Schrappe, François-Kettner, Gruhl, Knieps, Pfaff, Glaeske

Gesundheitsexperten zerlegen COVID-19-Strategie der Regierung

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Die Aussagekraft der gemeldeten Fälle ist zweifelhaft, Social Distancing paradox und demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden: Renommierte Gesundheitsexperten kritisieren die Strategie der Bundesregierung im Umgang mit COVID-19.

Sechs renommierte Gesundheitsexperten haben in einem Thesenpapier die Reaktion der Bundesregierung auf den Virusausbruch in Deutschland fundamental kritisiert.

Im Kern bezweifeln sie die

Aussagekraft der erhobenen epidemiologischen Daten

zu den gemeldeten Infektionen und der Letalität. Diese Daten reichten erstens nicht aus, um das Virus und seine Muster zu klassifizieren. Zweitens hätte die Zahl der gemeldeten Fälle nur einen geringen Aussagewert, weil die meisten Erkrankungen asymptomatisch verlaufen (80 Prozent) und nicht erfasst werden. Von einer auf dieser - falschen - Grundlage definierten Verdopplungszahl der Infizierten politische Entscheidungen abzuleiten, sei daher nicht sinnvoll, zumal sich diese Zahl immer auf die Vergangenheit beziehe.

Auch

Aussagen zur Sterblichkeit

würden aufgrund der fehlenden genauen Infektionszahlen überschätzt. Wichtig sei, dass COVID-19 sich zunehmend als

eine nosokomialen Infektion

in Krankenhäusern und Heimen darstelle und sich in begrenzten Clustern ausbreite.

Social Distancing

lehnen die Autoren als zu ungesichert ab, insbesondere auch, weil nach der Öffnung immer die Gefahr einer zweiten Welle bestehe und Kollateralschäden entstünden. Besser sei es, die Risikogruppen zu schützen: Betagte, Multimorbide, Ärzte und Gesundheitspersonal sowie lokale Cluster.

Außerdem dürfe die Ausnahmelage nicht dazu führen, dass

demokratische Grundsätze

ausgehebelt werden.

Zusammenfassung

Zusammenfassung

Im Einzelnen nimmt dieses Thesenpapier zu den drei Themenbereichen Epidemiologie, Prävention und gesellschaftspolitische Relevanz Stellung:

 1. Epidemiologie

So habe die Zahl der gemeldeten Infektionen nur eine geringe Aussagekraft, weil kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter - vor allem asymptomatischer - Infizierter anzunehmen sei.

Denn die Zahl der täglich beim RKI gemeldeten Fälle werde in hohem Maße durch die Testverfügbarkeit und Anwendungshäufigkeit beeinflusst. Bei einer solchen anlassbezogenen Teststrategie sei es aber nicht sinnvoll, von einer "Verdopplungszeit" zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen. Da die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit zu einer überzeichneten Wahrnehmung führe, sollte sie um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Genesenen korrigiert werden.

Zwei Drittel der Infizierten werden zum jeweiligen Stichtag nicht erfasst

Überdies beinhalte die Zahl der gemeldeten Fälle an einem Tag X keine Aussage über die Situation an diesem Tag, sondern beziehe sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit. Das heißt für die Autoren: Ungefähr zwei Drittel der Infizierten werden zu diesem Zeitpunkt gar nicht erfasst. Schlussendlich müssten die Überlegungen zu populationsbezogenen Stichproben (Nationale Kohorte) intensiviert werden. Letztlich überschätzen die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) aus Sicht der Autoren das Problem und können nicht valide interpretiert werden.

Die nosokomiale Infektion in Heimen und Kliniken ist der  wichtigste Verbreitungsweg

Sie halten fest, dass es sich bei SARS-CoV-2 um eine nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen handelt, die auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen wird: "Dieser Ausbreitungstyp stellt mittlerweile den dominierenden Verbreitungsmodus dar. Der Aufenthalt in Risikogebieten und der individuelle Kontakt wird an Bedeutung abnehmen", bilanzieren die Wissenschaftler.

