Zukunftsweisende Initiativen für Risikogruppen im Fokus
Bereits zum 30. Mal wurde heute der Wrigley Prophylaxe Preis verliehen – einmal in der Kategorie „Wissenschaft“ und zweimal in der neugeschaffenen Kategorie „Praxis & Gesellschaft“. Den mit 4.500 Euro dotierten Preis im Bereich Wissenschaft erhielt die Arbeitsgruppe um Dr. Basel Kharbot von der Charité, Universitätsmedizin Berlin. Das Team hat ein telemedizinisches Befundungskonzept mit intraoralen 3D-Scans entwickelt, das die zahnmedizinische Versorgung in Senioreneinrichtungen optimieren kann. Der ebenfalls mit 4.500 Euro dotierte Hauptgewinn in Praxis & Gesellschaft ging an Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer und ihr Team von der Universität Münster. Ihre Initiative schärft das Bewusstsein von Zahnarztpraxen für den „Dental Neglect“, die zahnmedizinische Vernachlässigung von Kindern. Den zweiten Platz im Bereich Praxis & Gesellschaft mit 3.000 Euro belegte das Team um Zahnarzt Dr. Guido Elsäßer, Kernen. Mit unermüdlichem Einsatz hat die Arbeitsgruppe interne Mundpflegestandards für Menschen mit Behinderungen in einer großen Wohneinrichtung erarbeitet.
Der Wrigley Prophylaxe Preis ist eine Institution in der Zahnmedizin und zeichnet seit 1994 herausragende Projekte in Forschung und Praxis der Kariesprophylaxe aus. Mit 20 eingereichten Arbeiten gab es 2024 überdurchschnittlich viele Bewerbungen, die erstmals den beiden Bereichen „Wissenschaft“ und „Praxis & Gesellschaft“ zugeordnet wurden. Der von 2013 bis 2023 zusätzlich ausgeschriebene Sonderpreis „Zahnmedizinische Praxis und soziale Verantwortung“ wurde aufgrund seines Erfolgs in den Gesamtpreis integriert.
Stifterin ist die zahnmedizinische Initiative „Wrigley Oral Healthcare Program“, die sich für eine Verbesserung der Zahn- und Mundgesundheit in allen Bevölkerungsgruppen einsetzt. Traditionsgemäß wird der Preis auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) verliehen, die in diesem Jahr in Leipzig stattfand.
Preisträger Wissenschaft: Telemedizin für Seniorenheime
Viele Menschen behalten immer mehr eigene Zähne bis zum Lebensende. Dies ist erfreulich, bedeutet aber auch, dass sie bis ins hohe Alter zahnärztlich versorgt werden müssen. Problematisch wird das, wenn Seniorinnen und Senioren pflegebedürftig und damit weniger mobil werden. Fast 60 Prozent der Pflegebedürftigen in Deutschland werden nicht regelmäßig zahnärztlich untersucht und behandelt; entsprechend häufig weisen sie eine schlechte Mundgesundheit auf, die sich zum Beispiel in einer hohen Prävalenz von Karies und Parodontitis manifestiert.
Mithilfe telemedizinischer Verfahren könnte diese Risikogruppe wieder in die reguläre Versorgung integriert werden. Einen praktikablen Weg zeigt die mit 4.500 Euro prämierte Arbeit von Dr. Basel Kharbot und seinem Team: Maike Riegel, Prof. Dr. Sebastian Paris und Privatdozent Dr. Gerd Göstemeyer von der Abteilung für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin, Charité, Berlin sowie Prof. Dr. Falk Schwendicke, Poliklinik für Zahnerhaltung an der LMU München. Sie stellen ein telemedizinisches Befundungskonzept mit intraoralen 3D-Scans vor, die vor Ort im Seniorenheim erstellt und anschließend in den Zahnarztpraxen ausgewertet werden können. Die Scans kann auch nicht-zahnmedizinisches, geschultes Personal bei den Seniorinnen und Senioren in ihren Zimmern aufnehmen.
