissen.
Das Risiko, gemobbt zu werden, ist für manche Gruppen höher: Menschen mit Behinderungen (32 Prozent im Vergleich zu 20 Prozent der nicht-behinderten Mitarbeiter), LGBT (27 bis 30 Prozent im Vergleich zu 22 Prozent des heterosexuellen Personals), nicht-weiße Mitarbeiter und solche mit anderem ethnischen Hintergrund (24 Prozent im Vergleich zu 22 Prozent des rein britischen Personals).
Frauen gaben mit 23 Prozent etwas häufiger an, Mobbing erlebt zu haben, als Männer (21 Prozent).
Quelle: Workplace bullying and harassment of doctors. A review of recent research. bma.org.uk
2016 gaben 22 Prozent der Ärzte und Zahnärzte an, dass sie in den letzten 12 Monaten Mobbing, Belästigung oder Missbrauch durch andere Mitarbeiter erfahren haben. Nur eine Minderheit von 33 Prozent unterrichtete offiziell ihren Arbeitgeber von den Vorfällen. Besonders angehende Ärzte und Zahnärzte schwiegen lieber über das Erlebte.
Wer gemobbt wird, macht Fehler
Die NHS-Studie zeigt, welche Gruppen besonders häufig Opfer von Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz wurden: Betroffen sind mehr behinderte Mitarbeiter (32 Prozent), LGBT-Mitarbeiter (27 bis 30 Prozent) und solche anderer Herkunft und nicht-weißer Hautfarbe (24 Prozent). Die Untersuchung weist auf die negativen Auswirkungen des Mobbing hin - nicht nur in Bezug auf die Zufriedenheit und die Gesundheit der Beschäftigten und auf das Betriebsklima, sondern auch auf die Pflege und Sicherheit der Patienten.
In NHS-Krankenhäusern mit hoher Mitarbeiterzufriedenheit gibt es nämlich niedrigere Mortalitätsraten bei Patienten. Der Zusammenhang scheint logisch: Ein Trainee, der von einem älteren Kollegen gemobbt wird, wird es eher vermeiden, bei medizinischen Fragen um Hilfe zu bitten. Wer sich demotiviert und psychisch angeschlagen zur Arbeit quält, leistet weniger und macht Fehler.
Mobbing-Hierarchie: Das Gesundheitswesen ist auf Platz eins
Vergleichbare groß angelegte Untersuchungen aus dem deutschen Gesundheitswesen gibt es nicht. Dachorganisationen wie der Marburger Bund oder die Deutsche Krankenhausgesellschaft führen keine eigenen Statistiken. Offizielle Zahlen wie die der rund 1.5 Millionen Menschen, die in Deutschland von Mobbing am Arbeitsplatz betroffen sind, ergeben sich aus Schätzungen anhand von Erkrankungen, die Krankenkassen gemeldet werden und die einen für Mobbing typischen Diagnoseschlüssel aufweisen.
Fragt man Mobbingberater nach der Häufigkeit des Phänomens in unterschiedlichen Berufszweigen, erhält man Antworten wie die von Margit Ricarda Rolf, der Gründerin der Mobbing-Zentrale Deutschland: "Es gibt eine Hierarchie, was Mobbing angeht. An erster Stelle steht das Gesundheitswesen. Dann kommt der Öffentliche Dienst. Und dann die Kirche."
Je hierarchischer, desto gefährdeter
Der schlechte Status des Gesundheitssektors hängt dabei vor allem mit den oft belastenden Arbeitsbedingungen an Krankenhäusern zusammen. Generell gilt: "Je hierarchischer, desto gefährdeter ist ein Betrieb", so Margit Rolf. Das lässt sich grundsätzlich auch auf Zahnarztpraxen und MVZs übertragen.
"Wo es flache Hierarchien gibt, wo man sich gemeinsam an einen Tisch setzt und miteinander diskutiert, da ist wenig Raum für Mobbing. Aber dieser Raum wächst, wo zum Beispiel ein Patriarch an der Spitze steht, vor dem alle Angst haben. Angst ist einer der Hauptfaktoren für Mobbing - Angst innerhalb eines Betriebes und Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes."