Covid-19 sei durch ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit nicht vorhersehbarem Muster des Auftretens gekennzeichnet. SARS-CoV-2/Covid-19 stelle somit keine homogene, eine ganze Bevölkerung einheitlichbetreffende Epidemie dar, sondern breite sich inhomogen über lokal begrenzte Cluster wie Heinsberg, Würzburg, Wolfsburg aus, die in Lokalisierung und Ausdehnung nicht vorhersehbar sind.

2. Präventionsstrategien

Für die Fortentwicklung der Präventionsstrategien sprechen die Forscher folgende Empfehlungen aus:

  • Ergänzung der allgemeinen Präventionsmaßnahmen (Eindämmung, containment) durch spezifische Präventionskonzepte,

  • Entwicklung eines einfachen Risiko-Scores auf der Basis der obigen vier Risikokonstellationen, das auf Einzelpersonen und Personengruppen anwendbar ist,

  • Trennung der Betreuungs- und Behandlungsprozesse der Infizierten bzw. Nicht-Infizierten im institutionellen Rahmen (Entwicklung von Vorgaben), und

  • zentrale Etablierung einer Hochrisiko-Task Force, die auf spontan entstehende Herde (Cluster) reagieren kann.

3. Gesellschaftliche Aspekte

Den Autoren zufolge treffen allein die bevölkerungsbezogenen Maßnahmen Personen mit niedrigem Einkommen und Selbstständige viel stärker als jene mit größerem finanziellen Spielraum. Sie rügen auch, dass die Alternativlosigkeit des exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt werde und das Parlament seine Kontrolle einbüßt.

Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden!

Verstärkt würde dies durch ökonomische Risiken, die mit dem Fortbestehen und den eventuellen Verschärfungen in der Einschränkung von Freizügigkeit und Berufsausübung verbunden sind. Des Weiteren bestehe die Gefahr, dass unter Verweis auf den unaufschiebbaren Handlungsbedarf autoritäre Elemente des Staatsverständnisses aus Ländern mit totalitären Gesellschaftssystemen in das deutsche Staats- und Rechtssystem übernommen werden - wie etwa die individuelle Handy-Ortung.

Fazit

Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten wie gemeldete Infektionen und Letalität reichen demzufolge nicht aus, um Ausbreitung und Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen.

Die Zahl der gemeldeten Infektionen hat nur eine geringe Aussagekraft, weil kein populationsbezogener Ansatz gewählt wurde, die Messung auf einen zurückliegenden Zeitpunkt verweist und eine hohe Rate nicht getesteter (vor allem asymptomatischer) Infizierter anzunehmen ist.

Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden. Es fehlt eine Abgrenzung der Grundgesamtheit, die Berücksichtigung der zurechenbaren Letalität (Attributable Mortality) und ein Periodenvergleich über mehrere Jahre in gleichen Patientenkollektiven mit Pneumonie.

SARS-CoV-2 kann als nosokomiale Infektion in Krankenhäusern und Pflege- bzw. Betreuungseinrichtungen auf andere Patienten und Mitarbeiter übertragen werden.

SARS-CoV-2/Covid-19 stellt ein lokales Herdgeschehen (Cluster) mit nicht vorhersehbarem Muster des Auftretens dar.

Die allgemeinen Präventionsmaßnahmenwie Social Distancing sind schlecht abgesichert, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox (je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“). Zudem sind sie hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient. Analog zu anderen Epidemien müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter,  Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen.

Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konflikts mit den normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze dürfen nicht gegen Gesundheit und Bürgerrechte ausgespielt werden. Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.

Die Autoren

  • Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrats Gesundheit

  • Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin

  • Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Hamburg/Bremen

  • Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin

  • Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehemaliger Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds

  • Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit

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