In ihrer klinischen Proof-of-Concept-Studie hat das Team überprüft, wie aussagekräftig die Scans bei einer telemedizinischen Befundung sind. Dafür wurden 43 pflegebedürftige Personen in Seniorenheimen intraoral untersucht. Bei allen wurden vier basisdiagnostische Parameter (fehlende Zähne, Restaurationen, Karies und Plaque) klinisch erfasst und Scans erstellt. Diese wurden vom klinischen Untersucher und zu einem späteren Zeitpunkt erneut von zwei unabhängigen Prüfern befundet und mit den Ergebnissen der klinischen Untersuchung verglichen. Die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Scans war bei der Erkennung fehlender Zähne perfekt und bei Restaurationen sehr hoch. Bei Plaque und Karies waren sie weniger genau als die klinische Untersuchung, aber immer noch akzeptabel, heißt es. Die Ergebnisse zeigen, dass sich der Einsatz von Intraoralscannern zum Screening des Zahnstatus bei pflegebedürftigen Menschen in Seniorenheimen eignen könnte. Die telemedizinische Auswertung der Scans ermögliche eine Früherkennung und entsprechende Behandlung von Mundkrankheiten schwer zugänglicher Patientengruppen – und trage so dazu bei, die Mundgesundheit dieser Risikogruppen nachhaltig zu verbessern.
1. Platz im Bereich Praxis & Gesellschaft: „Dental Neglect“
Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Eines ist die Kindesvernachlässigung, zu der auch das „Dental Neglect“ gehört. Darunter versteht man die zahnmedizinische Vernachlässigung von Kindern, bei der vermehrt Zahnschäden und Karies auftreten. In diesen Fällen sehen die verantwortlichen Bezugspersonen trotz zahnärztlicher Beratung nicht ein, dass eine Behandlung nötig ist, nehmen Termine in der Praxis nicht wahr und versäumen es, sich um die Mundhygiene des Kindes zu kümmern. Ein bekanntes Beispiel für „Dental Neglect“ ist die frühkindliche Karies, auch Nuckelflaschenkaries genannt.
Um diesen Kindern zu helfen, sollten Zahnärztinnen, Zahnärzte und Studierende der Zahnmedizin typische Anzeichen für „Dental Neglect“ erkennen können, das Thema angemessen ansprechen und ihre Handlungsmöglichkeiten kennen. Diese Kompetenzen fördert die prämierte Initiative „Zahnärztinnen und Zahnärzte sehen mehr als Zähne!“ von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Bettina Pfleiderer, Leiterin der Arbeitsgruppe Cognition & Gender der Medizinischen Fakultät der Universität Münster und ihr Team Dr. med. dent. Jana Lauren Bregulla, Greta Heuel und Madeleine Stöhr. Dafür erhielten sie den mit 4.500 Euro dotierten Hauptpreis im Bereich Praxis & Gesellschaft.
Herzstück des gemeinsamen Projektes aus der Medizin und Zahnmedizin sind eigens entwickelte innovative Trainingsmaterialien für die Zahnmedizin. Sie behandeln die Formen und Indikatoren häuslicher Gewalt, die medizinische Dokumentation sowie angemessene Kommunikationsstrategien. Texte, Bilder, Fallbeispiele, Videos, Aufgaben zum Weiterdenken und Fragespiele vermitteln die Inhalte. Die Materialien stehen Interessierten kostenlos zur Verfügung und wurden bereits in eine bestehende europäische Trainingsplattform zur häuslichen Gewalt integriert.
Zentrales Ziel des Projekts ist die Einbindung der Themen häusliche Gewalt und „Dental Neglect“ in die Lehre des Zahnmedizinstudiums. Zudem wollen die Initiatorinnen die Theorie künftig um Präsenz- und Online-Trainingseinheiten mit Simulationspatientinnen und -patienten ergänzen. Darüber hinaus sollen Materialien für praktizierende Zahnärztinnen und Zahnärzte entwickelt werden, unter anderem Flyer und Plakate, Ansteckbuttons für den Kittel, die Betroffenen signalisieren, dass sie das sensible Thema in dieser Praxis ansprechen können.