Die 1997 gegründete Mobbing-Zentrale in Hamburg ist eine von inzwischen zahlreichen Anlaufstellen, die Betroffenen Hilfe anbietet. Doch der Bedarf ist größer als das Beratungsangebot. "Wenn man davon ausgeht, dass es in Deutschland jährlich etwa 1,5 Millionen Betroffene gibt, dann fehlen uns 2.000 professionelle Mobbingberater."
Sich auf dem Weg zur Arbeit übergeben
"Der Körper reagiert auf Mobbing. Es sind teils existenzbedrohende Situationen, die Betroffene erleben", schildert Rolf ihre Erfahrungen als Beraterin. "Der Mensch, der vor ihnen sitzt, ist am Boden zerstört, macht sich Sorgen um seine Gesundheit und seine Familie. Er hat extreme Schlafstörungen, muss sich möglicherweise bereits auf dem Weg zur Arbeit dreimal übergeben."
Mobbing setzt den Körper unter Stress. Je länger die Belastungssituation anhält, desto stärker leidet das psychische und physische Gleichgewicht, manchmal bis zum Totalzusammenbruch. Die ersten Ratschläge an Hilfesuchende lauten: zum Hausarzt oder einem anderen Arzt des Vertrauens gehen, eine Rechtsschutzversicherung abschließen, wenn noch nicht vorhanden, und den Arbeitgeber informieren.
"Oft höre ich Sätze wie 'Mit dem brauche ich gar nicht erst zu reden'. Aber ich sage: Sie müssen ihrem Arbeitgeber eine Chance geben, ihnen zu helfen." Im Idealfall geht es danach an die gemeinsame Problemlösung: Welche Verhältnisse herrschen am Arbeitsplatz und warum? Was lässt sich ändern? Im schlimmsten Fall bleiben Arbeitsplatzwechsel und eine langwierige gerichtliche Auseinandersetzung.
Wo gemobbt wird, stimmt was nicht in der Praxis
Auch Arbeitgeber leiden unter Mobbing und seinen Folgen, unter Krankschreibungen, geringerer Produktivität oder einfach "dicker Luft". Entscheidend ist, bei akuten Konflikten schnell einzugreifen und zu schlichten - oder eine Mediation von außen zu Rate zu ziehen. Wer Mobbing zu ignorieren versucht, verschärft die Lage nur.
Spannungen zwischen Mitarbeitern können dabei ein Hinweis auf strukturelle Probleme im Betrieb sein. Denn wer mobbt, ist meist selbst unzufrieden, leidet unter Stress oder Konkurrenzdruck. Um Mobbing zu begegnen und vorzubeugen, sollte vor allem die Arbeitsorganisation unter die Lupe genommen werden.
Sind alle Verantwortlichkeiten eindeutig verteilt?
Sind Mitarbeiter mit ihren Aufgaben überfordert oder unterfordert?
Gibt es personelle Konkurrenzen?
Ist die Arbeitslast gerecht aufgeteilt?
Bekommen die Mitarbeiter angemessene finanzielle und persönliche Anerkennung für ihre Leistungen?
Herrscht ausreichend Transparenz bei allen betrieblichen Entscheidungen?
Nicht zuletzt: Hat der Arbeitgeber immer ein offenes Ohr für Sorgen und Konflikte?
Miteinander reden ist die beste Prävention
"Bei Mobbing reden die Menschen übereinander und versäumen es, miteinander zu reden", fasst Margit Rolf zusammen. Dabei kann eine gute Prävention ganz einfach sein. "Angenommen, es ist Freitagnachmittag in einer Zahnarztpraxis. Bevor alle ins Wochenende gehen, setzen sie sich noch eine halbe Stunde zusammen, um zu sehen, ob es Themen gibt, über die gesprochen werden sollte. Wenn Sie den Mitarbeitern hier das Gefühl geben, sie können sich jederzeit offen äußern, dann sind Sie schon fast auf der sicheren Seite."