Ektodermale Dysplasie: erste erfolgreiche Therapieversuche
Der Fall: Joshua, der fünfjährige Sohn von Corinna und Tobias T. aus der Nähe von Bremen, leidet unter der Erbkrankheit Ektodermale Dysplasie. Joshua hat nur drei spitze Zähne, kaum Haare, eine blasse, trockene Haut und kann nicht schwitzen. Ist die Umgebung zu warm, legt er sich reflexartig auf den kalten Fußboden - eine Überwärmung seines Körpers könnte für ihn tödlich sein.
Dann wurde Corinna T. mit Zwillingen schwanger - mit der Gewissheit, dass auch die Geschwisterkinder krank sein würden. Corinna und Tobias T. entschlossen sich daher zum weltweit ersten Heilversuch im Mutterleib. „Wir hatten nichts zu verlieren. Irgendwer muss ja Vorreiter sein“, sagt Corinna T. Die Behandlung wurde daraufhin im Februar 2016 von Prof. Dr. Holm Schneider, Oberarzt der Kinderklinik und Sprecher des Zentrums für Ektodermale Dysplasien Erlangen, und Oberarzt PD Dr. Florian Faschingbauer von der Frauenklinik des Uni-Klinikums Erlangen, durchgeführt.
Proteinersatztherapie im Mutterleib
Zum Hintergrund: Ektodysplasin A1 (EDA1) ist ein Protein, das normalerweise im Körper vorkommt. Während der Entwicklung des Kindes im Mutterleib sorgt es dafür, dass sich Haare, Zähne und Hautanhangsgebilde wie die Schweißdrüsen bilden. Föten mit X-chromosomaler Hypohidrotischer Ektodermaler Dysplasie (XLHED) fehlt das EDA1-Protein.
Im Rahmen des Heilversuchs am Universitätsklinikum Erlangen haben Schneider und Faschingbauer ein Ersatzprotein in die Gebärmutter von Corinna T. injiziert: zuerst in die Fruchthöhlen der beiden Zwillinge, jeweils in der 26. Schwangerschaftswoche, ein zweites Mal 39 Tage später. Einen dritten Jungen behandelten die Erlanger Ärzte nur einmal: im Alter von 26 Schwangerschaftswochen.
Ektodermale Dysplasien
Ektodermale Dysplasien
Quelle: Universitätsklinikum Erlangen
Unter Ultraschallkontrolle spritzte Faschingbauer jeweils 15 ml des Medikaments in die flüssigkeitsgefüllte Fruchtblase, ohne den Fötus zu berühren. Die ungeborenen Kinder schluckten das Protein mit dem Fruchtwasser und nahmen es über ihren Darm in den eigenen Blutkreislauf auf.
„Das Medikament würde über den Blutkreislauf der Mutter nicht in den Körper des Kindes gelangen, weil es die Plazentaschranke nicht überwindet – also den Gewebefilter, der den mütterlichen vom kindlichen Blutkreislauf trennt“, erklärt Schneider. „Die einzige Möglichkeit, dass EDA1 den Blutkreislauf des ungeborenen Kindes erreicht, war deshalb die direkte Gabe ins Fruchtwasser.“
Behandlung muss im Mutterleib erfolgen
EDA1 allein genügt jedoch nicht. Das eigentlich "Geniale an der neuen Behandlungsmethode" sei das "Vehikel, mit dem das Ersatzprotein in den Blutkreislauf transportiert wird", heißt es in einer Mitteilung des Universitätsklinikums Erlangen: die sogenannte "Fc-Komponente menschlicher Antikörper".
Für diese existiert im kindlichen Darm ein spezieller Aufnahmemechanismus, der bei Säuglingen dafür sorgt, dass Antikörper aus der Muttermilch ins Blut des Kindes gelangen. Diesen Mechanismus nutzten Schneider und seine Kollegen, um das therapeutische Protein "im Huckepackverfahren" mit einzuschleusen.
Bei allen drei im Mutterleib behandelten Kindern bildeten sich dank der Proteininjektion Schweißdrüsen und zusätzliche Zahnanlagen. Bei dem einzelnen Jungen hat sich die Schweißproduktion nach der Geburt ausreichend entwickelt.
Die Zwillinge von Corinna T., Linus und Maarten, schwitzen wie gesunde Kinder – das haben Schneiders regelmäßige Messungen im Abstand von acht bis zwölf Wochen sowie mikroskopische Aufnahmen der Schweißdrüsen belegt. "Am anschaulichsten war wohl das Foto einer nassgeschwitzten Babyschale, das Corinna T. mir einige Monate nach der Geburt der Zwillinge zuschickte. So etwas kannte sie von ihrem Sohn Joshua ja nicht“, sagt Holm Schneider.
Dank des Heilversuchs haben die drei behandelten Kinder auch deutlich mehr Zähne als ihre unbehandelten älteren Geschwister mit Ektodermaler Dysplasie. „Wir haben das EDA1-Protein jahrelang erforscht und das Medikament in klinischen Studien getestet“, erklärt Schneider.
„Die letzte Studie, in der das Protein erkrankten Neugeborenen verabreicht wurde, hat uns gezeigt, dass wir nach der Geburt die Entwicklung von Schweißdrüsen nicht mehr beeinflussen können. Unsere Schlussfolgerung war: Die Behandlung muss im Mutterleib erfolgen – sonst ist es zu spät.“ Die Forscher hoffen, dass Proteinersatztherapien im Mutterleib künftig vielleicht auch bei anderen fetalen Entwicklungsstörungen, zum Beispiel bei Spaltbildungen im Gesicht, angewandt werden können.
Multizentrische klinische Studie soll folgen
Die am Uni-Klinikum Erlangen durchgeführte Behandlung fand noch nicht im Rahmen einer klinischen Studie statt, sondern als medizinischer Heilversuch an drei Kindern. Lange wurde dabei über den Behandlungszeitraum diskutiert. Die Schweißdrüsen bilden sich beim Fötus zwischen der 20. und der 30. Schwangerschaftswoche.
Nach ausführlichen Abwägungen und Beratungen mit dem klinischen Ethikkomitee des Universitätsklinikums Erlangen wurde die 26. Schwangerschaftswoche als frühestmöglicher Zeitpunkt für eine Injektion festgesetzt. „Wir wollten das Protein früh genug in der Schwangerschaft injizieren, um noch Einfluss auf die Entwicklung von Schweißdrüsen und Zähnen nehmen zu können“, erläutert Prof. Schneider. „Andererseits wollten wir den Zeitpunkt der Injektion so weit wie möglich nach hinten schieben, um keinesfalls eine extreme Frühgeburt auszulösen, die das Leben der Kinder gefährden könnte.“
Linus und Maarten wurden in der 33. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt entbunden, der dritte vorgeburtlich behandelte Junge kam in der 39. Woche zur Welt. Nach Aussage der Forscher haben alle drei Kinder deutlich von der Therapie im Mutterleib profitiert.
„Wir wollen jetzt gemeinsam mit anderen Zentren in Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine klinische Studie an einer größeren Gruppe von ungeborenen Kindern anschließen, um die positiven Effekte der intrauterinen Therapie zu belegen“, kündigt Schneider an. Dabei kooperieren die Erlanger Experten mit der gemeinnützigen Schweizer Stiftung EspeRare, die Medikamente für die Behandlung seltener Erkrankungen entwickelt.