2. Platz im Bereich Praxis & Gesellschaft: Maßgeschneiderte Mundpflegestandards für Menschen mit Behinderung
Den zweiten Platz im Bereich Praxis & Gesellschaft mit einer Prämie von 3.000 Euro erhielt die Arbeitsgruppe um den Zahnarzt Dr. Guido Elsäßer, Katja Weidlich und Ilse Bauer in Kernen, Remstal. Die Praxis kooperiert seit vielen Jahren mit der Diakonie Stetten e. V., einer großen Einrichtung der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg, in der mehr als 1.500 Menschen aller Altersgruppen mit unterschiedlichsten Behinderungen leben. Viele brauchen Unterstützung bei der Mund- und Zahnpflege, die jedoch auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sein muss. Zum Beispiel haben Personen mit Zerebralparesen häufig Schluckstörungen mit Aspirationsgefahr und brauchen besondere Hilfsmittel beim Zähneputzen. Bei Störungen aus dem Autismus-Spektrum sind dagegen ritualisierte Abläufe wichtig. Für das Personal sind diese Besonderheiten oft eine Herausforderung, denn die pflegenden Berufsgruppen sind ebenso unterschiedlich wie die Bewohner.
Vor dem Hintergrund gründeten Fachkräfte der Einrichtung und die kooperierende Zahnarztpraxis eine Arbeitsgruppe und legten einrichtungsinterne Mundpflegestandards fest. Diese basieren auf dem 2021 veröffentlichten Expertenstandard in der Pflege zur Förderung der Mundgesundheit und berücksichtigen außerdem die Besonderheiten einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Flankierend erarbeitete die Gruppe eine neue Schulungsstrategie mit hohem Praxisanteil, Arbeits- und Umsetzungshilfen, etwa Aufklärungsbögen in Leichter Sprache oder eine Checkliste für den Umgang mit abwehrendem Verhalten beim täglichen Zähneputzen. Das Konzept kann auch auf andere Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung übertragen werden.
Die Jury: Abschied und Neuanfänge
Nach drei Jahrzehnten verabschiedet die Jury Prof. em. Dr. Joachim Klimek von der Universität Gießen. Der ausgewiesene Experte für Kariesprophylaxe und dentale Erosionen ist Jurymitglied der ersten Stunde und hat den Wrigley Prophylaxe Preis in drei Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt. Zusammen mit den anderen Jurymitgliedern sicherte er das hohe Niveau sowie den Praxisbezug der ausgezeichneten Studien und Initiativen. Wie präsent das Thema Kariesprävention damals wie heute ist, zeigen auch die aktuell prämierten Arbeiten.
Für den Hauptgewinn im Bereich Wissenschaft hat Prof. Dr. Nadine Schlüter aus Hannover, selbst mehrfache Preisträgerin und nun neues Jurymitglied, die Patenschaft übernommen. Ihr liegt das Thema am Herzen: „Wenn alte Menschen pflegebedürftig werden und nicht mehr in die Zahnarztpraxis kommen, drohen nicht nur Karies und Parodontitis, sondern es verschlechtern sich auch ihr Ernährungsstatus und die Gesamtgesundheit. Diese Risikogruppen wieder regulär zu versorgen, ist ein wichtiges Ziel.“
Bei der Juryvertretung im Bereich Öffentliches Gesundheitswesen gibt es im nächsten Jahr eine turnusmäßige Neuerung: Dr. Christian Rath, Geschäftsführer beim Verein für Zahnhygiene, Darmstadt, gibt den Staffelstab an Dr. Steffi Beckmann weiter. Sie ist Geschäftsführerin der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) in Bonn. Die weiteren Mitglieder der unabhängigen Jury sind Prof. Dr. Thomas Attin (Zürich), Prof. Dr. Rainer Haak (Leipzig), Prof. Dr. Hendrik Meyer-Lückel (Bern) und Prof. Dr. Annette Wiegand (Göttingen).